Stadtentwicklung: Braucht Berlin einen Plan?
Bald wird Hauptstadt wieder vier Millionen Einwohner haben. Wie vor 100 Jahren. Damals bereitete sich die Stadt mit visionären Plänen auf ihr Wachstum vor. Und heute?
Vom 18. Stock seines Turms hat Christoph Gröner einen prächtigen Weitblick, aber was er sieht, gefällt ihm nicht. Tief unten liegt ein wildes Muster aus zerhackten Häuserzeilen und isolierten Betonriegeln, aus Straßen, die irgendwo anfangen und irgendwo enden, ohne dass eine zentrale Ausrichtung erkennbar wäre. Unfertig alles, so fern das Auge reicht. Und Gröner kann wirklich weit sehen von seinem nüchtern möblierten Büro aus, Edelstahl und Glas, das sich 75 Meter hoch im ehemaligen Sitz der Berliner Postbank in Kreuzberg befindet.
Um Weitsicht geht es. Jedenfalls ihm, der mit einem Kaffee ans Fenster tritt, herabblickt und sagt: „Berlin zu einer schönen Stadt zu machen, das bekommen wir nicht mehr hin.“
Man lernt das irgendwann: Berlin ist eben, wie es ist, oder? Von da an ist man Berliner.
Aber das will der Immobilienunternehmer, 49 Jahre alt, gebürtiger Badener und als Kopf der CG-Gruppe seit 2010 in der Stadt aktiv, nicht hinnehmen. Man müsste, sagt er, einen „großen Wurf“ hinlegen. „So, wie Berlin ist, wird es nicht bleiben. Nicht in sozialer, energetischer und wirtschaftlicher Hinsicht.“ Er fragt sich, wie man das Zwangsläufige daran nicht erkennen kann.
Gröner trägt einen Nadelstreifenanzug, schwarz, ein weißes Hemd mit seinen Initialen, aber keine Krawatte. Er ist ein groß gewachsener, sportlicher Mann, Vater von vier Kindern, mit einem Lächeln, das sich seiner Strahlkraft bewusst ist. Seine Ungeduld drückt sich in einem nur schwer zu unterbrechenden Monolog und Gesten voller Spannung aus. Handkantenschläge lässt er über die Stadt streichen, imaginäre Achsen ins Häusermeer werfend. Es sind liebevolle Gesten für einen Gestalter.
„Es wird immer ein bisschen was gemacht“, klagt er, „vor allem Partikularinteressen werden verfolgt. In dieser Stadt ist es möglich, dass Entscheidungen von allgemeinem Interesse durch Minderheiten blockiert werden und alle es sogar okay finden. Wie kann man stolz darauf sein, Fortschritt durch Umständlichkeit aufzuhalten?“
Er ist in Fahrt gekommen. Hat nicht lange gedauert, um vom Blick über die Stadt zu ihren Niederungen zu gelangen, der Stadtpolitik. Auch wenn er naheliegende Gründe hat für seine Ungeduld, denn mit dem Hochhaus, in dem er an diesem Tag eine Reihe von Terminen wahrnimmt und der majestätische Ausblick dabei sein bestes Argument sein dürfte, geht es nicht recht voran. 711 Wohnungen sollen in dem dunkel-spiegelnden Klotz am Halleschen Ufer entstehen. Ein vertikales Stadtquartier ist geplant, dessen Fassade durch hängende Gärten begrünt und Inneres mittels Erdwärmesonden im Boden temperiert wird. Doch die Genehmigungen für den „XBerg Tower“ – so der Projektname – ziehen sich hin.
