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In Sichtweite. 2030 enden rund 60 Prozent der Kohleverstromung. Dann könnte es eng werden mit der Stromversorgung, meint der Gewerkschaftschef.
© dpa

Industriegewerkschafter Vassiliadis im Interview: „Wir leben davon, dass die Welt unsere Produkte kauft“

Michael Vassiliadis, Chef der Gewerkschaft IG BCE, über die Transformation der Industrie, Gefahren für den Wohlstand und eine Frau an der DGB-Spitze.

Herr Vassiliadis, welchen Wahlsieger erwarten Sie auf dem IG-BCE-Kongress Ende Oktober in Hannover?

Schaun mer mal. Armin Laschet und Olaf Scholz haben sich bereits angekündigt…

Und Annalena Baerbock?
... hat noch nicht zugesagt.

Seit 40 Jahren sind Sie Mitglied der SPD; wie erklären Sie sich die Wiederauferstehung der Partei in den letzten Monaten?
Die SPD hat sich richtigerweise hinter ihrem Spitzenkandidaten versammelt und profitiert von dessen Profil: Olaf Scholz steht für Erfahrung, Solidität, Angemessenheit. Das wissen viele Menschen zu schätzen. Gleichzeitig haben sich die anderen Kandidaten maximale Mühe gegeben, den Fußabdruck von Scholz als erfahrener Politiker zu stärken.

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Kann er noch verlieren?
Das wissen wir erst am Wahltag, denn der große Teil der Unentschlossenen entscheidet erst dann.

Nach der Wahl geht es richtig los. Sie sehen in diesem Jahrzehnt der Transformation das deutsche Wohlstandsmodell in Gefahr. Was ist so gefährlich?
Unser Modell basiert auf einer exportstarken Industrie – in den vergangenen 25 Jahren sogar noch mehr als in den Jahrzehnten zuvor. Wir leben davon, dass die Welt unsere Produkte kauft. Denn von der Wertschöpfung der Industrie sind hierzulande weit mehr Branchen und Arbeitsplätze abhängig als gemeinhin angenommen wird. Nehmen Sie nur den riesigen Bereich der industrienahen Dienstleistungen. Jetzt kommen wir an einen Punkt, an dem die industrielle Transformation Fahrt aufnimmt und gleichzeitig handelspolitische Konflikte, etwa China betreffend, aufflackern.

Was folgt daraus?
In der Analyse dessen, was vor uns liegt – etwa den Klimaschutz betreffend – sind wir uns heute weitgehend einig. Es kommt jetzt auf das Machen an, um eine Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft in Richtung Klimaneutralität erfolgreich umzusetzen. Angesichts der Größe der Aufgabe dürfen wir keine Zeit mehr verlieren. Und wir müssen darauf achten, dass es dabei sozial gerecht zugeht. Das alles wird extrem anspruchsvoll, teuer und riskant. Wenn wir die Transformation vergeigen, steht das gesamte Wohlstandsmodell in Frage.

Damit es gerecht zugeht, soll Klimageld verteilt werden: Was über die CO2-Bepreisung reinkommt, geht wieder raus für die Bürgerinnen und Bürger.
Das wird nicht reichen. Die Gesellschaft läuft seit langem auseinander, und wir müssen viel fundamentaler debattieren, was wir mit Gerechtigkeit meinen und wie wir dahin kommen. Wie ist das Steuersystem aufgestellt? Wie funktioniert die Verteilungspolitik? Wollen wir uns mit einem gespaltenen Arbeitsmarkt und Millionen prekär Beschäftigter abfinden?

Michael Vassiliadis führt die IG Bergbau, Chemie, Energie mit 600 000 Mitgliedern seit 2009. Auf dem Gewerkschaftskongress Ende Oktober in Hannover steht seine Wiederwahl an.
Michael Vassiliadis führt die IG Bergbau, Chemie, Energie mit 600 000 Mitgliedern seit 2009. Auf dem Gewerkschaftskongress Ende Oktober in Hannover steht seine Wiederwahl an.
© dpa

Für diese Beschäftigten fordern SPD und Grüne die Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro, die Linken auf 13 Euro.
Wenn wir den Klimaschutz ernstnehmen und die Preiseffekte zum Beispiel beim Benzin und bei der Nahrung spürbar werden, wird der Mindestlohn kaum reichen, die finanzielle Belastung für die Menschen tragbar zu machen. Hier muss neben mehr guten tariflichen Löhnen noch mehr passieren. Die Diskussion darüber geht noch nicht tief genug. Wer in der Politik große Ziele für große Probleme formuliert, darf sich nicht klein machen, wenn es um die politischen Instrumente und die Finanzierung der Zukunftsgestaltung geht.

