„Heute sind Autobahnspuren Warenlager“: Wie die Corona-Pandemie Wirtschaft, Jobs und Verkehr verändert
Nachhaltigkeitsforscher Reinhard Loske über Fehlschlüsse im Öko-Mainstream, identische Ursachen von Klima- und Coronakrise – und warum es weniger Autos braucht.
Die Coronakrise könnte unsere Welt nachhaltiger machen, sagt Reinhard Loske und erklärt im Interview, wie das gelingen kann, warum der Wandel hart wird und welche Rolle dabei mutige Politiker spielen. Loske ist Professor für Nachhaltigkeit an der Hochschule für Gesellschaftsgestaltung in Bernkastel-Kues. Zuvor war er unter anderem Senator für Umwelt und Verkehr in Bremen und Mitglied des Bundestages. Sein Buch "Politik der Zukunftsfähigkeit" wurde zum Umweltbuch des Jahres 2016 gekürt.
Herr Loske, der Schweizer Globalisierungskritiker Jean Ziegler hat einmal gesagt, dass wir in einer kannibalischen Weltordnung leben. Hat er recht?
Der globale Norden lebt auf Kosten des globalen Südens. Das gilt aktuell und erst recht historisch, wenn man an den Kolonialismus denkt. Unser Wohlstand basiert zum großen Teil auf der Ausbeutung von Natur und der Machtausübung in den internationalen Beziehungen, vor allem in den Handelsbeziehungen. Ob man das Kannibalismus nennt, ist eine Geschmacksfrage. Es geht jedenfalls zulasten der globalen Gerechtigkeit und der Zukunftsfähigkeit.
Hat die Globalisierung ausgedient?
Man muss bei dem Begriff präzise sein. Wir brauchen globale Kooperation, um große Herausforderungen wie die Klimakrise, Biodiversität oder die Regulierung der Finanzmärkte überhaupt meistern zu können. Davon zu trennen ist aber die ökonomische Globalisierung. Meine These ist, dass wir die internationale Arbeitsteilung an vielen Stellen zu weit getrieben haben.
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Welche Stellen meinen Sie denn genau?
Das beste Beispiel ist die Just-in-time-Produktion, bei der auf Lagerhaltung verzichtet wurde, um Kosten zu sparen. Heute sind Autobahnspuren Warenlager. Die endlosen Liefer- und Transportketten machen uns extrem verletzbar. Außerdem werden der Flug- und der Containerverkehr – die Ikone der Globalisierung schlechthin – nicht angemessen besteuert. Das schafft starke Anreize, die internationale Arbeitsteilung immer weiter voranzutreiben, und ist definitiv nicht vereinbar mit der Nachhaltigkeit.
Was muss sich also ändern?
Im Öko-Mainstream wird ja oft so getan, als ginge es nur um eine Maßnahme: die CO2-Preise. Ganz nach dem Motto: Wenn wir die Emissionen bepreisen, wird alles wieder gut werden. Natürlich ist es wichtig, dass die Preise die ökologische Wahrheit sagen. Das reicht aber nicht aus. Unsere Wirtschaft muss sich grundlegend verändern, sie muss deglobalisiert, re-regionalisiert und entschleunigt werden. Wir müssen die Ökonomie wieder in die Gesellschaft und in die Naturkreisläufe einbetten.
Sie nennen diese Strategie auch Glokalisierung. Das müssen Sie bitte erklären.
Das ist ein Kunstwort aus Globalisierung und Lokalisierung. Der Begriff will eigentlich sagen: Weltoffenheit ist das eine, die Konzentration auf regionale Kreislaufwirtschaft das andere. Manche wählen auch die Analogie zum menschlichen Organismus und sprechen von zellularer Ökonomie. Jede Zelle in unserem Körper ist Teil eines großen Ganzen, aber sie ist auch ein eigenständiges System.
Insofern ist zellulare Ökonomie, die gleichzeitig gegenüber dem Gesamtsystem offen ist, eine gute Grundorientierung.
Welche konkreten Maßnahmen müssen wir dabei ergreifen?
Wir sollten unsere Städte und Kommunen stärken und nachhaltige Infrastrukturen ausbauen: mehr Radwege, mehr Fußgängerfreundlichkeit, mehr Elektromobilität, mehr Sharingkonzepte im Straßenverkehr – und vor allem weniger Autos. Bei der Stromerzeugung müssen wir auf fossile Brennstoffe verzichten.
Digitalisierung und intelligente Technologien können uns dabei helfen, weniger zu verbrauchen. Aber es müssen erneuerbare Energien sein, also Sonne, Wind und Wasser statt Kohle, Öl und Gas. Und wir sollten anstreben, unsere Arbeitszeit zu verkürzen
Gerade im Dienstleistungssektor führt der technische Fortschritt dazu, dass viele Jobs wegfallen oder prekärer werden. Wir müssen zudem neue Arbeitszeitmodelle entwickeln. Ich bin sicher, nicht nur die Gewerkschaften werden das tun, sondern auch kluge Firmenchefs. Erwerbsarbeit und Care-Arbeit müssen fair geteilt werden, das gehört zur nachhaltigen Ökonomie integral dazu.
