Kohle zu Kohle, Staub zu Staub: Weil die Industriegesellschaft kollabiert
Der rennomierte Ökonom Jeremy Rifkin geht davon aus, dass die Zeit der fossilen Brennstoffe endgültig zu Ende ist. Er fordert einen „Green New Deal“.
Noch vor wenigen Jahren musste man nach einer sommerlichen Autofahrt die Windschutzscheibe putzen. Das kann man sich jetzt sparen, weil dort kaum noch Mücken kleben. Die Alltagsvögel Amsel, Drossel, Fink und Star kann man demnächst am besten in Naturschutzparks beobachten, die vertrockneten Futtermaisfelder der Uckermark werden „the new normal“. Und zu den Jahreszeiten, wie wir sie kannten, sollten wir zum Abschied leise servus sagen.
Dass der Klimawandel eine offene Frage sei, orakeln vor allem Stammtische – und diejenigen, die von der Behauptung profitieren, das sei alles nicht erwiesen. Die Zahlen der Klimatologen, Biologen oder Technikwissenschaftler, wie sie kürzlich im Sachstandsbericht des Weltklimarats vorgestellt worden sind, sprechen eine deutliche Sprache. Nun aber präsentiert der amerikanische Ökonom Jeremy Rifkin Zahlen, die ein verblüffendes Licht auf die Situation werfen.
Rifkin ist als Gründer und Chef der Foundation on Economic Trends in Washington nicht nur Zukunftsforscher, sondern berät verschiedene Regierungen einschließlich der EU-Kommission. Seine internationalen Bestseller wie „Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft“ (1995) oder „Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft“ (2014) sind politikwirksame Bücher. Es lohnt sich, seine Ideen zu einem „globalen Green New Deal“ ernst zu nehmen.
Die Industriegesellschaft wird kollabieren
Ausgangslage ist die kaum übersehbare Tatsache, dass Natur zunehmend wird, was sie vor der Industrialisierung im 18. Jahrhundert war: etwas Unbezähmbares, das den Menschen bedroht. Aber nicht nur die ökologische Geschäftsordnung, so Rifkin, stehe zur Debatte, sondern die ökonomische. Beide sind so vertrackt verknüpft, dass man ins Grübeln gerät, ob Rifkin eigentlich die Vorstände börsennotierter Unternehmen retten will oder die Menschheit.
Die Ökonomie der auf fossilen Energieträgern basierenden Industriegesellschaft, so Rifkins zentrales Argument, wird in kürzester Zeit kollabieren – weil die Marktkosten für Solar- und Windenergie rapide sinken. Erneuerbare Energie sei heute schon billiger als Kohle und habe mit Erdöl und Erdgas gleichgezogen. Den Einwand, der weltweite Anteil an erneuerbaren Energien habe 2017 bei nur drei Prozent gelegen, räumt Rifkin aus: Für Investoren sei nicht der gegenwärtige Marktanteil entscheidend, sondern die Wachstumsrate. Und die entwickle sich rasant.
2028 - Deadline für die Weltrettung
Bei einem Anteil von nur 14 Prozent erneuerbarer Energien am Gesamthaushalt sei ein Kipppunkt erreicht, an dem die Nachfrage nach fossilen Brennstoffen an ihren Höhepunkt gelangt. Der darauf folgende Zusammenbruch der fossil befeuerten Wirtschaft erfolge in den berechneten Szenarien zwischen 2023 und 2035. Daraus macht Rifkin den Mittelwert 2028, der als Deadline für die Weltrettung das Buchcover ziert. Das Platzen der „Kohlenstoffblase“ produziere – in Rifkins Lieblingsvokabular – „gestrandete fossile Anlagewerte“ en masse.
Diese Argumentation liegt quer zur Behauptung, der Umstieg auf erneuerbare Energien schade der Wirtschaft. Tatsächlich kollabiert die Wirtschaft nach Rifkin nicht, wenn sie ökologisch wird, sondern dann, wenn sie es nicht wird. Das entmoralisiert die Debatte: Weltrettung bringt weniger moralischen als ökonomischen Profit, der „Green New Deal“ ist ein „good deal“.
Der Begriff geht auf das Wirtschafts- und Sozialprogramm zurück, mit dem Franklin D. Roosevelt die Vereinigten Staaten der 1930er Jahre aus der Weltwirtschaftskrise in die großindustrielle Moderne führte. Dazu gehörten Staudämme zur Elektrizitätserzeugung oder das Straßensystem, also gigantische Infrastrukturprojekte. Sie sieht Rifkin im Zentrum aller grundlegenden ökonomischen und gesellschaftlichen Umwälzungen, weil Infrastrukturen maßgeblich den Alltag einer Gesellschaft, ihre Orientierung in Raum und Zeit bestimmen.
