Debatte um mehr Klimaschutz: „Wenn etwas nicht machbar ist, muss man Stopp sagen“
Wo stehen wir bei der Bekämpfung der Erderwärmung – und wie geht es weiter? Der Chef der Deutschen Energieagentur (Dena), Andreas Kuhlmann, im Interview.
Herr Kuhlmann, die Dena sieht sich auch als Diskussionsplattform für Energie- und Klimapolitik. Wie geht es Ihnen da in der Coronakrise?
Ich persönlich leide darunter, dass vertiefende Gespräche nicht mehr so gut möglich sind. Gesprächsbedarf gibt es mehr als sonst, digitale Termine auch. Aber weniger Möglichkeiten zum persönlichen Austausch. Bei alledem erleben wir aber auch, dass Energiewende und Klimapolitik eine Beschleunigung erfahren haben. Die Corona-Pandemie hat den Nachhaltigkeitsgedanken nach vorne gerückt.
Klimaschutz und Energiewende haben seit Gründung der Dena vor 20 Jahren tatsächlich selten oder noch nie so in der Aufmerksamkeit gestanden wie derzeit. Wie haben sie die Debatten der vergangenen beiden Jahrzehnte erlebt?
Es gab eine Menge Streit, aber wir sind auch weit gekommen. Weiter jedenfalls, als man im Jahre 2000 oder auch 2010 gedacht hätte. Aber auch die Ziele sind aus gutem Grund immer ambitionierter geworden. Energiewende und Klimaschutz sind voller Irrungen und Wirrungen. Daraus kann man im Rückblick eine Menge lernen. Sollte man zumindest.
Nennen Sie bitte ein Beispiel!
Die Stromnetze. Zunächst wurde der Ausbaubedarf durch die Energiewende unterschätzt und nicht früh genug eingeleitet. Letztlich ist die Belastbarkeit der Infrastruktur gleichzeitig aber auch viel höher als gedacht. Dass bei einigen Prozent Ökostrom-Anteil Schluss sein würde, war erkennbar Alarmismus. Aber dass 40, 50, 60 Prozent und mehr möglich sind bei sehr hoher Versorgungssicherheit? Da konnte man vor 20 Jahren auch noch nicht wirklich mit rechnen. Es geht aber!
Die Dena ist bei den Diskussionen ums Netz von Anfang an dabei – unter anderem mit ihren zwei Netzstudien. Jetzt arbeiten sie an der dritten. Wo liegt der Fokus?
Auf dem vielleicht wichtigsten Thema der kommenden Jahre: der integrierten Energiewende. Es geht im Grunde darum, wie man in Richtung einer integrierten Infrastrukturplanung vorankommen kann. Unter Einbeziehung von Innovationen, und bei Berücksichtigung verschiedener Leitbilder für das Energiesystem der Zukunft. Es geht auch darum, wie man gesellschaftspolitische Debatten und konkrete Netzausbauplanung besser voneinander trennen kann. In Bord und Beirat sind Netzbetreiber, Landespolitik, NGOs und andere. Und vor allem ist der Austausch mit Bundesnetzagentur und Bundeswirtschaftsministerium ein elementarer Bestandteil. Wir können hier einen echten Schritt vorankommen.
Kurz zurück zum Gesamtblick: Welche Technologien haben sich überraschend entwickelt und von welchen erwarten Sie auf dem Weg zur Klimaneutralität erheblichen Einfluss?
Windenergie und Photovoltaik stehen noch immer im Fokus, nicht anders als vor 20 Jahren. Innerhalb dieser Techniken gab es aber große Sprünge: enorme Effizienzsteigerungen, schwimmende Offshore-Wind-Plattformen. Aber auch beim Thema Speicher – elektrisch und thermisch – und der Elektromobilität oder bei industriellen Prozess-Technologien hat sich viel entwickelt. Und vergessen sie nicht die Digitalisierung. Die Energiewende hat Millionen dezentrale Komponenten ins Spiel gebracht, die wären sonst gar nicht zu steuern. Und klar, in den nächsten Jahren geht es auch darum die Welt der Moleküle – also Wasserstoff, grüne Gase und Flüssigkeiten – für die Klimaneutralität zu erschließen. Ohne Moleküle keine Klimaneutralität.
