Impflücken größer als angenommen: 166.000 Zweijährige ohne verlässlichen Masernschutz
Die Barmer Krankenkasse warnt vor unterschätzten Impflücken. Ihrer Hochrechnung zufolge ist jedes fünfte Kleinkind nicht verlässlich vor Masern geschützt.
Die Impflücken in Deutschland sind nach einer aktuellen Studie deutlich größer als bisher angenommen. So war im Jahr 2017 mehr als jedes fünfte Kleinkind in den ersten beiden Lebensjahren nicht oder nur unvollständig gegen Masern geimpft. Das entspricht etwa 166 000 Zweijährigen.
Bei den Röteln das gleiche Problem: Jede fünfte Zweijährige hatte zu diesem Zeitpunkt keinen vollständigen Impfschutz, hochgerechnet waren das knapp 81.000 Mädchen. Und 3,3 Prozent der 2015 geborenen Kinder hatten in den ersten beiden Jahren gar keine der 13 Impfungen, die von der Ständigen Impfkommission (Stiko) empfohlen werden. Knapp 26.000 Mädchen und Jungen waren folglich komplett ungeimpft.
Studienautor: Robert-Koch-Institut überschätzt bestehenden Masernschutz
Die Zahlen stammen aus dem Arzneimittelreport der Barmer Krankenkasse, die Hochrechnung wurde am Donnerstag in Berlin präsentiert. Bisher war lediglich bekannt, dass im Erhebungsjahr 2017 knappe sieben Prozent der Schulanfänger nicht komplett, also zweimal, gegen Masern geimpft waren.
Die vom Robert Koch-Institut (RKI) publizierte Impfquote auf der Basis von Schuleingangsuntersuchungen überschätze die vollständige Immunisierung gegen Masern deutlich, resümierte Studienautor Daniel Grandt, Chefarzt am Klinikum Saarbrücken. Der Anteil der Kinder, die in ihren ersten beiden Lebensjahren vollständig gegen Masern geimpft seien, betrage bei den im Jahr 2015 Geborenen 78,9 Prozent.
Und selbst von den Sechsjährigen seien nur 88,8 Prozent vollständig gegen Masern immunisiert gewesen. Dabei sind die Impfquoten bei Kindern je nach Region höchst unterschiedlich. Dem Report zufolge reichten die Immunisierungsraten von 79,7 Prozent in Sachsen bis zu 86,4 Prozent in Baden-Württemberg und 91,0 Prozent in Schleswig-Holstein.
Große Impflücken auch bei älteren Kindern
Allerdings bestehen nicht nur bei den Kleinsten drastische Impflücken, sondern auch bei älteren Kindern. So wurde 2017 bei keiner einzigen der 13 wichtigsten Infektionskrankheiten im einschulungsfähigen Alter ein Durchimpfungsgrad von 90 Prozent erreicht. Um auf eine sogenannte Herdenimmunität zu kommen, die auch nicht geimpften Personen Schutz bietet, wäre eine Rate von mindestens 95 Prozent nötig.
Trotz steigender Impfquoten würden in Deutschland immer noch zu wenige Kinder geimpft, sagte Barmer-Vorstandschef Christoph Straub. „Das mache die Ausrottung bestimmter Infektionskrankheiten unmöglich und verhindere den Schutz für all diejenigen, die nicht geimpft werden können. Der Kassenfunktionär forderte deshalb zweierlei. „Zielgruppenspezifische Impfkampagnen, um die Skepsis und mögliche Ängste vor Impfungen abzubauen“. Und „strukturierte Fortbildungsprogramme für Ärzte“, um die Auseinandersetzung mit Impfskeptikern zu trainieren.
Kinder ohne Impfpass bisher nicht berücksichtigt
Doch warum wurden die Zahlen bisher deutlich niedriger geschätzt? Bei den Schuleingangsuntersuchungen würden die Impfquoten nur anhand der vorgelegten Impfpässe ermittelt, sagte Studienautor Grandt. Dabei werde der Impfstatus von Kindern, die keinen Impfpass vorlegen, nicht berücksichtigt. Das führe dann zu höheren, unrealistischen Impfquoten, denn nicht geimpfte Kinder besäßen natürlich auch keinen Impfpass.
Man habe darauf aufmerksam gemacht, die angegebenen Impfquoten möglicherweise etwas zu hoch seien, hieß es am Donnerstag seitens des Robert-Koch-Instituts. Würde man alle Kinder ohne Impfpass als ungeimpft ansehen, ergäbe sich mit Blick auf den Masernschutz am Schulanfang nur eine Impfquote von nur 81,4 Prozent. Die Barmer-Daten mit 88,8 Prozent lägen zwischen dieser ungünstigsten Annahme und der günstigsten von fast 93 Prozent. Allerdings, so die Bundesbehörde weiter, seien durch die neue Studie auch nur rund elf Prozent der gesetzlich Versicherten in Deutschland abgebildet. Es bleibe offen, wie repräsentativ dieses Versichertenklientel für Deutschland sei.
Nach der Einschulung praktisch keine Impfungen mehr
„Durch Masernimpfungen konnten allein seit der Jahrtausendwende rund 21 Millionen Todesfälle weltweit verhindert werden“ erinnerte Straub. Masern- und Rötelnerkrankungen seien „kein unvermeidbares Lebensrisiko, sondern ein Versagen der Gesundheitsvorsorge“. Doch nicht diese Krankheiten sind ein Problem. Auch gegen Mumps waren 2017 nur 88,7 Prozent der Sechsjährigen geimpft.
Obwohl die Stiko Nachimpfungen bis zum 17. Lebensjahr vorsieht, erfolgten nach der Einschulung mit der Ausnahme von Sachsen, wo dies durch den landesspezifischen Impfkalender erklärt wird, praktisch keine Impfungen mehr, heißt es in der Studie. Dies sei auch deshalb „äußerst bedenklich“, sagte Straub, weil die Kinder und Jugendlichen dann ihre Impflücken auch im Erwachsenenalter behielten würden und beim Auftreten eines Erkrankungsfalls das Risiko regionaler Epidemien steige.
Gesundheitsminister: Impfen muss Alltag für alle werden
Gesundheitsminister Jens Spahn indessen lässt sich durch die neue Studie nicht kirre machen. "Egal, wie man es rechnet," twitterte der CDU-Politiker: "Es bleibt dabei: Zu viele Kinder in Deutschland sind unnötig gefährdet, denn zu wenige Kinder sind gegen Masern geimpft. Daher werden wir eine Impfpflicht einführen. Impfen muss Alltag für alle werden. Denn Impfen rettet Leben."