EU-Kommissarin Vestager: "Wir brauchen einen faireren globalen Wettbewerb"
Margrethe Vestager bietet Großkonzernen wie Google, Facebook oder Amazon die Stirn. Hier erzählt sie, was sie antreibt und warum sie weitermachen will.
Frau Vestager, wie viele Leute wollen Autogramme von Ihnen?
Jeden Monat unterschreibe ich so einen Packen (zeigt zwei, drei Zentimeter mit ihren Fingern). Meine Mitarbeiter verschicken die dann.
Für viele sind Sie eine Heldin, weil Sie es mit den Großkonzernen aufnehmen – eine Galionsfigur im Kampf gegen den Kapitalismus. Sehen Sie sich auch so?
Die Leute sammeln Autogramme von Menschen, die sie aus der Zeitung kennen. Das sind nicht immer unbedingt ihre Helden.
Können Sie mit Ihrer Arbeit Menschen den Glauben an Europa zurückgeben?
In Europa leben 500 Millionen Menschen. Der europäische Markt muss den Menschen dienen. Viele haben Zweifel, ob das funktioniert. Ob sie nicht nur ein winziger Teil in einem großen Räderwerk sind. Wir müssen den Menschen zeigen, dass es um sie geht und dass sie zählen. Und dabei habe ich in meinem Amt einen großen Vorteil: Ich kann tatsächlich ganz konkret etwas bewegen.
Sie sind gegen Google, Facebook, Siemens und andere vorgegangen. Wie schwierig ist das?
Sehr schwierig. Wir brauchen Fakten, unsere Entscheidungen müssen vor Gericht bestehen. Aber ich habe 900 Mitarbeiter, und hinter mir stehen 500 Millionen Konsumenten. Das gibt Kraft.
Was war Ihr größter Erfolg?
Ich war vor einiger Zeit mit einer meiner Töchter Kaffee trinken in einem Café. Beim Herausgehen hat eine Frau meine Tochter angesprochen. Sie hat gesagt: „Deine Mutter hat gute Sachen gemacht. Ich habe ein kleines Unternehmen und muss alles auf dem Markt kaufen. Deine Mutter hat dafür gesorgt, dass der Wettbewerb zwischen mir und den großen Unternehmen zu fairen Bedingungen abläuft“. Wenn eine Kleinunternehmerin so was sagt, ist das ein Erfolg.
Von wegen faire Bedingungen: Spotify hat sich bei der EU-Kommission beschwert, weil der Streamingdienst 30 Prozent der Erlöse an Apple abgeben muss. Was tun Sie jetzt?
Wir nehmen die Beschwerde von Spotify sehr ernst. Das ist ja keine Sache, die ein Unternehmen, in diesem Fall Spotify, einfach so macht. Aber Spotify sagt, sie hatten keine andere Chance, und für sie sei das eine ernste Sache. Wir prüfen jetzt, ob das ein Fall für uns, die europäische Wettbewerbsaufsicht, ist.
Der Fall erinnert an die Verfahren gegen Google. Damals haben Sie gegen Google ein Bußgeld von über zwei Milliarden Euro verhängt.
Wir müssen in diesem Zusammenhang die Rolle von Apple und von Apples App-Store untersuchen. Falls wir zu der Auffassung kommen, dass sie eine marktbeherrschende Stellung haben, wäre der Fall vergleichbar mit unserem Verfahren gegen Google. Wir haben eine Plattform, die Kunden zu verschiedenen Anbietern leitet, und dann beginnt die Plattform, solche Geschäfte selbst zu machen, also selbst zum Anbieter zu werden. So wie es Google bei seinem Preisvergleichsdienst getan hat. Man stellt Unternehmen Kapazitäten zur Verfügung, und dann macht man selbst Wettbewerb gegen sie. Das ist ein Muster, das wir schon kennen, und es betrifft eine Kernfrage des Wettbewerbsrechts, nämlich wie geht man mit Internetplattformen um?
