Sehr wenig Geimpfte, viele Tote: Ärzte in Rumänien beschreiben Corona-Lage als „apokalyptisch“
Die Kliniken sind völlig überbelegt, es fehlt an allem: Rumänien zahlt einen hohen Preis für die Impfskepsis im Land – und die zögerliche Pandemie-Politik.
Es war Hochsommer in Rumänien und Präsident Klaus Iohannis hatte eine vermeintlich gute Botschaft für seine Landsleute: Die Impfkampagne gegen das Coronavirus sei ein „Erfolg“, die Pandemie im Land sei gestoppt, sagte das Staatsoberhaupt, das der deutschsprachigen Minderheit der Siebenbürger Sachsen angehört.
Und auch der vor zwei Wochen über ein Misstrauensvotum gestürzte damalige Premier Florin Citu versicherte den Rumäninnen und Rumänen der Deutschen Welle (DW) zufolge im Juni, die Pandemie sei „eliminiert“ worden.
Schon damals schlugen Mediziner, Virologen und Gesundheitspolitiker im Land Alarm, warnten vor der vierten Welle. Und die hat das Land nun mit voller Wucht erwischt. Wie dramatisch die Lage ist, zeigt ein Video aus dem Universitätskrankenhaus Bukarest, den das rumänische Investigativportal „Recorder“ in der vergangenen Woche unter dem Titel „So sieht eine Gesundheitskatastrophe aus“ veröffentlichte: ein 16 Minuten langes, schwer erträgliches Dokument des Corona-Grauens, das auf Youtube mit englischen Untertiteln zu sehen ist.
Es zeigt, wie auf der völlig überfüllten Intensivstation das Personal am Rande der völligen Erschöpfung buchstäblich um das Leben von Covid-19-Patienten kämpft. Immer wieder müssen Menschen intubiert werden, aber es fehlen Beatmungsgeräte – und Betten.
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„Wer noch sitzen kann und in einem halbwegs passablen Zustand ist, bleibt im Stuhl. Nur Patienten im kritischen Zustand bekommen ein Bett“, sagt ein Pfleger und bereitet einen eigentlich defekten Schreibtischstuhl für einen neuen Covid-19-Patienten vor.
„Ich bin es gewohnt, viele Patienten gleichzeitig zu behandeln“, erklärt ein Arzt. „Aber so etwas habe ich noch nicht erlebt.“ Und eine Krankenschwester fasst schulterzuckend den Frust des Personals zusammen: „Sie sind alle nicht geimpft. Alle nicht!“ Um sie herum nach Luft ringende Patienten.
Ein flachatmiger, grauhaariger Patient sagt in die Kamera, er traue den Impfstoffen nicht. Und den Ärzten auch nicht. Verabreicht werden wie in der gesamten EU auch in Rumänien die Impfstoffe von Biontech, Moderna, Astrazeneca und Johnson & Johnson. Auf die Frage, ob er sich jetzt impfen lassen würde, folgt ein klares „Nein“.
Ein anderer älterer Patient dagegen erklärt, mit einer Atemmaske auf einem Stuhl sitzend, hörbar deprimiert: „Wissen Sie, was der größte Fehler meines Lebens war? Dass ich nicht geimpft bin. Und jetzt muss ich die Konsequenzen tragen.“
Warum er nicht geimpft sei? „Tja, das ist die große Frage.“ Und dann: „Beeinflussung... Was, wir sollen geimpft werden, wir Ältere? Wir sind doch immun.“ Es sei hart, sehr hart, fährt er fort. Die weniger gebildeten Leute hätten es nicht besser gewusst, sagt er. „Wir dachten, wir haben die erste Welle überstanden, die zweite … ich werde in der vierten auch ok sein, kein Problem …“
Leichen werden im Flur an wartenden Patienten vorbeigeschoben. Ein Arzt sagt: „Dieser Ansturm hier hat mit dem Leichtsinn der Leute und ihrem Mangel an Informationen zu tun. Die Politiker müssten viel nachdrücklicher sein. Wenn es ihnen um das Wohl der Wähler ginge, müssten sie sagen: 'Lasst euch impfen!'“ Er sei seit 33 Jahren Mediziner, erklärt er. Ob er so etwas schon einmal erlebt habe? „Nur während der Revolution.“
Und eine andere Mitarbeiterin der Intensivstation sagt: „Es ist die Hölle, wie im Krieg.“ Am Ende des Films von Andrei Udisteanu und David Muntean entfernt eine Pflegerin den Zettel mit dem Namen eines Patienten an einem Bett. Der liegt darauf, in einem schwarzen Plastiksack, ein weiterer Covid-19-Toter in Rumänien.