Das hat zu tun mit einem anderen von Gröners Bauvorhaben, so mutmaßt er. Ausgerechnet in der Rigaer Straße und damit in unmittelbarer Nachbarschaft zur linken Autonomen-Szene in Friedrichshain treibt er einen Neubau voran. Auch dort entstehen Wohnungen, wo es vorher keine gab. Der Widerstand ist massiv. Es gibt ein Video, das Gröner bei dem vergeblichen Versuch zeigt, eine Diskussion mit Aktivisten und Anwohnern zu führen, die sein Engagement für den Anfang ihres Untergangs halten. Er wird niedergebrüllt und seine Beteuerungen, dass er mit seinem "sozialen Projekt" zur Erhaltung des Alten beitrage, gehen in gellenden Pfiffen unter. Er ruft der Menge zu:„Ihr seid verblendet ... Glaubt ihr wirklich, wir bauen nicht, weil ihr ,Haut ab‘ schreit? Wie blöd seid ihr denn? ... Das hat doch nichts mit meiner Kohle zu tun... Dass die Mieten steigen, kannst du nicht verhindern. Ich nicht. Du nicht... Der Mietspiegel ist ein Mechanismus, neue und gute Wohnungen mit alten und nicht so guten Wohnungen zu vergleichen. Das ist die Krux. Nicht der, der neue Wohnungen baut, ist das Problem... Leute, wenn die Degewo [als gemeinnütziges Unternehmen] hier baut, kostet der Quadratmeter auch sechs bis zwölf Euro Miete... Tut mir leid, dass wir Marktwirtschaft haben.“
Das Johlen und Schimpfen ist die Geräuschkulisse der Expansion. Jeder Quadratmeter Berliner Boden hat Wert, Nutzen.
Im Sommer eskalierte die Situation, Autos der Firma gingen in Flammen auf, Mitarbeiter wurden auf der Baustelle attackiert. Und der Bezirk wolle ihn zum Verkauf des Grundstücks drängen. Gröner schrieb dem Senat einen zornigen Brief, in dem er beklagte, dass die Stadtverwaltung sich von Stimmungen Einzelner abhängig mache. „Die Relativierung oder Aufkündigung von rechtsstaatlichen Regeln und Gepflogenheiten hat ein Ausmaß erreicht, in dem man sich als Bürger auf nichts mehr verlassen kann.“
Geschrei und Pfiffe - Werden so Berlins Probleme gelöst?
Was klingt wie das übliche Business-as-Berlin-Gejammer, stammte von einem Mann, der sich als „geistiger Brandstifter gegen verkrustete und überalterte Funktionalitäten in der Stadt“ versteht. Mit seinen Hochhausplänen, zu denen auch die Umwandlung des Steglitzer Kreisels in einen Wohnturm gehört – mit 330 Einheiten –, steht Gröner an der Spitze einer Dynamik, die auf ein Berlin mit vier Millionen Einwohnern zusteuert.
Dass so viele Menschen in absehbarer Zeit an der Spree leben werden, ist sehr wahrscheinlich. Offizielle Prognosen der Senatsverwaltung gehen von einem Wachstum um 180.000 Menschen bis 2030 aus. Weiter reichen verlässliche Vorhersagen nicht. Aber der Schritt zur Vier-Millionen-Metropole könnte in zehn Jahren vollzogen sein.
Es ist eine magische Grenze. Schon einmal, 1925, wurde sie überschritten. War man damals klüger, als man es heute ist? Jedenfalls drängen sich dieselben Fragen auf: Wie brutal müsste der Eingriff ins Stadtbild ausfallen, um den wachsenden Bedarf an Wohnraum, Arbeitsplätzen, an Heizwärme, Elektrizität und Transportkapazitäten, an Krankenhausbetten und Schulen zu bewältigen? Wie das Neue nicht ausufern lassen zu den deprimierend funktionalen Siedlungstrabanten? Und wie den Charakter einer Stadt bewahren, die eine historische Mitte, aber kein Zentrum hat?
Wenn Christoph Gröner vom „großen Wurf“ träumt, denkt er an George-Eugéne Haussmann und dessen Umgestaltung von Paris Mitte des 19. Jahrhunderts, als der Präfekt Napoleons III. die Hauptstadt der Aufklärung aus mittelalterlichen Gassen und Kloaken herausschnitt, sie mit Boulevards, Ponts, Jardins versah und sogar diktierte, wie die Häuserfassaden im Innenstadtbereich auszusehen hatten. Es war die Supernova der Stadtplanung. Haussmann schien die Französische Revolution um ihre architektonische Komponente zu erweitern, und seine Ideen wurden in Europa und den USA begeistert aufgenommen. Über Berlin sollte der Schriftsteller Thomas Mann später sagen, dass man der Stadt ansehe, eine Revolution nie erlebt zu haben.
Bedarf es also des großen Plans? Ist er ein Intelligenztest für die urbane Gemeinschaft, weil er zeigt, wie weit sie ihre eigene Zukunft zu erfassen vermag? Und wie müsste ein solcher Plan heute aussehen?
Es vergeht kaum ein Tag, an dem die Berliner Planlosigkeit nicht bitter beklagt würde. Erst kürzlich wandte sich eine Gruppe von Berliner Architekten um Bernd Albers an die Öffentlichkeit mit der Forderung: "Fangt endlich wieder an zu planen."
