zum Hauptinhalt
Hatun Sürücü wurde 23 Jahre alt. Am 7. Februar 2005 wurde sie von einem ihrer Brüder an einer Bushaltestelle getötet.
© WDR/privat

„Ehrenmord“ jährt sich zum 15. Mal: Hatun Sürücüs Vermächtnis

Vor 15 Jahren wurde Hatun Sürücü ermordet – weil sie frei leben wollte. Manches hat sich seither verändert. Gewalt gegen Mädchen gibt es noch immer.

Von

Hatun Sürücü wollte ein freies, ein selbstbestimmtes Leben führen, so, wie es die junge Frau für richtig hielt. Ihr gutes Recht in dem freien Land, in dem sie zur Welt kam. Aber nicht für ihre Familie, in der Mädchen ihren Eltern und ihren Brüdern zu gehorchen und nach ihren Regeln zu leben haben.

Am 7. Februar 2005 wurde die damals 23-jährige Hatun Sürücü in einer Bushaltestelle in Tempelhof von ihrem jüngsten Bruder mit drei Kopfschüssen ermordet. Der Fall löste damals deutschlandweit Entsetzen aus – und eine politische Debatte mit Folgen. Das Thema der sogenannten „Ehrenmorde“ wurde debattiert, auch die Rolle von Parallelgesellschaften mit patriarchalen Rollenbildern. Was hat sich 15 Jahre nach dem Mord an Hatun Sürücü verändert?

Sie wurde zwangsverheiratet und in der Ehe geschlagen

„Der Fall hat auch deshalb einen so großen Aufschrei verursacht, weil er so klassisch war“, sagt Christa Stolle, Geschäftsführerin des Vereins Terre des Femmes, der sich weltweit für Frauenrechte einsetzt. Bei Hatun Sürücü seien viele Symptome der „Gewalt im Namen der Ehre“ zusammengekommen: Die junge kurdischstämmige Berlinerin wurde zwangsverheiratet, ihr Mann soll sie geschlagen haben.

Hatun Sürücü hatte sich aus der Ehe mit ihrem Cousin befreit und war mit ihrem Sohn Can von Istanbul zurück nach Berlin gezogen. Hier holte sie ihren Hauptschulabschluss nach und stand kurz vor ihrer Gesellenprüfung als Elektroinstallateurin.

Ihre Familie wollte ihre Art zu leben nicht akzeptieren. Ihr jüngster Bruder wurde nach dem Mord zu einer Jugendstrafe von neun Jahren und drei Monaten verurteilt. Zwei ältere, ebenfalls angeklagte Brüder wurden aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Mittlerweile leben die drei Brüder in der Türkei, es läuft ein Wiederaufnahmeverfahren gegen sie.

Ehrenmorde sollen als solche benannt werden

Frauen wie Hatun Sürücü seien in „einem System gefangen, aus dem sie kaum herauskommen, ohne schwerste Demütigungen, Gewalt und Diskriminierungen hinnehmen zu müssen“, sagt Christa Stolle. Auch heute sei Gewalt gegen Frauen weit verbreitet. Terre des Femmes hat im vergangenen Jahr mindestens zwölf sogenannte, teils versuchte, Ehrenmorde dokumentiert.

Unter den Opfern finden sich Frauen und Männer. Die Liste sei sicher nicht vollständig, sagt Christa Stolle. Sie wünscht sich eine Statistik, die auch Morde „im Namen der Ehre“ als solche benennt – und sie fordert mehr Unterstützung vonseiten der Politik. „Wir brauchen mehr spezialisierte Beratungsstellen und Schutzeinrichtungen. Viele der Stellen, die wir haben, kämpfen permanent um ihre Förderung, das ist sehr zermürbend“, sagt Christa Stolle.

[In unseren Leute-Newslettern berichten wir wöchentlich aus den zwölf Berliner Bezirken. Die Newsletter können Sie hier kostenlos bestellen: leute.tagesspiegel.de]

„Die Mädchenarbeit ist einfach unterfinanziert. Es wird viel erwartet, aber oft wenig gegeben. Und das geht allen Mädchen- und Jugendeinrichtungen so“, sagt Kathi Schilling vom Neuköllner Mädchen*stadtteilladen „ReachIna“ des Trägers Outreach. Vergangene Woche wurde „ReachIna“ mit dem Hatun-Sürücü-Preis ausgezeichnet, den die Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus seit acht Jahren an Personen und Organisationen vergibt, die sich für Chancengleichheit einsetzen.

