Forschung zu „Ehrenmorden“: „Auch Deutsche töten ihre Frauen“
Julia Kasselt hat erforscht, was „Ehrenmorde“ von anderen Partnertötungen unterscheidet – und was nicht. Ein Interview zum 15. Todestag von Hatun Sürücü.
Auch 15 Jahre nach dem Mord an der Berlinerin Hatun Sürücü ist das Phänomen „Ehrenmorde“ nicht aus der öffentlichen Debatte wegzudenken. Dabei scheitert der Diskurs häufig schon an den grundlegenden Fakten: Denn offizielle Zahlen gibt es ebenso wenig wie eine einheitliche Definition. Für das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht hat die Juristin Julia Kasselt das Phänomen in den 2010er Jahren erforscht und dafür Zehntausende Prozessakten und Nachrichtenmeldungen ausgewertet. Im Gespräch mit Fabian Goldmann blickt Kasselt, die heute für das Bundesfamilienministerium arbeitet, zurück auf die bislang einzige quantitative Studie zum Thema Ehrenmord.
Was sind eigentlich Ehrenmorde?
Ehrenmorde sind Tötungsdelikte mit einem bestimmten kulturellen Hintergrund. Meist werden diese an Frauen und durch einen nahen Verwandten begangen und es geht darum, die sogenannte Familienehre wiederherzustellen, die aus Sicht des Täters durch das Opfer verletzt wurde. Das kann zum Beispiel der Fall sein, wenn die Frau nicht den gewünschten Partner hat oder sich von ihrem Partner getrennt hat. Aber auch bestimmte Verhaltensweisen wie ein westlicher Lebensstil können als Ehrverletzung wahrgenommen werden. Das war ja auch bei Hatun Sürücü der Fall.
Im Fall von Hatun Sürücü wurden neben dem Bruder, der die Schüsse abgegeben hat, zwei weitere Brüder der Tatbeteiligung verdächtigt. Ist die Involvierung mehrerer Familienmitglieder typisch für Ehrenmorde?
Es ist zumindest so, dass selbst wenn es einen Einzeltäter gibt, dieser die Tat ausübt, weil bestimmte kollektive Ehrnormen dahinterstehen. Es gibt zum Beispiel Fälle, in denen die Ursprungsfamilie in der Türkei lebt, die Tat also gar nicht begehen konnte, und der Ehemann sich daher selbst dazu berufen fühlt, die Ehre wiederherzustellen. In den meisten der von uns untersuchten Fälle war es so, dass der Täter sich durch Kommentare wie „Du musst unsere/deine Ehre wiederherstellen!“ oder „Hast du keine Ehre?“ unter Druck gesetzt gefühlt hat. Dieser Druck, der von Familie und Freunden gegenüber dem Täter auf Basis eines kollektiven Ehrhintergrunds aufgebaut wird, ist ein großer Unterschied zu klassischen Partnertötungen, die auf individuellen Entscheidungen basieren.
Für Ihre Studie „Ehrenmorde in Deutschland“ haben Sie erstmals versucht, das Phänomen in Zahlen zu fassen. Wie viele solcher Taten gibt es in Deutschland?
Für den Zeitraum 1996 bis 2005, den wir ausgewertet haben, haben wir 78 Fälle von versuchten oder vollendeten Ehrenmorden im engeren oder weiteren Sinne gefunden. Wenn man sich überlegt, wie viele Tötungsdelikte jährlich in Deutschland passieren, ist das eine vergleichsweise geringe Zahl. Allein 2018 gab es laut polizeilicher Kriminalstatistik 901 vollendete oder versuchte Morde in Deutschland. Ehrenmorde sind also ein seltenes Phänomen, das durch die Medienberichterstattung sehr verzerrt dargestellt wird.
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Inwiefern?
Da über Ehrenmorde oder vermeintliche Ehrenmorde und Prozesse, in denen es darum geht, verstärkt berichtet wird, entsteht der Eindruck, dass Ehrenmorde ein vorherrschendes Phänomen sind, was zum Glück nicht der Fall ist.
Sie sagen „vermeintlich“. Handelt es sich bei Ehrenmorden, die uns in Medien begegnen, nicht immer um welche?
Nein, nach meiner Einschätzung sind das nicht immer tatsächlich Ehrenmorde. 2018 sind 122 Frauen von ihren Partnern oder Ex-Partnern getötet worden. Auch Deutsche töten ihre Frauen oder Ex-Frauen. Aber wenn ein Ausländer der Täter ist, wird das schnell als „Ehrenmord“ kategorisiert, obwohl es oft ein klassischer Fall von Partnertötung ist. Die Tatmotivation ist bei Deutschen und Ausländern letztlich dieselbe: Eifersucht und Besitzdenken – meist passiert die Tat, wenn die Frau sich getrennt hat oder trennen wollte.
In letzter Zeit wird häufig vom „Femizid“ gesprochen. Ist das eine bessere Alternative zu Begriffen wie „Ehrenmord“ und „Beziehungstat“?