Dabei stand die Stadt einmal an der Spitze eines weltweiten Reformdenkens, das die gesamte Stadt in den Blick zu nehmen sich traute. Nirgendwo sonst wurde Anfang des 20. Jahrhunderts so ergiebig darüber gestritten, wie mit urbanem Raum produktiv umgegangen und die Stadt lebenswerter gemacht werden könnte. Auch heute gibt es Masterpläne wie das „Planwerk Innere Stadt“ von 2011 und die noch bedeutendere „Gemeinsame Landesplanung“ von Berlin und Brandenburg, die das Flächenwachstum der Metropolregion auf Schwerpunktgebiete beschränkt und garantieren will, was sonst in keiner der 94 Megacitys mit über vier Millionen Einwohnern gelungen ist – eine Zersiedelung des Umlandes zu verhindern.
Die Losung heißt: nach oben.
Darüberhinaus beschränkt sich die Auseinandersetzung mit Berlins Stadtbild auf neuralgische Fragen wie Hochhäuser - ja oder nein? Oder: Braucht es eines repräsentativen Zentrums? Oder: Machen Kleingartenkolonien innerhalb des S-Bahn-Rings noch Sinn? Doch ein Überblick fehlt, wie innerhalb der Stadt Wissenschaft, Logistik oder medizinische Versorgung organisiert werden müssten.
Das Problem ist, dass sich die Intelligenz solcher Planungen in einer Sprache äußert, die nur Experten verstehen. Stadtpläne sind nämlich ganz überwiegend technische Zeichnungen. Der Öffentlichkeit werden hübsch anzusehende Simulationen künftiger Straßenszenen präsentiert, die man schon für den Plan selbst halten kann. Dem ist nicht so.
Die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Abgeordnetenhaus Antje Kapek, eine studierte Stadtplanerin, bringt das Dilemma so auf den Punkt. „Der Senat sagt immer: wohnen, wohnen, wohnen. Doch die Leute verlassen ihre Wohnungen morgens, um ganz viele unterschiedliche Dinge zu erledigen. Wenn ich nur auf einer Ebene plane, krankt es irgendwann an einer anderen.“ Berlin, so glaubt Kapek, steht eine Nachverdichtung bevor, die vor allem in der Innenstadt zu höheren Gebäuden führen wird.
Ein unweigerlicher Schritt, meint auch Christoph Gröner, Herr der zwei Türme. Wohnungen könnten mit entsprechenden Ausgleichsflächen, Parks und Verkehrsanbindungen in ausreichender Zahl nur entstehen, wenn Lebensraum gestapelt werde. Wofür sich die Menschen längst entschieden hätten. Sie wollen die Verdichtung, laufen in die Städte, treiben die Preise nach oben. In die Höhe zu bauen, bedeute, unten Platz zu schaffen.
Über Jahrhunderte ist Berlin gewachsen, indem Vororte sich entlang der Stadtmauer bildeten und prosperierten, weil sie von Zöllen ausgenommen waren. Obwohl der Grenzwall immer weiter hinausgeschoben wurde, blieb die Unterscheidung von drinnen und draußen wichtigster Wachstumsimpuls. Der Planer war dabei ein Vollstrecker des Herrscherwillens, dem es einerlei war, ob er Parkanlagen oder Städte anlegte. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts trat der Stadtgestalter auf in Form eines Fachmanns für Kanalisation.
Die Zwangsehe von Verkehr und Hygiene
James Hobrecht wurde 1858 bestellt, um die grassierenden hygienischen Probleme der expandierenden preußischen Hauptstadt in den Griff zu bekommen. Der Schmutz von 550.000 Menschen ergoss sich über Rinnsteine, Krankheiten rafften vor allem Kinder dahin, und die politischen Unruhen der März-Aufstände hatten dem Königshaus die Brisanz der sozialen Frage verdeutlicht. Hobrecht ging nun daran, einen weit außerhalb des eigentlichen Stadtgebiets verlaufenden Kreis zu ziehen und daran sein Pumpensystem zu orientieren, mit dem er die Wasserzirkulation sicherstellte. Radialstraßen und Querverbindungen prägten diesen Raumplan, dennoch berücksichtigte er die bestehenden kleinräumlichen Gegebenheiten der angrenzenden Dörfer und Landgüter als willkommene Webfehler. Aber das Wichtigste an Hobrechts Spinnennetz-Konzept war, dass es die sich ankündigende Expansion ins Umland bereits mitdachte.
