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Frank Bsirske, 1952 in Helmstedt geboren, führte von 2001 bis 2019 die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. Die niedersächsischen Grünen haben ihn für den Bundestag nominiert.
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Ex-Verdi-Chef Bsirske im Interview: „Laschet und Lindner verscheißern die Leute“

Ex-Verdi-Chef Frank Bsirske will für die Grünen in den Bundestag. Er kritisiert Steuersenkungsversprechen als Heuchelei und plädiert für massiven Klimaschutz.

Herr Bsirske, wie läuft der Wahlkampf in der niedersächsischen Provinz?
Ich erlebe viele Menschen als sehr zugewandt, es gibt die Bereitschaft sich zu informieren und Flyer mitzunehmen.

Die Leute erkennen Sie noch?
Das schönste Erlebnis war auf einem Marktplatz, als eine ältere Frau erzählte, dass sie mich aus Helmstedt kennt, wo ich aufgewachsen bin. Alles in allem erlebe ich eine große Offenheit auch beim Haustürwahlkampf.

Sie laufen von Tür und Tür und klingeln?
Ja. Die Leute wundern sich, wer da plötzlich steht, und reagieren ganz überwiegend freundlich und interessiert. Wir Grünen erleben eine Stimmungslage, wie es sie so noch nicht gegeben hat für unsere Themen. Das macht Spaß und gibt Rückenwind.

Warum geht ein bald 70-jähriger Altgewerkschafter Klinken putzen?
Ich bin voller Energie und möchte meine Erfahrung, mein Wissen und meine Netzwerke in den Dienst notwendiger Veränderungsprozesse stellen. Wir sind die erste Generation, die den Klimawandel zu spüren bekommt, und wir sind die letzte, die ihn noch verlangsamen kann. Ich finde, da muss man in die Verantwortung gehen. Die meisten Menschen, die ich in diesen Wochen treffe, finden das auch gut.

Selbst in der Autostadt Wolfsburg?
Bei VW ist viel in Bewegung gekommen. Management und Arbeitnehmer haben die Notwendigkeit von klimaneutralen Fahrzeugen erkannt. Dazu gehört die Erkenntnis, dass Veränderungen die Arbeitsplätze sichern. VW möchte ja von der Batteriezelle bis zum Recycling die komplette Wertschöpfung für das Elektroauto im eigenen Konzern haben. Veränderung wird dabei zu Recht als Chance zur Zukunftssicherung verstanden.

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Trotzdem macht die Mobilitätswende vielen Arbeitnehmern Angst.
Ja, die Sorge, was wird, wenn Qualifikationen plötzlich nicht mehr gebraucht werden, gibt es. Bei einer großen Umfrage der IG Metall haben 90 Prozent von den rund 200 000 Teilnehmenden das Thema Qualifizierung ganz nach oben gestellt. Das zeigt: Es gibt ein Bewusstsein für Veränderung, die ohne Qualifizierung nicht gelingen kann. Und es geht um die Frage, wie die soziale Transformation gelingen kann. Bei der Antwort sind die Grünen am konkretesten.

Die Unbekümmertheit sei zurück, meint Parteifreund Bsirske über die Kanzlerkandidatin der Grünen, Annalena Baerbock.
Die Unbekümmertheit sei zurück, meint Parteifreund Bsirske über die Kanzlerkandidatin der Grünen, Annalena Baerbock.
© dpa

Das hat aber nicht viel gebracht in den letzten Wochen.
Es sind Fehler gemacht worden von Annalena Baerbock, die auch Momentum gekostet haben. Selbstbewusstsein, Unbefangenheit und Veränderungswille sind jetzt wieder spürbar, und ich bin überzeugt, dass wir mehr als 20 Prozent erreichen können. Ich höre derzeit von vielen, dass der Haustürwahlkampf gut läuft.

Dabei sagt man den Bürgerinnen und Bürger besser nicht zu konkret, wie teuer Autofahren, Fliegen und Heizen werden könnte.
In den kommenden 25 Jahren klimaneutral zu werden, ist eine große Veränderung, die auch Sorgen auslöst. Wie der ökologische Umbau mit einem sozialen Ausgleich verbunden werden kann, ist eine berechtigte Frage. Das betrifft den Arbeitsplatz, die eigene Qualifikation und die Belastung, die ein höherer CO2-Preis bedeutet. Da machen sich die Grünen ehrlicher als die anderen Parteien.