Der Begriff Femizid bezeichnet Tötungen von Frauen aufgrund ihres Geschlechts und ist für einen Großteil der Ehrenmorde und Beziehungstaten sicherlich treffend. Allerdings passt er nicht für die Fälle, in denen Männer zu Opfern werden.
Wann werden Männer Opfer von Ehrenmorden?
Es gibt einige Fälle, in denen Frauen Partner hatten, die der Familie nicht gefielen und die entweder zusammen mit der Frau oder allein getötet wurden. Letzteres scheint manchmal das „mildere Mittel“ zu sein, weil es für die Täter sicherlich nicht gerade leicht ist, die eigene Tochter oder Schwester zu töten.
[Lesen Sie auch Hatun Sürücüs Vermächtnis: Vor 15 Jahren wurde Hatun Sürücü ermordet – weil sie frei leben wollte. Manches hat sich seither verändert. Gewalt gegen Mädchen gibt es noch immer.]
Gibt es auch Ehrenmörderinnen?
Die Täter sind fast ausschließlich Männer. Es gab in unserer Untersuchung nur eine Handvoll Täterinnen. Wenn Frauen darüber hinaus beteiligt waren, dann eher im Hintergrund als Strippenzieherinnen. Es gibt auch nur sehr wenige Fälle, in denen Frauen aufgrund einer Tatbeteiligung verurteilt wurden, da sie in der Regel von den Tätern geschützt werden.
Was weiß man noch über die Täter?
Der überwiegende Teil der Täter kommt aus der Türkei. In unserer Studie waren die Täter sehr häufig ältere Männer, die zwar schon lange hier leben, aber bei denen die Integration misslungen ist, oder junge Männer, die kurz zuvor noch in der Türkei gelebt haben. Viele Täter sind also Einwanderer der ersten Generation. Die Generationen, die schon in Deutschland geboren sind, vertreten diese Ehrkultur meist nicht mehr.
Kann man daraus den Rückschluss ziehen, dass Ehrenmorde ein islamisches Phänomen sind?
Nein, dieser Rückschluss wäre falsch. Es ist schon so, dass die meisten Täter in Deutschland Muslime sind. Es gab in unserer Stichprobe aber auch christliche Täter, die ebenfalls aus Ländern kamen, in denen diese Ehrkultur weitverbreitet ist. Die Ehrkultur selbst ist nichts Religiöses, das ist ein altes stammesgesellschaftliches Phänomen, das schon viel länger existiert als zum Beispiel der Islam. Das entstand zu einer Zeit, als es noch keine Staaten gab und die Familie und Familienehre noch gegen andere Familien und Stämme verteidigt werden musste. Es ist ganz klar ein kulturelles und kein religiöses Phänomen. Es ist auch nicht so, dass sich die Täter auf die Religion berufen.
Sie haben sich auch damit beschäftigt, ob Ehrenmorde strafrechtlich anders beurteilt werden. In Medien ist manchmal von einem sogenannten „Kultur-“ oder „Islam-Rabatt“ die Rede. Gibt es den wirklich?
Das kann ich klar verneinen. Ich habe in meiner Doktorarbeit 78 Fälle von Ehrenmorden verglichen mit einer Stichprobe von klassischen Partnertötungen im selben Zeitraum. Sowohl lebenslange Freiheitsstrafen als auch lange zeitige Freiheitsstrafen wurden bei Ehrenmorden häufiger verhängt. Außerdem kam es bei Ehrenmorden innerhalb des untersuchten Zehnjahreszeitraums zu einem Trend, diese härter zu bestrafen. Das war bei klassischen Partnertötungsdelikten nicht der Fall. Das Ergebnis ist also ganz klar: Täter, die Ehrenmorde begangen haben, werden härter beurteilt als Täter von vergleichbaren Partnertötungen ohne Ehrhintergrund.
Trotz allem bewegen Ehrenmorde die Öffentlichkeit viel stärker als andere Beziehungstaten. Haben Sie Erkenntnisse oder eine Vermutung, warum das Phänomen so präsent ist?
Letztlich geht es um das Fremde, um die Angst vorm Fremden. In Deutschland gibt es dieses Motiv der Verletzung der Ehre nicht mehr. Vor ein paar Hundert Jahren hat man sich bei uns noch für die Ehre duelliert, aber heute sind solche Taten nicht mehr nachvollziehbar. Das ist ein Grund, warum darüber stärker berichtet wird. Natürlich wird das Thema, wie es auch bei Kriminalität unter Flüchtlingen der Fall ist, gern von Boulevardmedien genutzt, weil es zu hohen Leser- und Klickzahlen führt. Leider springen große Teile der Bevölkerung darauf an, weil sie sich bestätigt fühlen in ihren Vorurteilen. Mein Eindruck ist aber auch, dass die Berichterstattung in den letzten Jahren wieder etwas zurückgegangen ist.
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