Ökonomen zum Streit über die Schuldenbremse: Wie der Staat mit neuen Schulden umgehen sollte
Ökonomen und Politiker sind uneins darüber, wann die Schuldenbremse wieder greifen kann. Sollte sie überarbeitet werden, wie Kanzleramtschef Helge Braun es vorschlagen hat?
Am Ende versucht es der Kanzleramtschef mit einer Liebeserklärung, doch da fliegen in seiner Partei längst die Fetzen. „Ich liebe die Schuldenbremse“, schreibt Helge Braun (CDU) auf Twitter und verwendet ein rotes Herzchen-Emoji, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Dass er diesen Schwur abgeben muss, hat mit einem Gastbeitrag zu tun, den er Anfang der Woche im Handelsblatt veröffentlichte. Genauer gesagt mit einem Satz daraus: „Die Schuldenbremse ist in den kommenden Jahren auch bei ansonsten strenger Ausgabendisziplin nicht einzuhalten“, schrieb Braun da. In der CDU hat das viele aufgeregt – allen voran den neuen Parteichef Armin Laschet. Sollten Regierungsmitglieder es für erforderlich halten, die Verfassung zu ändern, sollten sie dies vorher mit Partei und Fraktion abstimmen, polterte er.
Dabei war der Satz von Braun längst nicht so revolutionär, wie er im Nachhinein manchem vorkam. Der Kanzleramtschef hat nur ausgedrückt, worauf Ökonomen seit Monaten hinweisen: Die Politik wird womöglich nicht so schnell zur alten Haushaltsdisziplin zurückkehren können. So schrieb der Sachverständigenrat bereits im Herbst: „Aufgrund der besonderen finanzpolitischen Herausforderungen im Rahmen der Corona-Pandemie könnte zu deren Bewältigung eine erneute Übergangsphase der Schuldenbremse erwogen werden.“ Braun hat also lediglich in den Raum geworfen, was die Wirtschaftsexperten der Bundesregierung empfohlen haben.
Ein geringeres Wirtschaftswachstum bedeutet: weniger Steuereinnahmen
Denn die Bewältigung der Coronakrise ist teuer. Der Lockdown dauert an, die Impfungen laufen schleppend. Gerade erst hat die Bundesregierung ihre Prognose fürs Wirtschaftswachstum kappen müssen. Statt mit einem Plus von 4,4 rechnet sie nur noch mit 3,0 Prozent in diesem Jahr. Das aber hat Folgen für den Bundeshaushalt. Denn weniger Wirtschaftsleistung heißt, es kommen weniger Steuern rein als erwartet. Gleichzeitig muss der Staat aber mehr Geld für Sozialleistungen ausgeben. Auch stehen Investitionen an, um die Wirtschaft nach der Krise aufzupäppeln, um sie zukunftsfähig zu machen.
Schon vor dem zweiten Lockdown war Scholz’ Plan, die Schulden ab 2022 wieder zu bremsen, deshalb ambitioniert. Inzwischen halten viele Ökonomen ihn für unrealistisch. Der Wirtschaftsweise Achim Truger zum Beispiel sagt: „Eine Rückkehr zur Regelgrenze der Schuldenbremse schon im Jahr 2022 ist angesichts der Belastungen durch die Pandemie schwer vorstellbar.“
Laut der Schuldenbremse darf der Bund eigentlich nur maximal neue Schulden in Höhe von 0,35 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung aufnehmen. Eingeführt hat die Politik dieses Instrument 2009, um die Schuldenlast nicht ausufern zu lassen. Festgeschrieben ist die Bremse im Grundgesetz. Allerdings gilt für Krisenzeiten eine Ausnahme. Etwa bei Naturkatastrophen oder „außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen“ – wie einer Pandemie. Die Frage ist nur: Wie lange kann sich die Bundesregierung auf den Krisenfall berufen?
Denn selbst wenn sie die Pandemie dank Impfungen in diesem Jahr in den Griff bekommt, sind die Folgen damit nicht sofort beseitigt. Es dauert, bis sich die Erholung der Wirtschaft auch im Bundeshaushalt bemerkbar macht. Noch Jahre später seien die Auswirkungen zu spüren, meint Jens Boysen-Hogrefe vom Institut für Weltwirtschaft in Kiel. „So können Steuereinnahmen niedriger und Kosten für die Arbeitslosenunterstützung höher ausfallen, als es ohne Krise der Falle gewesen wäre.“
Auch 2022 könnte der Staat die Schuldenbremse aussetzen müssen
Wohl auch deshalb stellt sich das Bundesfinanzministerium bereits darauf ein, auch im kommenden Jahr die Ausnahmeregelung zu nutzen und mehr Schulden zu machen, als laut Bremse eigentlich erlaubt wären. Das zumindest berichtet „Der Spiegel“. Zwar müsste der Bundestag dem erneuten Aussetzen der Schuldenregel zustimmen. Das aber scheint Scholz fürs Erste einkalkuliert zu haben.
Silke Übelmesser, Finanzwissenschaftlerin an der Universität Jena, hält das für übereilt. Zwar sei es theoretisch denkbar, die Schuldenbremse im nächsten Jahr ein weiteres Mal zu missachten. Nur ob das auch nötig sein werde, könne man heute noch gar nicht sagen. Eine dritte Viruswelle sei derzeit ebenso denkbar wie ein starker Wirtschaftsaufschwung. Über die Aussetzung der Schuldenbremse müsse man daher kurzfristig entscheiden – „nicht schon jetzt, wo viel Unsicherheit herrscht“.