Inwiefern?
Mit der Einführung eines Energiegeldes, das die Belastungen ausgleicht: Was an Zusatzbelastungen durch die CO2-Bepreisung entsteht, wird mit Hilfe der Einnahmen des CO2-Preises ausgeglichen. Ferner gehören zur Transformation ein Recht auf Weiterbildung und bessere Beteiligungsmöglichkeiten für Beschäftigte und Betriebsräte. Partizipation nimmt den Menschen Ängste. Und für die Unternehmen soll es Planungssicherheit geben, indem Investitionen in die Infrastruktur verlässlich zugesagt werden, zum Beispiel in Ladepunkte für E-Autos und in Stromnetze.

Die wichtigsten Tagesspiegel-Artikel zur Bundestagswahl 2021:

Sind die Menschen bereit für die Zumutungen eines hohen CO2-Preises?
Wenn er sozial ausgeglichen wird, überwiegend ja. Aber natürlich gibt es auch die Haltung, „Macht was gegen die Klimakrise, aber so, dass ich nichts davon merke“. Deshalb ist es umso wichtiger, sich im Wahlkampf ehrlich zu machen. Stattdessen erleben wir ein bemerkenswertes Maß an Heuchelei und Selbstvergessenheit. Etwa bei der Benzinpreisdebatte, als sich Scholz und Laschet weggeduckt haben, obwohl die große Koalition die CO2-Bepreisung beschlossen hat. Und wir haben das erlebt bei der Diskussion um den Kohleausstieg. Die Ziele des Klimaschutzgesetzes der Groko sind nur erreichbar, wenn der Kohleausstieg zeitlich vorgezogen wird. Laschet und Scholz erzählen den Leuten das Gegenteil. Und in der Finanzpolitik ist das ganz ähnlich.

Er möchte den Merkel-Ähnlichkeitswettbewerb gewinnen, sagt Bsirske über Olaf Scholz.
Er möchte den Merkel-Ähnlichkeitswettbewerb gewinnen, sagt Bsirske über Olaf Scholz.
© imago images/photothek

Rot-grün will Steuern erhöhen, Schwarz- gelb verspricht Steuersenkungen.
Das Mannheimer ZEW hat sich die Steuerpläne der Parteien angeschaut. Geringverdienende mit einem Jahreseinkommen von 20 000 Euro werden bei der Union um 100 Euro im Jahr entlastet. Ein Paar mit einem Haushaltseinkommen von 300 000 Euro im Jahr dagegen um 10 000 Euro. Bei den Grünen, der SPD und der Linkspartei läuft es genau umgekehrt. Laschet erweckt den Eindruck, vor allem unten und in der Mitte entlasten zu wollen. Das ist schon dreist. Entweder er kennt sein eigenes Wahlprogramm nicht, oder er betreibt bewusst Wählertäuschung. Derweil lockt die FDP mit einer finanzpolitischen Fata Morgana.

Mit der FDP konnten Sie schon als Verdi-Vorsitzender nichts anfangen.
Die FDP will auf jährliche Steuereinnahmen von 88 Milliarden Euro verzichten, das ist fernab jeder Realität. Die Union plant Steuersenkungen von 33 Milliarden – mit der Abschaffung des Soli, Senkung der Unternehmenssteuern und besserer Absetzbarkeit von Haushaltshilfen ist das ein Programm für die Reichen. Einsparvorschläge zur Gegenfinanzierung gibt es nicht, im Gegenteil, bei der Rüstung soll zu5gelegt werden und gleichzeitig will man zurück zu Schuldenbremse und Schwarzer Null. Das passt nicht zusammen. Offenbar glauben Laschet und Lindner, sie könnten die Leute verscheißern.

Warum nutzt das Baerbock nicht?
Corona, das Hochwasser und Afghanistan haben bislang den Wahlkampf überlagert. Das wird sich ändern. Ein anderes, bislang unterbelichtetes Thema ist die Vermögensverteilung. Die reichsten 40 Haushalte haben in Deutschland genauso viel Nettovermögen wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung, also 40 Millionen Menschen. 2018 haben 20 Bürger hierzulande mehr als 100 Millionen Euro geerbt, jeweils, versteht sich, ohne auch nur einen Cent Erbschaftsteuer zu zahlen. Das ist doch nicht normal.