Die Vereinten Nationen haben sich bereits Anfang der 1990er Jahre zum Leitbild der nachhaltigen Entwicklung bekannt. Seitdem haben aber immer neue Krisen die ökologische Frage an den Rand gedrängt.
Das schlagende Argument war dabei immer gleich: Wir können uns jetzt keinen Klimaschutz und keine Nachhaltigkeit leisten. Diese Stimmen gibt es natürlich immer noch. Aber ich glaube, diesmal wird es tatsächlich anders sein.
Was macht Sie so optimistisch?
Optimismus ist das falsche Wort. Zuversicht trifft es schon eher. Ich finde, der Boden für die Argumentation ist aktuell fruchtbarer geworden.
Warum?
Aus mehreren Gründen. In den vergangenen 30 Jahren wurden liberalisierte Märkte total idealisiert. Nun erleben wir, dass die einseitige Ausrichtung an Wachstum und Effizienz nicht mehr zukunftsfähig ist. Durch die Pandemie sind die Fehlentwicklungen offenkundiger geworden. Immer mehr Menschen erkennen, dass viele Ursachen der Klimakrise und der Coronakrise identisch sind.
Wir dringen immer tiefer in die Wildnis vor und kommen mit Viren in Kontakt, die ursprünglich von Tieren stammen. Auch die Massentierhaltung, mal abgesehen davon, dass sie ethisch problematisch ist, trägt zur Ausbreitung von Krankheiten bei. Man könnte pathetisch sagen: Es kann keine Gesundheit der Menschen geben, ohne dass der Planet gesund ist. Da besteht ein innerer Zusammenhang.
Wird der Corona-Notstand die Welt am Ende nachhaltiger machen?
Die Chance ist jetzt größer als bei den anderen Krisen. Die politischen Mehrheiten in der Gesellschaft sind da. Immer mehr Unternehmen entwickeln außerdem ein klares Gespür dafür, dass Nachhaltigkeit, Ressourcenschonung und CO2-Neutralität in Zukunft darüber entscheiden werden, ob man auf den internationalen Märkten überhaupt noch mitspielen kann. Was wir brauchen, sind ein handlungsfähiger Staat und handlungswillige Politik.
Die EU-Kommission mobilisiert bereits 750 Milliarden Euro für das neue Aufbauprogramm „Next Generation EU“.
Der gigantische Betrag muss nun in nachhaltige Strukturen fließen. Es darf nicht sein, dass wir den zukünftigen Generationen zusätzlich zu dem ganzen Schlamassel im Umweltbereich auch noch Schulden aufbürden und mit dem Geld dann am Ende alte Strukturen konservieren, etwa fossile Energien.
Können wir der Politik vertrauen?
Sie muss klare Ziele setzen. Der Autoindustrie eine neue Abwrackprämie für Verbrennungsmotoren zu gewähren, wäre zum Beispiel ein fatales Signal. Ähnliches gilt für die europäische Agrarpolitik. Wir müssen die Subventionsstruktur verändern und von der reinen Flächenförderung wegkommen. Nur wer ökologische Ziele erreicht, soll Geld bekommen.
Die Politik muss intelligente Rahmenbedingungen schaffen, damit sich das Innovationspotenzial und die Gestaltungsfreude der Gesellschaft entwickeln können.
Sie plädieren auch dafür, Nachhaltigkeit als Grundrecht in der Verfassung zu verankern. Wieso?
Umweltschutz gilt seit den frühen 1990er Jahren offiziell als ein Staatsziel. Das ist allerdings eine relativ schwache Kategorie. Durch die Festschreibung im Grundgesetz bekäme Nachhaltigkeit als Grundrecht und Grundpflicht ein ganz neues Gewicht, alle Regelungen müssten sich daran orientieren. Der Bundespräsident als Hüter der Verfassung dürfte nur noch die Gesetze unterschreiben, die dem Anspruch der Nachhaltigkeit genügen. Es gäbe keine Ausreden mehr.
Ist der Kapitalismus aber nicht so mächtig, dass er den Wandel im Keim erstickt?
Wir erleben momentan in der Autoindustrie und im Finanzsektor, dass die Durchsetzung von Nachhaltigkeitszielen keine Harmonieveranstaltung ist. Die Konflikte und Verteilungskämpfe werden sich verschärfen. Die Politik tut gut daran, die sozialen Unwuchten nicht allzu groß werden zu lassen. Ohne die Akzeptanz in der Gesellschaft fällt alles in sich zusammen. Aber ich bin überzeugt, dass der Kapitalismus, wie wir ihn kennen, sich wandeln wird.
Inwiefern?
Er wird sich die Bühne sukzessiv mit kooperativen Wirtschaftsformen teilen müssen. Der amerikanische Ökonom Jeremy Rifkin geht in seinem Buch „Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft“ sogar noch weiter und sagt, dass die Ökonomie des Teilens und Tauschens den Kapitalismus früher oder später ganz verdrängen wird. Das ist natürlich sehr optimistisch. Der Kapitalismus ist ein intelligentes Biest, das sich zu wehren weiß. Deshalb spreche ich lieber von einer sozial-ökologischen Transformation. Das ist ein Prozess.
Läuft uns die Zeit nicht davon?
Die Gefahr, dass ganze Ökosysteme kollabieren und wir irgendwann nur noch ökologische Zwänge exekutieren, anstatt zu gestalten, ist definitiv da.