Die US-Politikerin Elizabeth Warren, die Präsidentschaftskandidaten der Demokraten werden möchte, will Plattformen solche Geschäfte verbieten. Zu Recht?
Man muss schauen, ob es nicht mildere Mittel gibt, fairen Wettbewerb sicherzustellen. Unternehmen zu zwingen, sich aufzuspalten, ist ein extremer Schritt und zieht jahrelange Gerichtsprozesse nach sich.
Reichen Ihre Instrumente?
In Zusammenhang mit Internetplattformen und dem Umgang mit Daten stellen wir uns diese Frage gerade selbst. Es gibt sehr viele unterschiedliche Arten von wertvollen Daten. In Dänemark gibt es zum Beispiel ein Verzeichnis aller Abonnements, die Dänen in den vergangenen 40 Jahren geschlossen haben. Zum Glück ist das nicht für jeden zugänglich. Aber das ist natürlich ein Datenschatz. Der Zugang zu Daten ist der Zugang zu Informationen, zu Innovationen, zu den Märkten. Viele Daten sind von Unternehmen gewonnen worden, die de facto Monopolisten sind. Und die sie, wenn überhaupt, nur zu Monopolpreisen teilen. Hinzu kommt: Viele kleine europäische Start-ups mit tollen Ideen werden von den Großen weggekauft, bevor sie sich entfalten können. Sie sind oft so klein, dass wir mit unserer Fusionskontrolle gar nicht befasst werden, weil sie unter den Umsatzschwellen liegen.
Sie haben Facebook die Übernahme von Instagram und WhatsApp erlaubt. War das im Nachhinein ein Fehler?
2014, als Facebook WhatsApp gekauft hat, haben wir Facebook gefragt, ob sie die Daten der Dienste zusammenführen würden und Facebook hat nein gesagt. Dann hat Facebook genau das getan. Weshalb wir ihnen ein Bußgeld von 110 Millionen Euro aufgebrummt haben.
Facebook will WhatsApp und Instagram stärker in den Konzern integrieren. Wie verträgt sich das mit dem Wettbewerb?
Wir müssten das gründlich untersuchen. Ich will nicht ausschließen, dass wir das tun werden. Wir schauen uns gerade einige Analysen aus dem Vereinigten Königreich an, nachdem wir dort dieses Datenleck hatten.
Deutsche Sozialdemokraten wollen große Datensammler zwingen, Daten mit kleineren Wettbewerbern zu teilen. Wie finden Sie das?
Das ist ein interessanter Vorschlag. Es sind ja die Daten eines jeden Einzelnen von uns, und wir alle geben sie recht großzügig ab an einzelne Unternehmen. Wie öffnet man den Zugang zu diesen Daten auch für andere, um Innovationen zu ermöglichen, auch mit Blick auf künstliche Intelligenz? Das ist eine relevante Frage, ganz unabhängig davon, wo man steht im politischen Spektrum.
Im Digitalgeschäft haben europäische Unternehmen bisher nicht allzu viel zu melden. Auch in anderen Bereichen wächst die Konkurrenz aus China und den USA. Frankreich und Deutschland wollen jetzt das Wettbewerbsrecht lockern, um europäische Champions zu ermöglichen. Ziehen Sie da mit oder spucken Sie in die Suppe?
Na ja, wir haben doch ziemlich viele Champions in Europa, und einige sind durch Übernahmen entstanden. Die Debatte, wie wir mit der Digitalwirtschaft umgehen und selbstbewusster gegenüber China auftreten, ist wichtig und überfällig. Aber die gescheiterte Fusion von Siemens-Alstom ist kein gutes Beispiel für diese Debatte. Ich habe bis kurz vor Schluss geglaubt, wir könnten die Fusion der beiden Zughersteller genehmigen. Was die allermeisten Punkte anging, war der Zusammenschluss aus unserer Sicht absolut in Ordnung. Wir haben viel Wettbewerb bei U-Bahnen, Straßenbahnen, Schnellzügen. Es gab nur zwei Punkte, die noch kritisch waren: die Signaltechnik und die Hochgeschwindigkeitszüge. Wenn wir Bedenken äußern, ist es Sache der Unternehmen, diese auszuräumen.