Dabei dürfte es sich häufig um Betriebsvermögen handeln, was bei der Größe unseres Mittelstands durchaus normal wäre.
Vermögen- oder Erbschaftsteuern sind weder Selbstzweck noch Folterinstrumente für den Mittelstand. Dafür sorgen schon hohe Freibeträge. Die Steuern sind erforderlich für einen handlungsfähigen Staat und für den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Demokratien sind stärker, wenn sie weniger ungleich sind. Diesen Zusammenhang gilt es im Wahlkampf herauszustellen.

Allein Niedersachsen zahlt die kommenden 30 Jahre 1,4 Milliarden Euro für den Wiederaufbau in den Hochwassergebieten, die am 5.9. Armin Laschet und Angela Merkel besuchten.
Allein Niedersachsen zahlt die kommenden 30 Jahre 1,4 Milliarden Euro für den Wiederaufbau in den Hochwassergebieten, die am 5.9. Armin Laschet und Angela Merkel besuchten.
© dpa

Olaf Scholz tut das und schneidet erstaunlich gut in den Umfragen ab. Wie passt das zu Ihrer Diagnose, wonach „der Markenkern der SPD nachhaltig beschädigt ist“?
Olaf Scholz setzt vor allem darauf, den Merkel-Ähnlichkeits-Wettbewerb zu gewinnen. Bislang ist diese Strategie aufgegangen. Dazu gehört aber auch, in vielen Punkten im Unbestimmten zu bleiben, zu verschleiern und zu taktieren. Das gilt für den Kohleausstieg wie für die Schuldenbremse.

[Olaf Scholz im Tagesspiegel-Interview über ein rot-rot-grünes Bündnis: „Meine Anforderungen an die Linke sind unverhandelbar“ (T+)]

Scholz gibt doch so viel Geld aus wie kein anderer Finanzminister vor ihm.
Um die Folgen der Pandemie zu bewältigen. In den nächsten Jahren geht es aber um Zukunftsinvestitionen in Bildung, Infrastruktur und sozialökonomische Transformation, um Investitionen, die den Kampf gegen den Klimawandel mit einer vorausschauenden Industriepolitik und mit sozialem Ausgleich verbinden. Das kann mit einer Politik, die zur Schuldenbremse zurück will, nicht gelingen. schon gar nicht, wenn man es nicht nutzt, dass der deutsche Staat bei Niedrig-, ja Negativzinsen später weniger zurückzahlen muss als er heute aufnimmt. Wir müssen jetzt investieren, sonst wird es für die nächsten Generationen umso teurer.

Die müssen den Schuldenberg abtragen.
Schauen wir uns die Folgen der Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen an. Allein das Land Niedersachsen muss jedes Jahr 47 Millionen Euro für die Bewältigung der Flutschäden aufbringen – und zwar 30 Jahre lang. Niedersachsen zahlt also 1,3 Milliarden Euro für ein Starkregenereignis in 2021. Daran wird deutlich, dass es viel günstiger ist, jetzt in Klimaschutz zu investieren, als in zehn Jahren unter deutlich erschwerten Bedingungen. Jede heute unterbliebene Investition ist eine Belastung für die kommende Generation.

Die Grünen werden mindestens einen Koalitionspartner brauchen. Ist die Ampel die einfachste Kombination?
Die Koalitionsverhandlungen werden anspruchsvoll. Grüne und SPD haben große Schnittmengen – aber mit der FDP? Auf 88 Milliarden Euro an Steuereinnahmen verzichten zu wollen, das appelliert an den Egoismus der Wohlhabenden und läuft auf einen sozialpolitischen Kahlschlag hinaus. Finanzpolitisch ein Desaster. Mir ist es ein Rätsel, wie man so etwas ernst meinen kann.

Die Linken geben keine Rätsel auf?
Deren Abstimmungsverhalten zu Afghanistan hat eine Zusammenarbeit nicht einfacher gemacht. Man wird nach der Wahl ausloten müssen, mit wem was geht und was nicht.

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