Solche Szenen spielen sich derzeit überall im Land ab. „Wir sind nicht einfach in einer Pandemie, wir sind in einem Desaster“, sagte der Vorsitzende des Rumänischen Ärztekollegs (CMR), Daniel Coriu, der DW zufolge am Dienstag. Bereits in der vergangenen Woche hatte das Ärztekolleg demnach unter dem Titel „Verzweiflungsschrei“ einen offenen Brief verfasst und die katastrophale Situation im Gesundheitswesen beschrieben.
Die Corona-Lage in Rumänien:
- Die Sieben-Tage-Inzidenz von rund 540 gehört EU-weit zu den höchsten. Am Mittwoch wurden fast 17.160 Neuinfektionen gemeldet. Zum Vergleich: In Deutschland liegt die Inzidenz nun bei rund 85.
- Allein am Mittwoch gab es 574 Covid-19-Tote binnen 24 Stunden – mehr als in der gesamten EU im selben Zeitraum. Das Bukarester Universitätsklinikum hattes deswegen zeitweise sogar im Kühlraum der Leichenhalle keinen Platz mehr. Insgesamt starben bisher (Stand Mittwoch) 43.039 Menschen an Covid-19.
- Die Sterberate durch das Coronavirus sei in Rumänien weltweit am höchsten: 19,01 pro eine Million Einwohner, errechnete das Portal „ourworldindata.org“.
- Im gesamten Land gibt es der Nachrichtenagentur dpa zufolge nur 1668 Intensivbetten. Derzeit werden demnach aber bereits rund 1800 Covid-19-Patienten intensivmedizinisch behandelt – zum Teil auf Klinikfluren, in Containern, Zelten und Krankenwagen.
- 30 schwer kranke Rumänen wurden bereits ins Nachbarland Ungarn geschickt. Auch Österreich nimmt Patienten aus Rumänien auf. Das Nachbarland Moldau, noch deutlich ärmer als Rumänien, schickte Ärzte und medizinisches Personal zur Unterstützung über die Grenze. Auf Bitte der Regierung in Bukarest werden nun aus anderen EU-Ländern Intensivbetten, Beatmungsgeräte und Medikamente geliefert.
Die Ärztin Victoria Arama nannte die Lage in Bukarest „apokalyptisch“: Covid-19-Patienten würden im Hof warten, um überhaupt einen Platz in der Notaufnahme zu bekommen. Die Sauerstoffgeräte seien knapp, weshalb Patienten sich zum Teil schubsten, um an Sauerstoff zu gelangen, sagte die Ärztin einem Bericht der Nachrichtenagentur dpa zufolge.
Und die Internistin Petruța Filip berichtet der ARD, sie habe im Universitätsklinikum Bukarest schon lange nicht mehr so viel Tod gesehen. Eigentlich habe sie noch nie so viel Tod gesehen. Bestatter Sebastian Cocos aus Ploiești sagte der Nachrichtenagentur Reuters, es sei aktuell nicht leicht, für die vielen Beerdigungen Särge bereitzustellen. „Wir hatten hier Familien, die haben in zwei Wochen vier Leute begraben müssen.“
Dass es so weit kommen konnte, hat nach Meinung von Experten vor allem einen Grund: die niedrige Impfquote. Nur rund 35 Prozent der 19 Millionen Menschen im Land haben den vollen Impfschutz – das ist deutlich weniger als die Hälfte des EU-Durchschnitts. Sechs von zehn Rumänen lehnen einer Anfang Oktober veröffentlichten Umfrage zufolge die Impfung ab.
Die große Impfskepsis in Rumänien hat mehrere Gründe. Zum einen liegt sie an nationalistischen Politikern. Zum anderen spielt auch die Rumänisch-Orthodoxen Kirche (BOR) eine große Rolle.