Kohlenstofffreie Energie und Internet der Dinge
Die erste industrielle Revolution im 19. Jahrhundert basierte auf Kohle als Energieträger, zu ihrer Mobilitäts- und Kommunikationsinfrastruktur zählten Eisenbahn und Telegrafie im Nationalstaat. Die zweite industrielle Revolution des 20. Jahrhunderts war auf Öl angewiesen, das Automobil samt Straßensystem stand in ihrem Zentrum; Rundfunk, Fernsehen und Telefon sorgten für die kommunikative Integration zunehmend globaler Märkte und Regierungsgremien.
Heute, so Rifkin, sei eine dritte industrielle Revolution im Gang. Sie habe kohlenstofffreie Energie zur Voraussetzung und basiere auf dezentralisierten Netzen. Das Internet der Dinge als Plattform, auf der all unsere Mobilitäts- und Kommunikationsvehikel samt Gebäudebestand über Sensoren verknüpft werden, fungiere als Basis einer „smarten Infrastruktur“. Die sei „glokal“, bei allen globalen Netzen also lokal verankert, da die Sonne (fast) überall scheint und der Wind (fast) überall weht.
Das kapitalistische Wirtschaften mit Verkäufer-Käufer-Märkten werde durch Provider-User-Netzwerke abgelöst, statt Besitz werde Zugang entscheidend – wie beim Carsharing. Diese dritte industrielle Revolution führe aus dem „Zeitalter des Fortschritts“ ins „Zeitalter der Widerstandsfähigkeit“ mit einem „Biosphären-Bewusstsein“.
Rifkin argumentiert mit China und Amerika
Natürlich kann man gegen diese Vision einiges ins Feld führen. Mit Widerständen gegen die Ablösung des fossilen Wirtschaftens hält Rifkin sich nicht lange auf, Ambivalenzen etwa der Elektromobilität blendet er weitgehend aus. Die Bereitschaft, sich Algorithmen und Apps von Big Data zu überlassen, setzt er voraus. Rifkin argumentiert geopolitisch, operiert also mit „der EU“, „China“ oder „Amerika“.
Ob die zahlreichen Details immer zutreffen, ist schwer zu überprüfen. Dass Deutschland, wo der Anteil erneuerbarer Energien 2018 tatsächlich schon bei 35 Prozent lag und bis 2030 auf 65 Prozent steigen soll, einmal mehr als Richtigmacher vorangeht, deckt sich zumindest nicht mit den Beobachtungen deutscher Klimaaktivisten.
[Jeremy Rifkin: Der globale Green New Deal. Warum die fossil befeuerte Zivilisation um 2028 kollabiert – und ein kühner ökonomischer Plan das Leben auf der Erde retten kann. Aus dem Englischen von Bernhard Schmid, Campus, Frankfurt a.M., 2019. 319 S., 26,95 €.]
So soll das grüne Geschäft finanziert werden
Immerhin, Rifkin hat einen Plan. Fast auf die Million genau berechnet er, wie das grüne Geschäft finanziert werden soll: mit der Umverlagerung riesiger Investitionssummen aus den Pensionsfonds, dem „größten Kapitalpool weltweit“, von fossilen auf erneuerbare Energien. Mit Streichung der Zuschüsse für fossile Energien, Umwidmung von Geldern, die in Verteidigungshaushalte fließen, und mehr Steuern für Superreiche (Bill Gates soll einverstanden sein).
Sein Maßnahmenkatalog umfasst 23 präzise Punkte. Für die Vereinigten Staaten würden die „ersten sechs Monate der nächsten Amtszeit von Präsident und Kongress 2021“ entscheidend. Nicht irrelevant ist, möchte man hinzufügen, wer dann amerikanischer Präsident sein wird.
Ja, dieses Buch hat eine Anmutung von Science-Fiction, dann von einem Parteiprogramm (nur welcher Partei?). Es operiert mit Fakten, die bald überholt sein dürften. Und es setzt zuweilen penetrant auf die Kraft der Suggestion – etwa wenn es einen „grundlegenden Wandel in der amerikanischen Politik vermutet“ oder vom „jähen Anstieg der Verkäufe von Elektrofahrzeugen“ schwärmt. In all dem ist es ein im besten Sinne amerikanisches Buch, das voller Tatendrang die Ärmel hochkrempelt: Yes, we can.
Keineswegs aber sollte man Rifkin als spinnerten Visionär unterschätzen. Als Zukunftsforscher dürften ihm die Rückkoppelungseffekte zwischen der Rede von der Zukunft und dieser selbst bestens vertraut sein: Beobachtung und Wunsch arbeiten mit am Beobachteten und Gewünschten.