Deutschland öffnet Spielplätze: Auch vor Corona galt der Spielplatz manchen Eltern als gefährlicher Ort
Nach dem Corona-Lockdown: Eine kleine Kulturgeschichte des Spielplatzes – von der paramilitärischen Ertüchtigung zum Freiraum für Stadtkinder.
In den kommenden Tagen werden in ganz Berlin Schlösser geöffnet, Zäune abgebaut, Flatterbänder eingerollt und Verbotsschilder eingesammelt: Die Spielplätze der Stadt öffnen wieder. Mehr als einen Monat lang waren sie geschlossen und wurden von Kindern und Eltern schmerzlich vermisst.
Von allen Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus war die Schließung der Spielplätze wohl die in symbolischer Hinsicht gravierendste.
Eine Gesellschaft entschloss sich zum Aussperren ihrer Kinder und in ganz Deutschland gingen kommunale Angestellte rasch und kreativ zu Werke, um die politische Vorgabe umzusetzen. Ordnungsämter und Polizei setzen das Verbot über Wochen durch, in einer Gemeinde im Berliner Umland schickte der Bürgermeister sogar die Erzieherinnen der geschlossenen Kitas auf Streife, um die Spielplätze zu überwachen.
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Die Aufnahmen der mit „Polizeiabsperrung“-Band versehenen Spielplatztore werden vielleicht eines Tages zu einer der Bild-Ikonen der Corona-Pandemie in Deutschland gehören.
Der Spielplatz – ein gefährlicher Ort? Einst waren Spielplätze gerade in Metropolen eingeführt worden, um Kindern einen sicheren Freiraum fernab der verkehrsreichen und gefährlichen Straßen zu geben. Und Berlin spielt in der gut zwei Jahrhunderte währenden Entwicklung der Freianlagen eine besondere Rolle.
Wippen, Schaukeln und Karussells - aber nur für Erwachsene
Der 1790 von Friedrich Wilhelm II. neben dem Joachimsthalschen Gymnasium – dort gelegen, wo heute das Berliner Stadtschloss wiedererstanden ist – eingerichtete Spielplatz gilt als einer der ersten seiner Art. Er sollte die Schüler des königlichen Internats von der Straße holen und zum Sport animieren: „Damit er zur Leibesbewegung der studierenden Jugend angewendet werde.“
Öffentliche Spielgeräte für die Kinder gab es damals in Berlin noch nicht. Wippen, Schaukeln und Karussells standen zu dieser Zeit allein in den Barockgärten des Adels, etwa in Ludwigsburg oder im sächsischen Pillnitz, allerdings zur Belustigung der Erwachsenen.
[Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam.]
Kinder galten seinerzeit noch als „kleine Erwachsene“, die Kindheit als eigener Lebensabschnitt wurde erst im folgenden Jahrhundert entdeckt. Etwa gleichzeitig mit der Einrichtung von Kinderspielzimmern in bürgerlichen Haushalten fanden Spielgeräte für Kinder auch ihren Weg in die Privatgärten des Bürgertums.
Der Pädagoge Fröbel erfand Kindergärten und Kinderspielplätze
Der Pädagoge Friedrich Fröbel (1782-1852), Namensgeber und Begründer der Kindergartenbewegung, richtete 1839 im thüringischen Bad Blankenburg den ersten Kindergarten ein und konzipierte ihn bewusst mit einer eigenen, halb öffentlichen Freifläche für das selbsttätige Spiel.
Bei Fröbel hatte jedes Kind ein eigenes Pflanzenbeet zum Bearbeiten, es gab einen Laufspielplatz und einen Bauspielplatz, wie man aus der 2009 veröffentlichten Doktorarbeit des Bauingenieurs Daniel Rimbach lernt, einer der wenigen Studien zu diesem kaum erforschten Thema.
Die Entwicklung der Städte zu Metropolen und die wachsende Industrialisierung verengten die Freiräume für Kinder, die zuvor fast überall Platz zum Spielen gefunden hatten, immer mehr. Spielende Kinder wurden oft von der Polizei von den Straßen vertrieben. 1864 hielt der Leipziger Reformpädagoge Ernst Innozenz Hauschild (1808-1866) den Missstand fest: „Unsere Kinder sind mit ihren Spielen auf das unerquickliche und gefahrdrohende Straßenpflaster, auf kleine feuchte Höfe, auf winzige Gärtchen angewiesen.“
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In den folgenden Jahrzehnten entstanden die ersten öffentlichen Spielplätze in den städtischen Parkanlagen, in größerem Umfang aber wurden sie erst mit der Jahrhundertwende in vielen deutschen Städten angelegt. In der Zeit von 1890 bis 1900 verdoppelte sich die Zahl der Kinderspielplätze auf über 2000.
