Hightech aus dem Nahen Osten: Wie der Krieg aus Israel eine Start-up-Nation machte
Viele israelische Elitesoldaten nutzen ihr militärisches Wissen für ein privates Geschäft. Doch dieses Wirtschaftsmodell scheint in Gefahr.
Wer Kinder in Israel nach ihren Traumberufen fragt, bekommt immer die gleiche Antwort: Alle wollen Gründer werden. Das berichtet jedenfalls Gavril, der auf den Straßen Tel Avivs als Taxifahrer arbeitet. An den Vorstellungen dürften aus seiner Sicht auch die Eltern einen großen Anteil haben. „Jüdische Mütter raten ihren Kindern hier nicht mehr dazu, Anwalt oder Arzt zu werden“, sagt Gavril. Sie sollen später als erfolgreiche Unternehmer durchstarten, so die Hoffnung. Denn das verspreche am meisten Prestige – und jede Menge Geld.
Vorbilder haben die israelischen Kinder genug. Rund 8000 Start-ups gibt es laut der deutsch-israelischen Industrie- und Handelskammer derzeit in Israel. Ihr Zuhause sind die vielen modernen Hochhäuser im Zentrum Tel Avivs. Statt Bürostühlen liegen Sitzsäcke in den Ecken der Großraumbüros, die Mitarbeiter kommen mit kurzen Hosen und T-Shirts zur Arbeit. Manchmal steht sogar ein Plüsch-Einhorn im Regal – um die Ambitionen zu verdeutlichen, demnächst mehr als eine Milliarde Dollar wert sein zu wollen.
Es wirkt ganz so wie in Kalifornien. Wohl auch deshalb nennen die Gründer ihre Start-up-Szene hier mit großem Stolz das „Silicon Wadi“, arabisch für „Valley“. Der Name scheint jedenfalls Programm zu sein: Im vergangenen Jahr wurden schätzungsweise knapp sechseinhalb Milliarden Dollar in die Jungunternehmen des Landes investiert – das waren 17 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Damit verteilt sich in dem kleinen Land mit fast neun Millionen Einwohnern weltweit am meisten Wagniskapital auf eine Landesbevölkerung.
Auch die deutsche Wirtschaft blickt mittlerweile nach Israel. „Vor sieben, acht Jahren hatten noch gar nicht so viele deutsche Firmen ein Interesse daran, hierherzukommen“, sagt Charme Rykower von der deutsch-israelischen Industrie- und Handelskammer. Das sei heute anders. Im vergangenen Jahr reisten mehr als 40 Delegationen aus Deutschland in die Start-up-Nation im Nahen Osten, berichtet Rykower.
Vor allem im Herbst trifft sich die Branche traditionell in Tel Aviv, wie jetzt zu der gerade stattfindenden Digitalkonferenz „Digital Life Design“, kurz DLD. Jungunternehmer werben bei potenziellen Kunden für ihre Geschäftsideen, große Unternehmen sind auf der Suche nach neuen Übernahmen. Und andere feiern auf Galaveranstaltungen einfach nur den Verkauf ihres Startups für Millionenbeträge.
Hightech- und Finanz-Start-ups besonders erfolgreich
Das innovative Umfeld zieht auch viele Großkonzerne an. Einige Start-ups können mittlerweile Internetfirmen wie Google und Amazon, Autobauer wie Volkswagen und BMW oder Banken wie Barclays zu ihren Kunden zählen. Das britische Finanzhaus betreibt in Tel Aviv wie auch andere einen eigenen Start-up-Accelerator, der junge Firmen mit seinen Geldern aufbauen will.
Auf eines haben es die Investoren dabei besonders abgesehen: Hightech-Innovationen und Finanztechnologien. Viele Start-ups in Israel experimentieren mit der Blockchain-Technologie, arbeiten mit künstlicher Intelligenz . Die Hightech-Industrie macht schätzungsweise fast die Hälfte des Exports in dem rohstoffarmen Land aus.
Gründer nutzen militärisches Wissen
Einer der größten Erfolgsfaktoren der israelischen Hightech-Wirtschaft hat jedoch einen ernsten Hintergrund: die Sicherheitslage im Nahen Osten. Seit seiner Existenz ist Israel an Kriegen und gewaltsamen Konflikten mit seinen Nachbarn beteiligt gewesen. Die Streitkräfte des Landes haben sich zu einer der wohl schlagkräftigsten Armeen der Welt gemacht und sind technologisch weit vorne. Und von diesem Wissen dürften viele profitieren. Denn Männer müssen drei, Frauen fast zwei Jahre lang Wehrdienst leisten.
„Wir schaffen hier das Unmögliche, weil wir es gewohnt sind“, sagt etwa Nimrod Lehavi, der mit seiner Plattform „Simplex“ sichere Onlinetransaktionen anbietet. Lehavi trägt seit fast 20 Jahren immer eine Waffe bei sich – wegen der schwierigen Sicherheitslage damals, wie er sagt. Mittlerweile sei es zur Routine geworden. „Wenn ich die Waffe morgen ablege und es passiert etwas, dann würde ich es bereuen.“ Viele erfolgreiche Gründer waren früher in der Eliteeinheit 8200, die für die Fernmelde- und elektronische Aufklärung zuständig ist. Dort hat ihnen die Armee das technologische Wissen beigebracht, das viele nun für ihre private Geschäftsidee nutzen.