Vergangene Woche sprach sich der DW zufolge beispielsweise der Erzbischof der südostrumänischen Diözese Tomis, Petrescu Teodosie, gegen Impfungen aus. Sie seien unsicher, auch die EU würde die Impfungen inzwischen stoppen. Ermittlungen gegen Impfgegner und solche Falschaussagen gab es bisher nur in wenigen Fällen. Besonders in ländlichen Gebieten hat die BOR enorm viel Einfluss.
Zudem wird Verschwörungstheoretikern besonders in den zahlreichen privaten Fernsehsendern viel Raum gegeben. In sozialen Netzwerken Rumäniens kursieren unzählige Fake News über Impfstoffe und Impfprogramme.
Über ein sehr anschauliches Beispiel berichtet die DW. Demnach sorgte vor kurzem eine Audio-Aufzeichnung aus einer Schulstunde in der nordrumänischen Stadt Botosani für Schlagzeilen. Kritische Schüler hatten den Mitschnitt heimlich angefertigt. Eine Lehrerin sprach davon, dass man durch die Impfung zum „Zombie“ werde und beschuldigte die Krankenhäuser einer organisierten Massenvernichtung „wie in Auschwitz“.
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Kritiker werfen auch der Regierung vor, zu zögerlich und inkonsequent gewesen zu sein. Die Impfaufrufe seien nicht eindringlich genug gewesen, so wie es auch der Arzt in dem Videoclip moniert. Impfgegner und Corona-Leugner konnten bisher quasi unkontrolliert demonstrieren. Zudem wurde die Maskenpflicht kaum durchgesetzt, Impfnachweise oder Tests selten kontrolliert und Auflagen für Veranstaltungen ignoriert.
So hielt die Partei PNL der dpa zufolge in Anwesenheit von Staatschef Iohannis einen Parteitag mit 5000 Delegierten ab. Die Polizei verhängte später gegen die PNL ein Bußgeld wegen Verletzung der Abstandsregeln und Maskenpflicht.
Erst Anfang des Monats, die vierte Welle hatte bereits volle Fahrt aufgenommen, erließ Bukarest wieder neue Beschränkungen wie eine erweiterte Maskenpflicht, Ausgangssperren und Einschränkungen für Massenveranstaltungen.
Und mitten in der Corona-Krise gibt es eine weitere. Am Mittwoch misslang der Versuch, eine neue Regierung zu bilden. Der Vorsitzende der kleinen öko-liberalen Partei USR, Dacian Ciolos, hatte bei einer Abstimmung im Parlament keine Chance auf eine Mehrheit, weil kein Koalitionspartner zur Verfügung stand.
Nun muss der seit 2014 amtierende Staatspräsident Iohannis dem Parlament einen neuen Vorschlag für den Posten des Ministerpräsidenten machen. Sollte auch dieser scheitern, könnte es Neuwahlen geben.
Derzeit regiert der gestürzte Premier Citu von der bürgerlichen PNL Rumänien kommissarisch mit eingeschränkten Befugnissen. Am Donnerstag schlug Iohannis den 54 Jahre Verteidigungsminister Nicolae Ciuca vor. Unklar war zunächst, welche Parteien Ciuca im Parlament unterstützen würden. Mitten in der vierten Corona-Welle droht dem Land also politische Instabilität.
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Präsident Iohannis, wegen seiner Verdienste um „Einigkeit, gegenseitige Anerkennung und Versöhnung in Europa“ und als „Streiter für die europäischen Werte“ gerade in Aachen mit dem Internationalen Karlspreis ausgezeichnet, reagierte am Dienstag.
In einer Rede an die Rumänen machte er den verbreiteten Impfskeptizismus, aber auch den „Mangel an konkreten Aktionen der Behörden“ für die Lage verantwortlich und appellierte an die Bevölkerung, sich impfen zu lassen. Der 62-Jährige, der sich selbst als „ethnischer Deutscher und rumänischer Staatsbürger“ bezeichnet, sagte, es sei ein „nationales Drama furchtbaren Ausmaßes“.
Und es gibt wenig Hoffnung, dass sich die Corona-Lage schnell bessert. Man sei noch längst nicht auf dem Höhepunkt der vierten Welle angekommen, sagte Gesundheitsminister Attila Cseke am Dienstag im öffentlich-rechtlichen Fernsehen TVR. Nicht einmal ein Abflachen der Infektionszahlen auf hohem Niveau sei derzeit in Sicht.