Die politische Führung ist überfordert?
Leadership bedeutet, Ziele, Maßnahmen und Prioritäten zu definieren und diese Politik in der Diskussion mit der Zivilgesellschaft, mit Wirtschaft, Gewerkschaften und Umweltverbänden zur Umsetzung zu bringen. Da kann man noch viel mehr machen, denn die Lücken zwischen Wahlkampfrhetorik und Wirklichkeit sind groß. Nehmen Sie das Grün regierte Baden-Württemberg: Da laufen die Kohlekraftwerke auf Hochtouren, weil sie im Schneckentempo Windanlagen bauen und keine Leitungen dorthin führen. Inzwischen dürfte bei jeder und jedem angekommen sein, dass wir riesige Mengen grünen Stroms und eine bezahlbare Wasserstoffwirtschaft brauchen werden, um unsere Produktionsprozesse umzustellen. Wie die Politik das in der kurzen Zeit möglich machen will, wird die Gretchenfrage der nächsten Regierung.

Wasserstoff nur für die Industrie oder auch den Verkehr?
In der Mobilität werden wir in den nächsten 20 Jahren erst einmal mit Strom unterwegs sein – was danach kommt, ist offen. In den energieintensiven Industriebranchen allerdings entstehen oft gewaltige Energiebedarfe an einem Ort, wo dann ziemlich effizient Wasserstoff eingesetzt werden kann. Es gibt Chemiestandorte, die stehen allein für mehr als ein Prozent des gesamten deutschen Stromverbrauchs. Oder nehmen Sie die Stahlindustrie: Ich habe gerade erst eine Eisenerzmine in Schweden besucht, die auf Erneuerbare umgestellt wird. Die fragen ganz offen: Warum sollen wir das Erz eigentlich nach Salzgitter oder Duisburg transportieren? Wäre es nicht viel energieeffizienter, wenn die Hütten zu uns kämen?

Was meinen Sie?
Wir werden eine Veränderung in der internationalen Arbeitsteilung bekommen und neue Wertschöpfungs- und Lieferketten. Schließlich wird das alles sehr, sehr teuer. Dafür muss sich unser Standort rüsten. Wir brauchen eine Priorisierung: Was defossilisieren wir wann und wie? Chemie, Papier, Stahl, Zement – die Liste ist lang. Diesen Entscheidungsprozess zu moderieren, wäre eine Aufgabe für den nächsten Kanzler oder die Kanzlerin.

Die nächste Regierung soll festlegen, welche Industrien wir in zehn Jahren haben?
Natürlich nicht. Ich möchte, dass wir alle in Europa haben. Es geht auch nicht um Planwirtschaft, es geht um einen breiten und technisch fundierten Diskussionsprozess, der bislang zu wenig stattfindet. Und um verlässliche Rahmenbedingungen für öffentliche und private Investitionen in bestimmten Technologiefeldern.

120 Milliarden für die Transformation

Sie hätten gerne einen Transformationsfonds, gefüllt mit 120 Milliarden Euro Steuergeld. Was soll damit passieren?
Zum Beispiel Wasserstoffprojekte anschieben, die ja heute weit davon entfernt sind, sich betriebswirtschaftlich zu rechnen. Oder eine Ladesäulen-Infrastruktur. Grundsätzlich muss die Investition von den Unternehmen kommen, aber der Fonds kann sich beteiligen und Dinge auf den Weg bringen. Öffentliches Geld gibt es also nur dann, wenn Investitionen hierzulande unterstützt werden. Man muss durch die verschiedenen Investitionsfelder und Branchen gehen. Wir brauchen eine Art Mega-PPP, also ein Public-Private-Partnership in bislang ungekanntem Ausmaß.