Dieses Modell von Stadterweiterung in die Fläche ist nicht mehr möglich. Sieht Berlin seine Chance in der dreidimensional durchgeplanten Stadt gekommen? Im Erdgeschoss fahren Pkw und Busse, darüber auf Hochtrassen bewegen sich die Fußgänger durch vertikal gestaffelte Straßen?
Den Stadtplaner Harald Bodenschatz amüsiert die Sehnsucht nach dem „großen Plan“, das ist selbst durch den Telefonhörer zu spüren. In etlichen Aufsätzen und Debattenbeiträgen hat sich der TU-Professor mit Planungswesen beschäftigt, sogar eine Buchreihe initiiert im Vorfeld des anstehenden 100. Jubiläums der Bildung „Groß-Berlins“ 1920 (der erste Band über die „Wohnungsfrage“ ist im Lukas Verlag erschienen). Es gibt also kaum einen Besseren, um über den „Kult“ des Generalplans zu sprechen.
Braucht Berlin einen Plan, Herr Bodenschatz?
Seine Antwort ist ziemlich kompliziert. Man könnte sie so zusammenfassen: ja und nein.
Der Wunsch nach einem umfassenden Bebauungs- und Stadtentwicklungsplan geht auf die Phase Anfang des 20. Jahrhunderts zurück, als Berlin seine Grenzen wieder einmal aufgelöst hatte und die politische Organisation nicht Schritt hielt. Der Hobrecht-Plan, der 88 Quadratkilometer definiert hatte, war spätestens 1890 zum überkommenen Relikt geworden. Die Hauptstadt des Kaiserreichs maß das Zehnfache von Hobrechts Zuschnitt. An ihren Rändern hatten sich Industriestandorte gebildet, Massen von Arbeitern waren genötigt, dorthin und wieder zurück in die Wohnquartiere zu gelangen. Die Ansprüche an eine solche Fläche konnten mit der Planung von Straßen nicht mehr befriedigt werden.
Frust über den Investitionsstau
Gleichzeitig war das Gebilde der unerbittlichen Konkurrenz von Gemeinden und kreisfreien Städten ausgesetzt. Sie waren sehr auf ihren eigenen Wohlstand bedacht und kämpften um die Ansiedlung eines finanzkräftigen Klientels. In Broschüren warben sie mit den finanziellen Vorzügen von Villenkolonien. In Grunewald entstand eine solche dank hoher Steuerfreibeträge, die den Millionären erlaubten, praktisch umsonst in ihren prachtvollen Residenzen zu leben. Manche Orte im Grüngürtel wehrten sich vehement gegen die Anbindung durch die S-Bahn. Sie wollten die Leute aus Moabit und Wedding nicht bei sich haben als Ausflügler. Die Konzentration von armen Menschen in den nördlichen und östlichen Stadtteilen und von der bürgerlichen Oberschicht im Süden und Südwesten drohte das „Wirtschaftsgebiet“ zu zerreißen.
In dieser Situation meldeten sich die Stadtplaner zu Wort. Der 1905 von zwei Architektenverbänden initiierte „Wettbewerb Groß-Berlin“ war aus Frust über den Innovationsstau entstanden, weil Berlin und seine umliegenden Gemeinden bei den damals größten Problemen der Wohnungsnot und des Pendlerverkehrs nicht vorankamen. Und der Wettbewerb war, was sich Planer immer gewünscht hatten, wie Markus Tubbesing ergänzt, der eine von vielen erwartete Doktorarbeit über das Thema verfasst hat. Erstmals war eine planerische Gesamtvision für den Großraum Berlin gefragt (im Maßstab 1:60000) und eine architektonische Präzisierung (1:2000) anhand von Einzelvorschlägen. Es ging nicht darum, einen Plan um des Planens willen zu erstellen, sondern darum, ein Bild der Stadt zu finden. Die Architekten gaben sich große Mühe, ihre Vorstellungen in kolorierten, eindrucksvoll anzusehenden Schaubildern darzulegen. Ausdrücklich waren Ansichten aus der Vogelperspektive gewünscht, um ein Gefühl für die Gesamtsituation zu erzeugen.
