Schweden in der Corona-Zange: 6000 Tote – viele Neuinfektionen – hohe Positivrate
Der Herbst ist da in Schweden. Und die zweite Welle auch. Premier Löfven warnt: „Immer mehr sind infiziert. Mehr Menschen sterben. Die Situation ist ernst.“
Schlechte Nachrichten aus dem Norden Europas: In Schweden ist die Marke von 6000 Toten in Zusammenhang mit dem Coronavirus überschritten worden. Am Freitag meldete die Gesundheitsbehörde FHM 20 neue Todesfälle, die Gesamtzahl stieg damit auf 6022.
Und nicht nur das: Nach Angaben der FHM ist die Zahl der Neuinfektionen in den vergangenen Wochen rasant angestiegen. Am Freitag wurden in dem Land mit seinen rund 10,2 Millionen Einwohnern 4697 neue positive Tests registriert, insgesamt gibt es jetzt 146.461 bestätigte Infektionen.
Zwar ist die Zahl der Tests in Schweden deutlich ausgeweitet worden, zuletzt waren es binnen einer Woche 189.000, aber: Fast zehn Prozent der getesteten Menschen waren in der vergangenen Woche positiv. Vor zwei Wochen waren es den Angaben zufolge noch 5,6 Prozent. Zum Vergleich: Für Deutschland meldete das Robert Koch-Institut (RKI) am Mittwoch für die Woche ab dem 26. Oktober 7,3 Prozent – nach 5,5 Prozent in der Vorwoche.
Die FHM schreibt in ihrem aktuellen Wochenbericht, die Mehrheit der Infizierten habe seit Ende Juni – als die Tests ausgeweitet wurden – keiner Krankenhausbehandlung bedurft. „In den vergangenen Wochen aber ist die Zahl der Covid-19-Patienten in den Kliniken und auf den Intensivstationen in vielen Regionen gestiegen“, schreibt die FHM. Im gesamten Land werden demnach aktuell 92 Menschen intensivmedizinisch behandelt.
Inzwischen ist sogar der sozialdemokratische Ministerpräsident Stefan Löfven persönlich, wenn auch nicht direkt vom Virus betroffen. Löfven teilte am Donnerstag auf Facebook mit, dass er und seine Frau sich freiwillig in Quarantäne begeben haben. Jemand aus seinem Umkreis war in Kontakt mit einer Person, die positiv auf Corona getestet wurde. „Die Entwicklung geht schnell in die falsche Richtung“, schrieb Löfven zur Lage im Land. „Immer mehr sind infiziert. Mehr Menschen sterben. Die Situation ist ernst.“
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Bezogen auf die Einwohnerzahl ist die Todesrate in Schweden deutlich höher als in den Nachbarländern, aber niedriger als beispielsweise in Großbritannien oder Spanien.
Covid-19-Tote/Infektionen pro eine Million Einwohner (Quelle Johns-Hopkins-Universität):
- Schweden 589/13.525
- Dänemark 126/8804
- Norwegen 53/4249
- Finnland 65/3068
- Deutschland 132/7339
- Belgien 1080/40.992
- Niederlande 450/22.641
- Großbritannien 719/16.579
- Frankreich 578/23.753
- Spanien 816/27.489
- Italien 658/13.079
- USA 714/28.993
Bereits zuvor hatte der Staatsepidemiologe Anders Tegnell von der Gesundheitsbehörde FHM, der für die rot-grüne Minderheitsregierung von Löfven in der Pandemie den Kurs vorgibt, gewarnt: „Auch in Schweden verschlechtert sich die Lage.“ Die steigenden Zahlen ließen sich teils auf eine ausgeweitete Infektionsverfolgung und vermehrte Tests zurückführen, sagte Tegnell.
Tegnell: „Es wird wohl noch schwieriger“
Aber es gebe auch eindeutig eine zunehmende Ausbreitung der Infektionen. Tegnell machte klar: „Es ist ein schwieriger Herbst – und es wird wohl noch schwieriger, bevor das hier vorbei ist.“
Tegnell ist für seinen Kurs immer wieder heftig kritisiert worden. Unter anderem wird ihm vorgeworfen, das Ziel in Schweden sei gewesen, schnell die – unter Experten sehr umstrittene – Herdenimmunität zu erreichen. Damit habe er bewusst das Leben vieler Menschen riskiert, so der Vorwurf.
Streit über Herdenimmunität in Schweden
Tegnell und die FHM betonen dagegen immer wieder, dies sei niemals die schwedische Strategie gewesen. Es habe auch nie den vielfach beschriebenen „schwedischen Sonderweg“ gegeben. Vielmehr sei es wie in allen anderen Ländern auch darum gegangen, die Kurve der Infektionsfälle flach zu halten, um das Gesundheitssystem nicht zu überlasten. Angesichts des hohen Infektionsgeschehens im Land wird das von seinen Kritikern massiv angezweifelt.
Fragen in punkto Herdenimmunität werfen unter anderem publik gewordene Mails von Tegnell auf. Und auch in einem Buch, aus dem die Zeitung „Svenska Dagbladet“ am Freitag vorab Auszüge druckte, geht es um die Mails, es wird dargestellt, dass die Herdenimmunität sehr wohl wichtiger Teil der Strategie der FHM gewesen sei.