Der Mannheimer Ökonom Tom Krebs ist da anderer Meinung. „Ich glaube, dass Bundesregierung und Bundestag für den Haushalt 2022 nochmals von der im Grundgesetz vorgesehenen Ausnahmeregel Gebrauch machen sollte“, sagt er. „Die Auswirkungen der Coronakrise werden auch in 2022 noch deutlich spürbar sein.“ Würde der Bund die Schuldenbremse trotzdem einhalten und dafür Steuern erhöhen oder Ausgaben kürzen, sei das fatal, meint auch Sebastian Dullien. „Ein zu schnelles Rückführen des Defizits bringt die Gefahr mit sich, dass die Erholung abgewürgt wird“, sagt der Direktor des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK). „Dann könnten viele jener Unternehmen, die gerade knapp die Coronakrise überlebt haben, doch noch in die Pleite rutschen und massiv Arbeitsplätze verloren gehen.“ Die Folge wäre über Jahre ein schwächeres Wirtschaftswachstum und höhere Arbeitslosigkeit. „Eine solche Entwicklung wäre um so dramatischer, da die Bundesregierung richtigerweise mit dem Einsatz hoher Mittel viele Unternehmen und Arbeitsplätze durch die akute Coronakrise gerettet hat“, meint Dullien.
In den nächsten Jahren wird es nicht leichter, die Regel einzuhalten
Der Ökonom fürchtet, dass die Frage, ob man die Schuldenbremse einhalten kann oder nicht, auch für die Folgejahre ein Thema bleibt. So kann der Bund derzeit theoretisch noch Gelder aus Sondertöpfen nutzen, die er vor der Krise aufgefüllt hat. „Schwieriger wird es in den Jahren danach, wenn die Mittel aus diesen Sondertöpfen aufgebraucht sind und nach aktuellen Regeln ab 2026 in großem Maße die Corona-Schulden getilgt werden müssen.“
Womöglich hatte das auch Kanzleramtschef Braun im Hinterkopf, als er im Gastbeitrag vorschlug, die Schuldenbremse grundsätzlich anzupassen. Er schrieb, es sei sinnvoll „eine Erholungsstrategie für die Wirtschaft in Deutschland mit einer Grundgesetzänderung zu verbinden, die begrenzt für die kommenden Jahre einen verlässlichen degressiven Korridor für die Neuverschuldung vorsieht“. Dann würde die Schuldenbremse nicht sofort wieder greifen, sondern das Land könnte die Neuverschuldung langsam wieder herunterfahren.
Ifo-Chef Clemens Fuest rät davon allerdings ab. „Man kann diskutieren, ob die Schuldenbremse reformbedürftig ist, aber sie temporär durch einen Defizitpfad zu ersetzen, halte ich nicht für richtig, weil wir die Wirtschaftsentwicklung noch nicht kennen“, sagt er. „Der Bundestag sollte jährlich entscheiden.“
Dabei diskutieren Ökonomen nicht erst seit Corona darüber, ob die Schuldenbremse der Politik genug Spielraum lässt. Aufgabe des Staates ist es, über Investitionen etwa in Innovationen oder Klimaschutz, das Land zukunftsfähig zu machen. Eine Regel, die die Neuverschuldung begrenzt, kann das behindern, meint etwa Alexander Kriwoluzky vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW): „Vor allem Investitionen müssen umfangreicher als bisher möglich sein.“ Schon jetzt habe Deutschland enorm viele Investitionen nachzuholen. Die Schuldenbremse müsse entsprechend angepasst werden.
Das fordert auch der Wirtschaftsweise Truger. „Die Schuldenbremse braucht eine investitionsorientierte Reform und mehr Flexibilität in Ausnahmesituationen“, sagt er. „Öffentliche Investitionen sollten bis zu einer gewissen Grenze von der Schuldenbremse ausgenommen werden.“ Ökonom Krebs hingegen argumentiert, dass es schon jetzt genug Spielraum gibt. So zählen etwa die Ausgaben der Förderbank KfW nicht zu den Schulden des Bundes, für die die Bremse gilt. „Auf Bundesebene sehe ich nicht, dass die Schuldenbremse eine Investitionsbremse ist“, meint er.
So gehen die Meinungen auseinander. Spätestens mit dem Wahlkampf kommt das Thema zurück. Die Grünen jedenfalls haben den Vorstoß von Kanzleramtschef Braun begrüßt.
- bbbbbb
- Brandenburg neu entdecken
- Charlottenburg-Wilmersdorf
- Content Management Systeme
- Das wird ein ganz heißes Eisen
- Deutscher Filmpreis
- Die schönsten Radtouren in Berlin und Brandenburg
- Diversity
- Friedrichshain-Kreuzberg
- Lichtenberg
- Nachhaltigkeit
- Neukölln
- Pankow
- Reinickendorf
- Schweden
- Spandau
- Steglitz-Zehlendorf
- Tempelhof-Schöneberg
- VERERBEN & STIFTEN 2022
- Zukunft der Mobilität