ReachIna ist Schutzraum für Betroffene

„Es gibt immer noch Mädchen, die nicht viel dürfen, die in den Familienstrukturen gefangen sind“, sagt Kathi Schilling. Für sie fehlten unterstützende Angebote. „Viele Mädchen und junge Frauen wollen von zu Hause raus“, sagt Schilling. Die Mädchen würden zwar auf Institutionen wie ReachIna zukommen, aber könnten von dort kaum weitervermittelt werden.

Es gebe keine freien Wohnungen, in Obdachlosenunterkünfte wollten die Mädchen nicht. Spezielle Einrichtungen wie etwa die anonyme Kriseneinrichtung für Mädchen und junge Frauen mit Migrationshintergrund, Papatya, verfügten über viel zu wenige Plätze. Dann gingen die Mädchen aus Mangel an Unterstützung wieder zurück zu ihren Familien.

Im ReachIna finden Mädchen, junge Frauen und Transjugendliche einen Schutzraum, in dem sie nicht von Jungs oder auch Verwandten unter Druck gesetzt werden. „Es geht oft darum, sich den öffentlichen Raum zurückzuerkämpfen“, sagt Schilling. Andererseits seien aber viele Mädchen heute in der Lage, ihre Bedürfnisse selbstbewusster einzufordern, auch gegenüber ihrer Familie.

Das Schulfach Ethik wurde eingeführt

„In Berlin gibt es sehr abgeschlossene Communities, in die sich nicht einmal Polizisten reintrauen, deren Mittelpunkt oft ein Moscheeverein ist, wo die Unterdrückung der Frauen mit gepredigt wird“, sagt Christa Stolle. Die Terre-des-femmes-Geschäftsführerin fordert ein größeres Bekenntnis der Politik zu Gleichberechtigung und Demokratie in konservativen muslimischen Verbänden.

Und liberale Muslimverbände sollten mehr Unterstützung erfahren. Auch Aufklärungsarbeit sei nötig: zum Beispiel bei Lehrern, fordert Stolle. Nach dem Mord an Sürücü war als eine Konsequenz 2005 das Unterrichtsfach Ethik an Berliner Schulen eingeführt worden, auch, weil viele Lehrer berichtet hatten, dass Schüler den „Ehrenmord“ gerechtfertigt und gutgeheißen hätten.

„Der schreckliche Mord an Hatun Sürücü ist auch nach 15 Jahren unfassbar und mahnt uns, dass Mädchen und Frauen auch heute noch durch die Ausübung von Gewalt daran gehindert werden, ihr Leben selbstbestimmt zu leben“, teilte Gleichstellungssenatorin Dilek Kalayci (SPD) auf Anfrage mit. Das sei nicht tolerierbar.

Der Name der am 7. Februar 2005 erschossenen Hatun Sürücü steht am 07.02.2015 in Berlin auf einem Gedenkstein.
Der Name der am 7. Februar 2005 erschossenen Hatun Sürücü steht am 07.02.2015 in Berlin auf einem Gedenkstein.
© Lukas Schulze/dpa

Zeichen setzen gegen Gewalt an Frauen und Mädchen

In Berlin arbeite der Senat daran, dass Hilfssystem für Mädchen und Frauen in der Stadt zu verbessern. „Wir wollen, dass jede von Gewalt betroffene Frau Hilfe erhält und haben dafür in den kommenden zwei Jahren über 34 Millionen Euro in den Haushalt eingestellt“, sagte Kalayci.

An der Stelle, an der Hatun Sürücü ermordet wurde, steht heute ein Gedenkstein. An diesem Freitag findet dort, am Oberlandgarten 1/ Ecke Oberlandstraße, eine öffentliche Gedenkveranstaltung statt. Die Bezirksbürgermeister von Tempelhof-Schöneberg und Neukölln, Angelika Schöttler und Martin Hikel (beide SPD), werden um 14 Uhr Kränze niederlegen.

Im Rathaus Schöneberg ist um 18 Uhr die Veranstaltung „Ein Zeichen setzen für Frauen*- und Mädchen*rechte und ein selbstbestimmtes Leben“ geplant, die Terre des Femmes gemeinsam mit dem Arbeitskreis gegen Zwangsverheiratung organisiert.

Vor dem Rathaus Neukölln wird eine Fahne gehisst, die sich für ein selbstbestimmtes Leben und gegen Gewalt an Frauen und Mädchen ausspricht. Wehen soll die Fahne bis zum 14. Februar, dem weltweiten Aktionstag gegen Gewalt an Frauen und Mädchen.

Zur Startseite