Fakt ist aber auch erstens: In Schweden lief das Leben nicht normal weiter, es gab Maßnahmen, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen. So wurden und werden die Bürger zum allgemeinen Abstandhalten ermahnt, Großveranstaltungen und Versammlungen mit mehr als 50 Teilnehmern untersagt. Besuche in Heimen waren seit Anfang April bis Anfang Oktober monatelang verboten. Dies wurde offiziell aufgehoben, entschieden wird nun auf lokaler Ebene.
Landesweiter Lockdown für Tegnell kein Thema
Fakt ist aber auch zweitens: Die Beschränkungen für die Schweden in der Pandemie waren bisher deutlich geringer als in den meisten anderen Ländern. Einen Lockdown für das gesamte Land schloss Tegnell mehrfach kategorisch aus. Schweden benötige eine Strategie, die langfristig durchzuhalten sei. Erst als die Infektionszahlen nach dem Sommer deutlich anstiegen, erklärte er, regionale Einschränkungen für einen kurzen Zeitraum seien denkbar.
[Alle aktuellen Entwicklungen in Folge der Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog. Über die Entwicklungen speziell in Berlin halten wir Sie an dieser Stelle auf dem Laufenden.]
Insgesamt wurde nicht mit strikten Verboten auf die Eindämmung des Coronavirus hingearbeitet, sondern mit Empfehlungen, Ratschlägen und Appellen an die Vernunft der Bürger. Die Menschen sollten bei Krankheitssymptomen nicht zur Arbeit gehen und wenn möglich generell im Homeoffice arbeiten. Geschäfte, Restaurants und Schulen blieben durchweg offen, eine Empfehlung an Über-70-Jährige zur Vermeidung von Kontakten wurde vor kurzem sogar zurückgenommen.
Untersuchungsbericht Ende des Monats erwartet
Und dies, obwohl das Schicksal der Älteren in der Pandemie für Tegnell ein wunder Punkt ist: Mehrfach hat der 64-Jährige zugegeben, dass dieser Teil der Strategie – ältere Menschen besonders zu schützen – gescheitert sei. Etwa 70 Prozent aller Covid-19-Todesfälle gab es in Pflegeeinrichtungen für Senioren. Die Regierung hat eine Untersuchungskommission eingesetzt, die dies aufarbeiten soll. Deren erster Teilbericht zu diesem Thema soll Ende des Monats vorliegen.
Die meisten Bürger in Schweden hielten sich an die Empfehlungen von Gesundheitsbehörde und Regierung. Und so sah es im Sommer so aus, als ob Schweden im Kampf gegen das Virus auf einem guten Weg sei. Die Kurve der Neuinfektionen sank drastisch, es gab nur noch wenige Covid-19-Tote.
„Man hat angefangen, zu locker zu werden“
Doch nach den Sommerferien kehrte sich dieser Trend wieder um. Und eben nicht alle beherzigen die Appelle, wie zuletzt etwa Aufnahmen von dichtem Gedränge in einer hippen Diskothek in Stockholm zeigten. „Auf enge Partys zu gehen, die riskieren, die Ausbreitung der Infektionen zu erhöhen: Nein, das ist nicht klug“, sagte Ministerpräsident Löfven dazu der Zeitung „Aftonbladet“. Inzwischen sind in Nachtclubs nur noch 50 Gäste zugelassen.
Anfang Oktober sagte der Gesundheitsdirektor der Region Stockholm, Björn Erikson, die steigenden Infektionszahlen deuteten darauf hin, dass „zu viele aufgehört haben, den Empfehlungen der FHM zu folgen. Man hat angefangen, zu locker zu werden“.
Inzwischen verschärfen die Verantwortlichen den Kurs. In zehn Regionen sind die Menschen derzeit aufgefordert, so wenig sozialen Kontakt wie möglich zu haben und Einkaufszentren, Museen, Konzerte sowie den öffentlichen Nahverkehr zu meiden. Zu den neuen Maßnahmen gehören Einschränkungen in Restaurants und Cafés. Dort dürfen dann maximal acht Personen an jedem Tisch sitzen.
Stockholm besonders von Corona-Pandemie betroffen
Tegnell warnt aber weiter entschieden vor landesweiten Restriktionen. „Die Leute können sich an so strenge Anweisungen nur eine begrenzte Zeit lang halten und das Timing ist entscheidend“, mahnt er. „Wir dürfen nicht zu früh anfangen und auch nicht zu lange warten.“
Besonders von Pandemie betroffen war und ist die Region Stockholm, wo rund eine Million Menschen leben. Stockholm ist die größte Stadt und eigentlich einzige echte Metropole des Landes. Hier werden bisher mehr als 40 Prozent aller Covid-19-Todesfälle verzeichnet. Drei Wissenschaftler aus den USA und Dänemark kommen in einem Thesenpapier zu dem Schluss, auch der engmaschige und viel genutzte öffentliche Nahverkehr könne die starke Ausbreitung des Virus in der Hauptstadt befeuert haben.
Kritiker in Schweden wie das Wissenschaftsforum Covid 19, dem inzwischen mehr als 40 Forscher angehören, werfen Tegnell auch in diesem Zusammenhang immer wieder vor, für das Land nach wie vor keine Empfehlung für eine generelle Maskenpflicht auszusprechen. Deren Nutzen sei wissenschaftlich nicht belegt, lautet nach wie Tegnells Argument.