Das haben Siemens und Alstom nicht getan?
Nein. Ich habe wirklich bis zum letzten Tag gedacht, dass sie uns entgegenkommen. Aber das haben sie nicht getan, und deshalb haben wir die Fusion verboten. Solche Fälle sind extrem selten. In den letzten zehn Jahren haben wir 3000 Übernahmen erlaubt und ganze neun untersagt. Auch in den fünf Jahren, in denen ich jetzt Wettbewerbskommissarin bin, sind große Player durch Fusionen entstanden: in der Zementbranche, bei Bierbrauereien, in der Autoindustrie.
Also braucht man keine lockereren Regeln?
Wir brauchen einen faireren globalen Wettbewerb, nicht weniger Wettbewerb in Europa. Handelskommissarin Malmström hat eine Reform der Welthandelsorganisation WTO angestoßen, ich spreche mit meinem chinesischen Amtskollegen über Subventionen, und wir müssen dafür sorgen, dass Marktzutritte auf der Basis von Gegenseitigkeit erfolgen. Und wir müssen staatlichen Stellen klar machen, dass sie bei öffentlichen Ausschreibungen nicht immer den Billigsten nehmen müssen, sondern durchaus auch Unternehmen, die nachhaltig produzieren und ihre Mitarbeiter anständig bezahlen.
Die Europawahlen stehen an, Ihre Amtszeit geht zuende. Würden Sie gern verlängern?
Oh ja, ich habe darum gebeten, aber ich bin bei der dänischen Regierung, die das mittragen müsste, leider auf wenig Begeisterung gestoßen. Normalerweise nominiert ja die stärkste Partei die Kommissare, und meine sozialliberale Partei ist das nun mal nicht. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass man nichts bekommt, wenn man nicht danach fragt. Man weiß ja nie.
Sie sind auch im Gespräch als Nachfolgerin von Jean-Claude Juncker an der Spitze der EU-Kommission, falls der deutsche Manfred Weber nicht gewählt wird.
Die dänische Regierung muss sich erst Ende Juni oder im Juli festlegen, welche Kandidatin oder welchen Kandidaten sie für die Kommission nominiert. Und solange ich kein schnelles Nein gehört habe, kann ich auf ein langsames Ja hoffen.
Und wenn nicht? Klopfen die Techkonzerne bei Ihnen an, um Sie endlich aus dem Verkehr zu ziehen?
Nein, niemand. Man sollte auch nicht übersehen, dass unsere Entscheidungen im Team getroffen werden und nicht von mir allein. Meine Mitarbeiter kommen aus ganz Europa. Und ich habe in den vergangenen Jahren eine interessante Erfahrung gemacht. Ich fühle mich inmitten meines diversen Teams mehr denn je als Dänin und gleichzeitig mehr denn je als Europäerin. Das ist ein Privileg.
Margrethe Vestager (50) ist seit 2014 EU-Wettbewerbskommissarin. Großkonzerne fürchten die Pfarrerstochter, nachdem sie Facebook und Google wegen Wettbewerbsverstößen mit hohen Bußgeldern belegt hatte. Die Dänin scheut aber auch nicht davor zurück, gegen EU-Staaten vorzugehen. So leitete sie Ermittlungen gegen zahlreiche Mitgliedsländer ein, denen sie Steuerdumping zugunsten von Konzernen wie Amazon, Apple oder Starbucks vorwarf. In ihrer Heimat war die Mutter dreier Töchter Bildungs-, Wirtschafts- und Innenministerin. Die Ökonomin gehört der sozialliberalen Partei Radikale Venstre an. In der gegenwärtigen dänischen Regierung ist die Partei nicht mehr vertreten, das schmälert Vestagers Hoffnungen auf eine zweite Amtszeit.