Holland, ganz frisch: Wie die Niederlande ihre Industrie modernisieren
Die Niederlande stehen auf der Hannover-Messe im Fokus. Ihre ramponierte Wirtschaft polieren sie auch abseits der weltgrößten Industrieschau auf: drucken Häuser, melken Kühe mit Robotern und bauen deutsche Autos.
Das schwarze Ding soll mal ein Haus werden. Oder jedenfalls Teil eines Hauses. Und Hedwig Heinsman ist begeistert. „Der 3-D-Druck ist eine Revolution, weil Menschen überall auf der Welt alles herstellen können“, sagt die dunkelhaarige Frau. Sie steht am Rand eines riesigen leeren Geländes im Norden von Amsterdam. Auf dem Kopf trägt sie einen weißen Helm, wie man ihn auf einer Baustelle tragen würde. Das schwarze Ding, etwa zwei mal zwei mal zwei Meter, Kunststoff, Wabenstruktur, kommt aus einem senkrecht stehenden Container, der nur wenige Meter daneben steht. Im Innern des Containers befindet sich alles, was man für den Hausbau der Zukunft benötigt: ein Tank für Granulat und ein 3-D-Drucker, der aus dem verflüssigten Granulat Elemente aufbaut. Außenwände, Innenwände, Fensterelemente. Schicht für Schicht.
Die Baustelle ist eher eine Brache. Und die Welt voller 3-D-gedruckter Häuser eher ferne als nahe Zukunft. Doch Heinsman, 33, Architektin, und ihre beiden Kollegen sind keine Spinner. Das Haus wird Teil des neuen Stadtviertels sein, das auf dem 20 Hektar großen Gelände der ehemaligen Shell-Zentrale entstehen soll. Mit dem niederländischen Baukonzern Heijmans und dem deutschen Chemie- und Konsumgüterkonzern Henkel gibt es gewichtige Partner aus der Industrie. Auch US-Präsident Barack Obama machte bei seinem Besuch zum G-7-Gipfel vor zwei Wochen einen Abstecher ins 3D Print Canal House.
Innovativ und inspiriert, so will die Regierung das Land und dessen Wirtschaft präsentieren. Schaden kann das nicht, denn die Niederlande arbeiten sich gerade mühevoll aus einer schweren wirtschaftlichen Krise heraus. Vom Glanz der 1990er Jahre ist nichts geblieben.
Immer wieder rutschte die Wirtschaft des einstigen europäischen Musterknaben in den vergangenen fünf Jahren in die Rezession. Der Immobilienmarkt stürzte mit der weltweiten Krise 2008/09 ab. Zu großzügig gingen Banken mit Immobilienkrediten um. Die Niederländer kauften Wohnungen und Häuser, modernisierten sie ebenfalls auf Pump und verkauften sie nach ein paar Jahren weiter. Das ging so lange gut, bis die Preise, ausgelöst durch die Krise, zu sinken begannen.
In mehr als einer Million Haushalte übersteigt die Höhe der Schulden inzwischen den Wert der Immobilien. Über eine Million der Niederländer lebt unterhalb der Armutsgrenze. Mit mehr als sieben Prozent wird die Arbeitslosenquote in diesem Jahr nach offiziellen Angaben ein neues Hoch erreichen.
Auf Strukturreformen wie etwa die deutschen Hartz-Gesetze, um die üppig ausgebauten Sozialsysteme zu entlasten, hat die Regierung des rechtsliberalen Ministerpräsident Mark Rutte weitgehend verzichtet. Bei sinkender Produktivität stiegen die Löhne. Das Land hat viel an Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt.
Um den ramponierten Ruf aufzupolieren, nimmt die Regierung nun Geld in die Hand. Bei der am Montag beginnenden Hannover-Messe präsentieren sich die Niederlande als Partnerland. Innovativ und inspiriert will man auch dort auftreten. Schließlich heißt der Modebegriff der Stunde Industrie 4.0 – also vernetzte Produktionsprozesse, 3-D-Druck inklusive.