Keiner der prämierten Entwürfe wurde nach Abschluss des Wettbewerbs 1910 realisiert. Doch die wichtigste Funktion war von Anfang an eine andere. Der Wettbewerb sollte „Werbung“ machen, sagt Bodenschatz, um den konkurrierenden Stadtvätern die Vorzüge einer Gebietsreform vor Augen zu führen. Und das mit Erfolg. Nachdem zunächst ein „Propagandaausschuss“ für die Gemeindereform eintrat, wurde mit dem „Zweckverband“ ein Gremium mit eingeschränkten Befugnissen gebildet, das der Stadt immerhin den Dauerwaldvertrag bescherte. Damit wurden der Grunewald und andere Grünstreifen dem Zugriff der gefräßigen Stadt gerade noch rechtzeitig entzogen.
Es gab allerdings auch Gewinner im Gewirr konkurrierender Lokalinteressen. Einer von ihnen war Georg Haberland, ein findiger Geschäftsmann und Lokalpolitiker, ohne den einige der begehrtesten Wohnlagen Berlins niemals entstanden wären. Die Gegend um den Rüdesheimer Platz ist eine solche. Und ein Herr mittleren Alters in langem Trenchcoat und mit schmaler Brille begutachtet an einem trüben Wintertag voller Bewunderung die um den Platz angeordneten Altbauten. Martin Krauss ist aus Mannheim angereist. Der Archivar des Bilfinger-Konzerns hat für ein Buch zum Firmenjubiläum 2005 akribisch das wenige zusammengetragen, was an Geschäftspapieren und Lebenszeugnissen von Haberlands früherem Immobilienimperium übrig geblieben ist.
Darüber ist Krauss zum Chronisten der Berliner Baugeschichte geworden. Bei einem Gang durch das Rheingau-Viertel erzählt er, wie Bilfinger einst entstand als eine Erfindung der Dresdner Bank, die ihre Beteiligungen an einigen Baufirmen 1975 zusammenführen wollte, darunter das Erbe von Haberlands Berlinische Boden-Gesellschaft (BBG). Als einflussreichste Terraingesellschaft ihrer Zeit trieb sie bis 1914 die Ausdehnung Berlins voran, indem sie in großem Umfang Land von den Kommunen erwarb und zu Bauland machte. Da es keine einheitliche Planung gab, wurden die Regeln, nach denen dies geschah, mit den Kommunen erst ausgehandelt. Ein für beide Seiten profitables Verfahren.
Der Pioniergedanke des Terraingeschäfts bestand darin, Ackerland für die Stadt zu gewinnen, indem die Entwicklungskosten auf spätere Käufer übertragen wurden. Das Geschäft funktionierte also nur in Erwartung wachsender Wohnnachfragen. Es übernahm damit Funktionen, die heute von der öffentlichen Hand getragen werden, aber damals bei den geringen Steuereinkünften von den Kommunen nicht bewerkstelligt werden konnten. So waren es die Terraingesellschaften, die Planungswissen ansammelten. Obwohl Haberland die Häuser nicht selbst baute, die er in großer Zahl projektierte, ließ er sie von einem eigenen Baubüro architektonisch durchplanen. Die Gebäude im Rheingau-Viertel erhielten Fachwerkapplikationen, Erker und vorspringende Fassadenelemente, die dem englischen Landhausstil nachempfunden waren. Den als Ziergarten konzipierten Rüdesheimer Platz ließ der Entwickler Haberland auf eigene Kosten anlegen.
Zeitlebens war der gut vernetzte Geschäftsmann polemischen Angriffen ausgesetzt, die sich am „Spekulantentum“ entzündeten und antisemitisch gefärbt waren. Als die Nachfrage nach besserem Wohnraum 1912 nachließ und sich herausstellte, dass man „am tatsächlichen Bedarf vorbeigebaut“ hatte, wie Krauss sagt, knickten die Kreditlinien ein, brach das Terraingeschäft zusammen.
Der VW der Immobilienwirtschaft
Auch heute, so glaubt Investor Christoph Gröner, arbeite die Immobilienwirtschaft „am Zukunftsbedarf für 60 Millionen Menschen vorbei“. Er meint, „das wäre so, als würden Autobauer nur noch SUVs vom Band rollen lassen.“
Für die Mittelschicht mit normalen Lohneinkünften werde nicht gearbeitet. Und das bei einer Branche, die 100 Milliarden Euro an Bauleistung erbringt und damit ein Zehntel des Bruttosozialprodukts erwirtschaftet. Obwohl sie nach der Automobilindustrie zur wichtigsten Branche des Landes gehört, sagt Gröner, betrage die Forschungsquote pro Arbeitsplatz nur 300 Euro. Zum Vergleich: In der Automobilbranche ist jeder Arbeitsplatz mit 30.000 Euro Forschungsgeldern abgestützt.