Sie sollten auch der körperlichen Entwicklung und Ertüchtigung der Kinder dienen, galt das Spiel an der frischen Luft doch als gesundheitsfördernd. In der militarisierten deutschen Gesellschaft des Kaiserreiches ging es nicht zuletzt darum die „Wehrtauglichkeit der künftigen Rekruten zu verbessern“, schreibt Daniel Rimbach.
Rutschen kamen aus den USA nach Deutschland
In der Weimarer Republik rückten Spielplätze endgültig in den Fokus der Stadtplanung, schon in den Jahren zuvor waren die Freiflächen von den Außenbezirken in die Zentren der Städte ausgeweitet worden. Die Spielplätze, zuvor oft nur mit Kies und etwas Sand versehen, wurden in der Folge immer besser mit Spiel- und Turngeräten ausgestattet.
Mit der „Volksparkbewegung“ entstanden multifunktionale Spielwiesen für Kinder. In den 1920er Jahren hielten Skulpturen und Plastiken von Tierfiguren Einzug auf den Spielplätzen, die nicht nur künstlerischen Wert hatten, sondern auch zum Spielen genutzt werden konnten. Die Flusspferdhofsiedlung in Hohenschönhausen verdankt ihrer Namen zwei dieser Skulpturen.
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Rutschen fehlten zu dieser Zeit noch auf den meisten deutschen Spielplätzen. Sie fanden ihren Weg nach Europa erst nach dem Zweiten Weltkrieg aus den USA kommend, wo sie schon lange zur Standardausstattung gehörten. Zuvor spielten die Kinder über Jahre in den gefährlichen städtischen Ruinen.
In der DDR etablierte sich der Kletterpilz
Auch Klettergerüste aus Metallrohren sind eine Neuerung aus der Zeit nach 1945, sie waren in der Nachkriegszeit in Ost wie West weitverbreitet. Während in der DDR der typische „Kletterpilz“ über Jahrzehnte das Bild der Spielplätze dominierte, wurde in der Bundesrepublik zunehmend Holz zum Baustoff der Spielgeräte. Sie wichen mehr und mehr vom Standard ab, mieden jeden rechten Winkel und wuchsen sich oft zu fantasievollen Abenteuerspielplätzen aus – zunehmend auch mit den bis heute beliebten Seilbahnen.
Die Konstante aller dieser Entwicklungen blieb aber der Sand (oder der Sandkasten) als Grundelement aller Spielplätze. Das Sediment hatte der dänische Lehrer Hans Dragehjelm schon 1909 als „größten Pädagogen“ bezeichnet.
[Lesen Sie auch "Eine Geschichte der Kindheit" von der Bremer Kulturhistorikerin Martina Winkler.]
Dass Spielplätze jetzt als Risikozonen für Corona-Infektionen galten, scheint der logische Endpunkt einer „Safety First“-Entwicklung seit den 1980er Jahren, die von DIN-Normen für Spielgeräte bis zu TÜV-Zertifikaten für Spielplätze reichte. In jüngerer Zeit dann überließen Väter und Mütter vom Spielplatzrand oder der Bank aus ihre Kinder immer weniger dem freien Spiel.
Auch vor Corona galt der Spielplatz Eltern als gefährlicher Ort
Viele Eltern sind heutzutage immer nah am Kind, darauf bedacht, Konflikten mit Altersgenossen vorzubeugen, den eigenen Nachwuchs vor potenziellen Stürzen aller Art, selbst auf den weichen Sand oder die grüne Wiese, zu bewahren. Väter und Mütter, für die diese Art Risiko zur Persönlichkeitsbildung gehört, werden gerne auch zur Vorsicht ermahnt.
Dabei sind Spielplätze gerade auf die Begegnung von Kindern und auf das gemeinsame Aushandeln von Spielregeln ausgelegt. Eine Wippe kann man eben nicht allein, sondern meist nur zu zweit nutzen. Doch das Dogma von der Vollkaskogesellschaft hat längst auch von den einst als Freiräumen gedachten Spielplätzen Besitz ergriffen.
Jetzt haben Eltern und Kinder die Chance, die Spielplätze nach der mehrwöchigen Zwangspause wieder als einen sozialen Ort der Begegnung und der Bewegung zurückzuerobern. Es bleibt zu hoffen, dass es nie wieder zu einer flächendeckenden Schließung dieses schützenswerten Freiraums in der Großstadt kommt. Denn er ist zugleich so lebendig und der Zukunft zugewandt wie kaum ein anderer Ort.
René Schlott