Und man will seine ohnehin schon starken Beziehungen zur deutschen Wirtschaft ausbauen. Zwar sind die Niederlande wichtigster Agrarimporteur und drittgrößter Energielieferant. Gleichwohl hat nicht nur die Regierung Rutte erkannt, dass Deutschland wegen seiner starken Industrie vergleichsweise stabil durch die letzte große Krise gekommen ist. Während die Industrie rund 15 Prozent zum niederländischen Bruttoinlandsprodukt (BIP) beiträgt, sind es in Deutschland etwa 25 Prozent.
Warum Käse und Hightech kein Widerspruch sein muss
„Manchmal sind wir sehr eifersüchtig auf Deutschland“, sagt Ineke Dezentjé Hamming-Bluemink. Sie leitet die Industrievereinigung FME-CWM, ähnlich den deutschen Maschinen- und Anlagenbauern, und damit eine sehr exportorientierte Branche. Um vier Prozent soll der Maschinenbau im laufenden Jahr wachsen, nachdem die Produktion in den beiden Vorjahren um jeweils 2,5 Prozent gesunken war. Inzwischen hätten die Niederländer ihre Industriepolitik nach dem Beispiel der deutschen grundlegend geändert, sagt Dezentjé. Investiert werde nicht mehr in einzelne Regionen, sondern in einzelne Topsektoren.
Zum Beispiel in die Autoindustrie. Vom Sommer an kommt der neue Mini von BMW nicht nur aus dem Werk in Oxford, sondern auch aus Born, südlich von Roermond, unmittelbar hinter der deutsch-niederländischen Grenze. Beim Auftragsfertiger NedCar sichert die Produktion 1500 Arbeitsplätze. „Auf jedem Mercedes und BMW müsste eigentlich ein Sticker kleben: Powered by dutch technology“, sagt Dezentjé und lacht bitter. Dass bis zu 20 Prozent der Teile deutscher Autos in den Niederlanden gefertigt würden, wisse eben niemand. Einen Grund dafür hat die 59-Jährige ebenfalls parat. „Wir sind nicht so berühmt wie die Deutschen, wir sind vielleicht zu bescheiden.“ Auch das soll mit der Hannover-Messe anders werden, wo sich rund 200 Unternehmen aus dem Nachbarland präsentieren. „Wenn man an Holland denkt, denkt man an Käse und nicht an Hightech – das müssen wir ändern“, betont Dezentjé.
Für Martijn Boelens ist Hightech und Käse alles andere als ein Widerspruch. Der Mann mit dem schütteren blonden Haar steht in einer Art Kinosaal auf einem Firmengelände in Maassluis, zwischen Den Haag und Rotterdam, und erklärt Lely. Die Leinwand in seinem Rücken ist knallrot, darauf das Firmenlogo und ein Foto mit glücklichen Kühen auf grüner Weide. Den weitaus größten Teil der halben Milliarde Jahresumsatz macht das Unternehmen mit Melkrobotern. Boelens, ein großer, hagerer Mann mittleren Alters, Vorstandsmitglied und für reibungslose Betriebsabläufe zuständig, treibt den Vortrag mit Tempo voran. In entwickelten Ländern gebe es immer weniger Landwirte. Melkroboter seien deshalb ein Riesenmarkt – und Lely Weltmarktführer. „Wenn wir weniger als 15 Prozent wachsen, ist das ein schlechtes Jahr.“
So eilig haben es Hedwig Heinsman und ihre Architektenkollegen in Amsterdam nicht. Für ein neues Bauteil braucht der Drucker derzeit noch 100 Stunden. In drei Jahren soll das klassisch-niederländische Kanalhaus dann stehen – Tradition gebaut mit Zunkunftstechnologien.
Simon Frost
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