Es mag in der Natur des Jobs liegen, dass sich Immobilienentwickler bei ihrer Suche nach politischer Unterstützung oft selbst wie Politiker anhören. Gröner treibt dieses Spiel besonders weit. Seine Reisen in die asiatischen Hypercities haben ihn darin bestärkt, sich auf einen Technologie-Krieg vorbereiten zu müssen. „Mein Arbeiter kann sich die Wohnung zurzeit nicht leisten, die er baut", sagt er. "Das kann so nicht bleiben. Das ist eine gesellschaftspolitische Frage.“ So erzählt er von Plänen, nach denen er im Januar den Grundstein für eine vollautomatisierte Fertigteile-Fabrik in Erfurt legt. Deren Kapazität soll ihm erlauben, 2000 Wohnungen im Jahr zu schaffen. Prefabrication lautet das Stichwort. Vorgefertigte Wand- und Deckenelemente, die - anders als beim Plattenbau - individuellen Schnittmustern folgen, müssen vorort dann nur noch wie ein Puzzle zusammengesteckt werden. Damit seien Quadratmeterpreise für die Mittelschicht möglich. „Ich will VW der Bauwirtschaft werden“, sagt Gröner.
Massenfertigung als Ausweg, da sträuben sich manchem die Haare, der an Trabantenträume wie Märkisches Viertel, Gropiusstadt, Weiße Siedlung, Lichtenberg und Marzahn denkt.
Auch in hundert Jahren noch schön
Es ist ein nasskalter Novembertag, als der Architekt Alexander Lohausen durch den Matsch stapft. Über seinem Kopf hieven Kräne Armierungsstahl von Sattelschleppern, Verschalungselemente schweben durch die Luft, in Gruben werden Bodenplatten gegossen. Lohausens Ziel ist ein altes Speichergebäude. Es steht verloren in der aufgewühlten Brache nördlich des Hauptbahnhofs. Das Quartier Heidestraße ist mit seinen 40 Hektar die größte innerstädtische Fläche, die Berlin noch zu vergeben hatte. Lohausens Firma Kauri CAB hat sich einen beträchtlichen Teil für die im Masterplan ausgewiesenen Mietwohnungen gesichert – und sie für 120 Millionen Euro an einen Abnehmer bereits weiterveräußert. Nun muss Lohausen die 700 Wohnungen nur noch bauen.
Dass ein Finanzinvestor einen Architekten in die Geschäftsführung holt, der in Kopenhagen studiert und für die Büros von Arne Jacobsen und Albert Speer Jr. gearbeitet hat, unter anderem in China, demonstriert einen neuen Ehrgeiz. Immerhin vier Architekten mit unterschiedlicher Handschrift kommen unter Lohausens „Grundharmonisierung“ in dem Quartier zum Zug. „Als Architekt weiß ich, wie Gebäude am besten funktionieren und lebendig werden könnten. Eine Zeit, in der viel gebaut wird, ist diesbezüglich auch eine gefährliche Zeit.“
Lohausen kann sehr leidenschaftlich werden, wenn es um die Güte von Investorenbeton geht. Er strebt eine „ästhetische Nachhaltigkeit“ an, die Mietshäuser auch in hundert Jahren noch zu ansehnlichen Objekten zu machen, so wie die Bauten der Gründerzeit es bis heute geblieben sind. Das Hauptproblem bei der Planung sei oft: Zeitmangel. In wenigen Wochen soll konzipiert sein, was mehrere Generationen überdauert?
Ein Kornspeicher sucht Künstler
Das könne nicht klappen. Die Bauherren müssten mehr Geduld aufbringen, zumal hinter ihnen oft Pensionsfonds und Lebensversicherer mit langfristigen Renditeerwartungen steckten.
Am einzigen Gebäude angelangt, das einsam aus der Baucontainer-Tristesse ragt, streckt sich der 48-Jährige jetzt zu einem Balken und fingert einen Schlüssel hervor. Der alten Kornversuchsspeicher sei das „Herzstück“ des Areals, sagt Lohausen und führt durch rohe Loft-Etagen, die mit ihren blanken Betonkammern und Kornrutschen immer schon ein Leben gehabt haben werden. Zuerst sollten auch hier Wohnungen eingebaut werden, aber nun sind Büros vorgesehen, weil die Fluktuation von arbeitenden Menschen, die morgens ins Viertel kämen und es abends wieder verließen, für mehr Belebung sorge. Bis das Gebäude saniert ist, will Lohausen es von Künstlern „bespielen“ lassen. Die Zwischennutzung soll spätere Mieter ins Neubauviertel ziehen.