Eine Kultur des Scheiterns
Der Staat toleriert das nicht nur, er fördert es sogar explizit. In Israel bekommen junge Firmen zehn Jahre lang Steuererleichterungen. Wer Hardware entwickelt, kann zudem mit staatlichen Förderungen für Produktionsstätten rechnen. Den Grundstein für das reizvolle Investitionsumfeld habe aber Ex-Premierminister Schimon Peres in den 80er Jahren gelegt, sagen Gründer immer wieder. Er versprach amerikanischen Investoren damals, bis zu 50 Prozent ihrer Gelder abzusichern. Der Deal funktionierte wie ein Joint Venture: War das Geschäft eines israelischen Unternehmens erfolgreich, konnten sich die Investoren später die restlichen Anteile sichern. Ging die Firma pleite, haben Geldgeber lediglich die Hälfte ihrer Investitionen verloren.
Hinter dem Erfolg dürfte jedoch noch mehr stecken als nur das militärische Wissen und eine kluge Wirtschaftspolitik. Stolz sind die Israelis auf ihre Einstellung zum Scheitern. „Manche Unternehmer gründen hier drei oder vier Mal, bis endlich etwas klappt“, sagt etwa Amos Simantov, Geschäftsführer des Start-ups „Way2Wat“. Simantov hat vor drei Jahren eine Plattform gestartet, die es Firmen ermöglicht, aus nahezu jedem Land die Mehrwertsteuer ihrer Spesen von den örtlichen Finanzämtern zurückzufordern.
Wirtschaftsmodell in Gefahr
Siemens, BWM und Mercedes sollen bereits zu seinen Kunden gehören. Angst vor dem Scheitern hat Simantov keine. „Das ist mein Leben“, sagt der Gründer. „Es macht Spaß, ich genieße es.“ Daran kann auch die Statistik nichts ändern. Gut die Hälfte aller Gründer würden in den ersten Jahren scheitern, heißt es. Und nur die obersten zehn Prozent könnten richtig durchstarten.
Viele Unternehmer sehen das israelische Wirtschaftsmodell aber zunehmend in Gefahr. Denn nicht jeder zieht mit. Es sind vor allem die ultraorthodoxen Juden des Landes, die nach wie vor nicht im Arbeitsmarkt integriert sind. Anstatt zu arbeiten, widmen sich die Männer meist ausschließlich dem Studium der Tora, die Frauen erziehen die Kinder. In den Schulen der ultraorthodoxen Juden steht fast nur Religion auf dem Stundenplan, Mathematik oder Englisch werden selten unterrichtet. Und auch vom Wehrdienst im israelischen Militär sind die ultraorthodoxen Juden befreit – der Wissens- und Kontaktbörse fürs spätere Geschäft.
Investoren sehen "demografische Zeitbombe"
Der Anteil der Haredim, wie die Ultraorthodoxen in Israel auch genannt werden, wächst außerdem stark. Ihre Zahl ist zuletzt auf mehr als 800.000 gestiegen. Die Gruppe der Strenggläubigen macht damit inzwischen gut zehn Prozent der Bevölkerung aus. Der Grund: Ihre Geburtenrate ist deutlich höher als die der säkularen Israelis. Weil aber die staatlichen Grundhilfen kaum ausreichen, leben viele der Strenggläubigen in Armut. Medien berichten zunehmend von Zusammenstößen der beiden Gruppen. Orthodoxe Juden beschimpfen Soldaten als unreine Nichtjuden, die liberalen Israelis sehen in den Strenggläubigen hingegen Faulenzer, die auf Kosten der restlichen Gesellschaft leben.
Gründer und Investoren wie David Assia bezeichnen das als „demografische Zeitbombe“. Der Chef der israelischen Crowdinvesting-Plattform „iAngels“ investiert deshalb gelegentlich selbst in die Bildung des strenggläubigen Nachwuchses. Erst vor wenigen Wochen stiftete er einer orthodoxen Schule die Ausrüstung für eine Computerklasse für mehrere Zehntausend Dollar, wie sie an regulären Schulen des Landes längst üblich sind. Und wenn es sein muss, dann stellt Assia auch Geld für zwei Klassen zur Verfügung. Denn an den Schulen der ultraorthodoxen Juden werden Jungen und Mädchen zumeist in getrennten Gebäuden unterrichtet.
Organisationen wollen Aussteigern helfen
Tatsächlich versuchen junge ultraorthodoxe Juden aber immer häufiger, aus der Armut und dem strengen Regelkorsett auszubrechen. Mittlerweile gibt es sogar Organisationen, die den willigen Haredim dabei helfen wollen. Doch nicht alle schaffen es. Dazu sind die Unterschiede mittlerweile zu groß, heißt es hier.
Taxifahrer Gavril aus Tel Aviv hatte auch schon ein eigenes Start-up, erzählt er. Er vertrieb von Israel aus einen speziellen Zuckerersatz ins Ausland. Doch sein Unternehmen scheiterte, weshalb er heute Taxi fährt. Den Traum vom erfolgreichen Start-up hat der Mittfünfziger aber noch nicht aufgegeben. Er will demnächst wieder gründen. In Israel sei es dafür nie zu spät, sagt Gavril. Nur die Idee fehlt ihm noch.
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