Kommen wir je von den hohen Strompreisen runter, unter denen die Industrie und vor allem der Mittelstand leiden?
Lange Zeit war in der Politik das Problembewusstsein für hohe Energiepreise unterentwickelt. Das liegt auch daran, dass gerade die Grünen über die Verteuerung Energieeinsparungen erreichen wollten. Das war ein Ziel der ersten rot-grünen Regierung. Das ist völlig aus dem Ruder gelaufen. Viele Firmen bewegen sich heute nur wenig oberhalb der Wasserlinie. Wenn der Preis nun weiter steigt, saufen die ab. Für sie geht es gar nicht um Transformation und Innovation, sondern vorrangig um die Bewältigung dieser Kosten. Das geht so nicht weiter.

Aufgrund der riesigen Nachfrage dürfte der Strom generell noch teurer werden.
Wir hatten früher eine Überversorgung mit Energie. Das ist vorbei. In einem Jahr steigen wir aus der Atomenergie aus. Bis 2030 werden – das wird im Wahlkampf von einigen gern ausgeblendet – rund 60 Prozent der Kohleverstromung weggefallen sein. Es wird auf der Versorgungsseite eng. Gleichzeitig soll der schärfste Strukturwandel überhaupt gelingen.

"Gewerkschaften können Krisenbewältigung"

Wie gut sind die Industriegewerkschaften auf den Wandel eingestellt?
In der IG BCE haben wir Erfahrungen mit tiefgreifenden Veränderungen – etwa beim Ende des Steinkohlenbergbaus oder jetzt dem Ausstieg aus der Braunkohle. In beiden Fällen haben wir durchgesetzt, dass die Transformation ohne betriebsbedingte Kündigungen und mit neuen Job- Chancen bewältigt wurde und wird. Wir Gewerkschaften machen einen guten Job in der Krisenbewältigung, zuletzt in der Pandemie. Das können wir. Aber auch wir müssen stärker nach vorne schauen, unsere Zukunftsvision für das Jahrzehnt der Transformation formulieren.

Haben Sie eine Vision?
Innovationen verknüpfen mit guter, qualitativer Arbeit und Mitbestimmung als Transformationstreiber. Wir müssen auch die Digitalisierung stärker nutzen. Die ökologische Transformation führt zwangsläufig zur stärkeren Politisierung der Ökonomie – und das ist genau unsere Spezialität. Dazu brauchen wir Kooperationen und Allianzen auch mit Umweltverbänden und anderen relevanten Gruppen in der Zivilgesellschaft, weil es am Ende immer auch um soziale Fragen geht. Um Bildung und Teilhabe, Gesundheit und Rente. Gleichzeitig müssen die Gewerkschaften effizienter, schneller, digitaler werden.

Der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann geht im Mai kommenden Jahres in Rente. Mit fast 67 Jahren natürlich abschlagsfrei.
Der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann geht im Mai kommenden Jahres in Rente. Mit fast 67 Jahren natürlich abschlagsfrei.
© dpa

Auch der Dachverband DGB?
Die Einzelgewerkschaften müssen die Frage neu aufrufen, welche Kompetenzen wir im Dachverband brauchen, damit er sprach- und anschlussfähig ist – als ein gesellschaftlicher Akteur, der Allianzen schmiedet. Es gibt einerseits die zunehmende Spezialisierung in Berufen und damit auch in den Einzelgewerkschaften und zum anderen die breit gefassten Themen in der globalen Wirtschaft. Beides lässt sich gut verbinden mit einem starken DGB, den die DGB-Mitgliedsgewerkschaften aber wollen müssen.

Sie sind der dienstälteste Vorsitzende einer DGB-Gewerkschaft und suchen deshalb derzeit einen Nachfolger für DGB-Chef Reiner Hoffmann, der im Mai in Rente geht. Gibt es erstmals eine Vorsitzende?
Wichtig sind Erfahrung, Autorität und das Verständnis von Transformation in ihrer ganzen Breite – egal ob Frau oder Mann.

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