So wird dieselbe Gentrifizierung, die Markenkonsum und Luxus in Altbauviertel trägt, zum Wachstumsmotor des Neuen, Fremden.
Als Berlin 1920 zu seiner heutigen Form fand, war kein Geld mehr im Kapitalmarkt, mit dem ambitionierte Siedlungsprojekte hätten umgesetzt werden können. Der Posten des Stadtbaudirektors blieb lange vakant, bis man sich auf Martin Wagner einigen konnte, einen Vertreter des Reformdenkens. Trotz der begrenzten Mittel in der Weimarer Republik brachte er bedeutende Ensemble wie die Hufeisensiedlung von Bruno Taut zustande.
Rückblickend spreche man gerne von einem Gesamtsiedlungsplan, sagt Stadtplaner Harald Bodenschatz, „aber der war nicht so zwingend". In dem Maße, in dem der Magistrat von Berlin als staatliches Organ die Möglichkeiten hatte, über den kommunalen Wohnungsbau die Sache zu steuern, nahm die Notwendigkeit eines Plans ab, der wesentlich dazu diente, private Akteure zu verpflichten. Es brauchte keines übergeordneten Plans mehr, um Projekte von stadtweiter Bedeutung zu realisieren.
Warum sollte es ihn heute brauchen?
"Jede Planungsgeschichte eines Idealgrundrisses", schreibt der Architekturkritiker und Stadtplaner Dieter Hoffmann-Axthelm hat in einem exzellenten Essay, "ist eine Geschichte der Fehlschläge." Am Ende hätten sich diejenigen, für die das Ideal gedacht war, ihre Stadt auf ihre eigene Weise angeeignet.
Kein Ort ist in Berlin von diesem Gedanken wohl so stark geprägt wie das Holzmarkt-Gelände. Schon von Weitem ist zu erkennen, dass auf dem schmalen Streifen zwischen Spreeufer und Durchgangsverkehr etwas Ungewöhnliches ausprobiert wird. Die teils in Holz gefassten, teils unverkleideten Rohbetonkuben und Quader scheinen wirklich wie zur Probe in die Kulisse aus Hochbahn, Plattenbau und Gewerbebrache gesetzt worden zu sein. Nichts Definitives geht von diesem zusammengestückelten „Kreativ-Dorf“ aus. „Unsere Kernkompetenz ist die temporäre Nutzung“, sagt denn auch einer der Initiatoren und ehemaligen Clubbetreiber und stellt an einem Montagabend Stühle in Reihen auf für ein gleich beginnendes Symposium. Es wird um das gehen, was die Genossenschaftler hier planen für die schlaflose Welt der Metro-Hipster und Selbstausbeuter, die nicht mehr nur arbeiten, sondern dabei auch leben wollen, die so viel arbeiten, dass es ein Leben jenseits davon nicht mehr gibt, die Party und Profit zusammendenken und mit neun Quadratmetern an persönlichem Wohnraum zufrieden wären. Es geht also um diejenigen, die, sollte sich der Start-up-Boom in der Hauptstadt fortsetzen, ganz sicher die Arbeitsgesellschaft von morgen prägen.
Leben und arbeiten in derselben Etage
Bislang ist nur der gastronomische Part der New-Economy-Favela halbwegs fertig. Für das sogenannte Eckwerk auf der anderen Seite der Schienentrasse ist ein raffiniert verschachteltes Gebilde aus fünf Hochhäusern mit bis zu zwölf Stockwerken und einer sich durch die Gebäude windenden Uferpromenade vorgesehen. Was auf Bildern ziemlich spektakulär wirkt. Zumal es möglich sein soll, beliebig große Arbeitsbereiche mit modularen Wohnkammern zu bestücken. Es ist gedacht für Studenten, die Gemeinschaftsprojekte vorantreiben und sich zu Start-up-WGs zusammenschließen wollen. „Es sollen Räume sein“, sagt ein Beteiligter, „in denen man als Gründer scheitern darf, aber nicht als Mensch, weil einen Mietverpflichtungen in die Insolvenz treiben.“
Entworfen haben das Eckwerk-Ensemble zwei der renommiertesten Berliner Architekturbüros mit weit auseinanderliegenden Ansätzen – Graft Architects sowie Jan Kleihues. Gegen die Realisierung sträubt sich indes die Bauverwaltung. Sie hat andere Vorstellungen davon, was unter „temporärem Wohnen“ zu verstehen ist. Außerdem ist der Linken-Bausenatorin Katrin Lompscher wohl die Klientel nicht ganz geheuer, die mit diesem betreuten Wohnen für App-Entwickler ins Visier genommen wird. Ein Studentenwohnheim, wie angeblich verabredet, ist das jedenfalls nicht.
