Die Flüchtlingskrise als Chance: Wie die Bundesländer Zuwanderung fördern wollen
Ohne Zuwanderung kann Deutschland den Fachkräftemangel nicht lösen, darin sind sich die Wirtschaftsminister der Länder einig. Doch wie man das erreichen soll, darüber gehen die Meinungen dann doch teils weit auseinander.
Dass Deutschland Zuwanderer braucht, darin sind sich alle einig. Vom Wirtschaftsministerium in Kiel bis zu jenem in München. Parteiübergreifend. Nachdem Albrecht Gerber, SPD-Politiker und Wirtschaftsminister von Brandenburg, diese Notwendigkeit vor einer Woche im Tagesspiegel-Interview deutlich gemacht hatte, stimmten ihm die übrigen 15 Ministerinnen und Minister der Länder auf Nachfrage zu. Im Prinzip herrscht Einigkeit – gleichzeitig gibt es jedoch feine, aufschlussreiche Unterschiede in den Statements.
Gefragt nach den Argumenten für mehr Zuwanderung, nannten die meisten den demografischen Wandel und den daraus resultierenden Fachkräftemangel. Eine Studie des Bundesinstituts für Berufsbildung kam kürzlich zu dem Ergebnis, dass rund 12,1 Millionen Menschen mit einer abgeschlossenen Ausbildung ihre Erwerbstätigkeit bis 2035 beenden werden. Dem werden aber nur 9,2 Millionen Berufseinsteiger gegenüberstehen. Experten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) sagen: Nur wenn jedes Jahr rund 533.000 mehr Menschen zu- als abwandern, lässt sich die Lücke füllen, die entsteht, wenn die sogenannten Babyboomer in Rente gehen.
Am stärksten ist Sachsen-Anhalt auf Zuwanderung angewiesen
Die Landespolitiker sprechen von tausenden offenen Stellen, von Betrieben, die keine Azubis mehr finden. In Baden-Württemberg hätten die Industrie und Pflegebranche Probleme, in Niedersachsen unter anderem das Handwerk. Am stärksten wird die Bevölkerung aber in Sachsen-Anhalt schrumpfen. Nach Berechnungen des Statistischen Landesamtes wird das Potenzial an Erwerbspersonen bis 2030 um mehr als 20 Prozent sinken. „Zum mittel- und langfristigen Erhalt des nötigen Arbeitskräftepotenzials sind wir auf die Integration von Asylbewerbern und Flüchtlingen angewiesen“, sagte Minister Jörg Felgner (SPD).
Zwar sprachen sich alle Befragten für mehr ausländische Arbeitskräfte aus. Sie differenzierten aber auch. „Zuwanderungspolitik ist ausdrücklich zu trennen von der jederzeit notwendigen humanitären Flüchtlingshilfe für Menschen, die aus Kriegs- und Katastrophengebieten nach Deutschland – und Thüringen kommen“, meinte etwa der dortige Wirtschaftsminister Wolfgang Tiefensee (SPD). Sein Parteikollege Garrelt Duin aus Nordrhein-Westfalen teilt die Auffassung. Menschen aus Syrien und dem Irak würden „nicht die Lösung akuter Engpässe“ liefern. Bis sie deutsch gelernt haben, qualifiziert genug sind, arbeiten können, wird es dauern. „Das ist auch nicht der Grund, weshalb wir Flüchtlingen Schutz gewähren“, hieß es aus Hamburg.
In Bayern haben bereits 40.000 Flüchtlinge einen Job oder sind in der Ausbildung
In Bayern sollten bis Ende des Jahres 20.000 Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt vermittelt werden. So der Plan. Bis zum Herbst haben allerdings schon gut 40.000 einen Praktikumsplatz, eine Lehrstelle oder einen Job gefunden. „Kein anderes Bundesland kann ähnliche Erfolge vorweisen“, meinte Ministerin Ilse Aigner (CSU). „Aber die Aufnahme- und Integrationsfähigkeit unseres Landes hat Grenzen.“ Es brauche viel Geduld. Viel Geld. Zuwanderung müsse kontrolliert, gesteuert und begrenzt werden.
Zwar klingt keiner der anderen Ministerinnen und Minister so resolut. Was viele aber ähnlich sehen: Neben der Integration der Geflüchteten ist eine qualifizierte Zuwanderung wichtig. Menschen, die gut ausgebildet sind – und ihr Fachwissen anwenden können. Jetzt, nicht in ein paar Jahren. Aus diesem Grund fordern mehrere Minister ein Einwanderungsgesetz. „Wir brauchen klare Regeln“, sagte beispielsweise Reinhard Meyer (SPD) aus Schleswig-Holstein. „Nur so können wir den Status von Ausländerinnen und Ausländern über die Flüchtlingsfrage hinaus dauerhaft klären.“ Akademiker aus Drittstaaten können sich mit einem Stellenangebot in Deutschland um eine sogenannte Blaue Karte bewerben. Für EU-Bürger gilt die Freizügigkeit. „Zwar wurden in den letzten Monaten und Jahren viele Barrieren für Zuwanderinnen und Zuwanderer abgebaut oder reduziert, wie beispielsweise der schnellere Zugang zum Arbeitsmarkt“, sagte Arbeitsministerin Dilek Kolat (SPD) aus Berlin. Aber es gebe noch viel zu tun. „Um die Rahmenbedingungen so zu setzen, wie es bei einem Einwanderungsland wie Deutschland nötig ist.“
Entscheidend ist, wie weltoffen Bundesländer sind
Neben Unterstützung beim Spracherwerb und Vereinfachungen bei der Anerkennung von Berufsabschlüssen brauche es noch etwas: Eine offene Gesellschaft. Toleranz. Das Land Sachsen versuche, Flüchtlingen zu helfen, ausländische Studierende zu halten. Doch das Bundesland werde nur dann attraktiv für ausländische Fachkräfte sein, wenn sie sich dort wohl und sicher fühlen. „Die regelmäßigen Pegida-Demonstrationen, die Ausschreitungen und Anfeindungen insbesondere gegenüber Asylsuchenden prägen ein negatives Bild von Sachsen und wirken zunehmend abschreckend“, lautete es aus dem Ministerium. Wer mit diesem Thema ebenfalls zu tun hat, ist Sachsen-Anhalt. Es sei entscheidend, ob bestimmte Regionen und Städte als weltoffen gelten oder nicht. „Solange Flüchtlingsheime brennen und fremdenfeindliche Parolen auf Markplätzen und in Parlamenten gedroschen werden, solange werden ausländische Arbeitskräfte, die wir dringend brauchen, einen Bogen um unser Bundesland und den Osten insgesamt machen“, mahnte Felgner. Dann ist es gleich, wie viele Möglichkeiten, wie viel Wohlstand, das Land verspricht.