Zu ihrem Plan befragt, winken sie am Holzmarkt ab. Da war zunächst kein Plan, sagt Mario Husten. Sie hatten „ein Gefühl für das, was hier entstehen sollte, ohne eine Form dafür zu kennen“. Dieses Gefühl fassten sie in einem Manifest zusammen. „Mehr Wir Weniger Ich“, lautet das Motto für diese Art des barrierefreien Wohnens, das öffentlichen Raum und Privatsphäre durchlässiger aufeinander bezieht und das Stadthaus neuen Typs zu schaffen hofft.
Zehn Jahre, so glauben die Planer, dürfte sich das Bauvorhaben hinziehen. Damit ist schon mal eine wesentliche Voraussetzung für gelingende Urbanisierung geschaffen. Denn Stadt entsteht ja nicht aus der Durchsetzung subjektiver Interessen, sondern vielmehr durch die Zeit, die der Interessenausgleich verschlingt.
Die Abnutzungserscheinungen dabei werden dem Planer angelastet. Zu Unrecht. Denn dass er Städte gestalten soll, ohne die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern zu können, die der sozialen Ungerechtigkeit zugrunde liegen, führt in eine strukturelle Überforderung des Planerberufs. Man kann soziale Spannungen durch Wohnungsbauprogramme nicht wegplanen, wie die Belegungen der mit größtem Reformeifer in der Weimarer Republik entwickelten modernen Siedlungen - heute Weltkulturerbe - in Berlin zeigen. Nicht ein einziger unqualifizierter Arbeiter konnte sich die Mieten dort leisten, obwohl sie von gemeinnützigen Wohnungsbaugenossenschaften mit den öffentlichen Subventionen der Hauszinssteuer errichtet worden waren.
Für den Stadtplaner bedeutet die Fixierung auf soziale Balance, dass er als Einziger, der das Verfahren beherrscht, Herr bloß über das Verfahren und damit gefangen in absoluter Ohnmacht gegenüber den politischen Abgleichungsprozessen ist, mithin „Administrator eines gewaltigen Zeitverbrauchs“, wie Hoffman-Axthelm scharfzüngig schreibt. Aus diesem Dilemma gibt es keinen Ausweg, aber es gibt einen Trick.
Der Architekt Jan Kleihues wendet ihn an, als er lässig gegen das Rednerpult der Holzmarkthalle gelehnt zehn „Thesen zur Stadtraumverdichtung 2050“ vorstellt. Deren wichtigste sind: die Öffentlichkeit in Planungen miteinbeziehen, alte Substanz erhalten, gesellschaftliche Schichten mischen, alle Nutzungen in jedem Gebäude erlauben, neue Mobilitätskonzepte berücksichtigen.
Die Punkte ergeben weniger einen Plan, als dass sie ein Katalog des guten Benehmens sind. Denn so partizipativ wie Demokratien heute organisiert sind, braucht der Planer vor allem eine Kommunikationsstrategie. Und er braucht sie umso dringender, da er sich an Berlins verwachsener Struktur abarbeitet. Denn eigentlich, so Kleihues weiter, sei „das Berliner Modell nie so geplant gewesen“.
- bbbbbb
- Brandenburg neu entdecken
- Charlottenburg-Wilmersdorf
- Content Management Systeme
- Das wird ein ganz heißes Eisen
- Deutscher Filmpreis
- Die schönsten Radtouren in Berlin und Brandenburg
- Diversity
- Friedrichshain-Kreuzberg
- Lichtenberg
- Nachhaltigkeit
- Neukölln
- Pankow
- Reinickendorf
- Schweden
- Spandau
- Steglitz-Zehlendorf
- Tempelhof-Schöneberg
- VERERBEN & STIFTEN 2022
- Zukunft der Mobilität