Bei den Emissionssenkungen war die Entwicklung dennoch enttäuschend, oder?
Wer hätte 1992 in Rio de Janeiro bei der ersten großen Klima- und Umweltkonferenz gedacht, dass ein Land wie Deutschland 40 Prozent Emissionsminus bis 2020 erreicht? Gerade zuletzt ist wieder viel passiert: CO2-Preis, Klimaschutzgesetz und Klimapaket, Maßnahmen im Konjunkturpaket. In den letzten fünf Jahren hat sich die Produktion von Kohlestrom in Deutschland in etwa halbiert.
Und die deutsche Spitzenpolitik?
Wir haben mit Svenja Schulze eine Klimaministerin, die diesen Namen auch wirklich verdient. Wir haben einen Wirtschaftsminister, der zwar Fehler einräumt, aber jetzt auch aufs Tempo drückt. Klimapolitik ist Mainstream, so wie Sozialpolitik Mainstream wurde. Aber zur Wahrheit gehört auch: Die jährlichen globalen CO2-Emissionen sind seit Rio um mehr als 50 Prozent gestiegen. Dass das Wachstum des globalen Wohlstands die Emissionen in vielen früheren Schwellenländern derart schnell nach oben drückt, wurde damals massiv unterschätzt. Wir schauen leider zu sehr auf uns und zu wenig darauf, was wir in anderen Regionen der Welt zum Klimaschutz beitragen können.
Trotz einiger Erfolge: An vielen Stellen wird der Ruf nach einem radikalen, umfassenden Umbau der Gesellschaft zur Entschärfung der Klimakrise laut – der Systemwechsel wird gefordert. Was halten Sie davon?
Das stimmt. Die Enzyklika Laudato Sí von Papst Franziskus aus dem Jahr 2015 ist ein Beispiel dafür und natürlich alles das, was sich aus dem großartigen Engagement rund um Fridays for Future ergeben hat. Dass etwas grundlegend im Argen liegt, kann man nicht leugnen. Manche Debatten sind allerdings auch skurril. Dennoch: Auch bei mir hat das natürlich allerlei ausgelöst.
Warum?
Vor zwei Jahren war ich sicher, dass ich ein Treiber von Energiewende und Klimaschutz bin. Mit den Forderungen der Fridays fühlte ich mich einen Moment lang aber fast schon wie Establishment. Man schleppt in seinem Rucksack manch eine festgefahrene Diskussion der letzten 30 Jahre mit sich und nun sieht man, dass es sich lohnt, da noch mal dran zu rütteln. Manche Erfahrungen und manches Wissen in diesem Rucksack sind allerdings auch nach wie vor hilfreich. Bei der Dena sind wir seitdem noch einmal mutiger geworden, aber es ist auch unser Job zu sagen, was eben nicht geht.
Deshalb haben Sie die jüngst veröffentlichte FFF-Studie vom Wuppertal Institut kritisiert.
Die Studie habe ich nicht kritisiert, aber die Interpretation der Ergebnisse. Denn wenn etwas als machbar dargestellt wird, was auch beim besten Willen nicht machbar ist, dann muss auch mal jemand sagen: Stopp, das stimmt einfach nicht. Ihr habt nicht alle Perspektiven im Blick, es gibt technische, wirtschaftliche und auch gesellschaftspolitische Grenzen.
Prüfen wir doch einmal Ihre Radikalität: Ist die Einhaltung der Pariser Klimaziele zu schaffen?
Paris ist für mich extrem bedeutend. Es hat die Unumkehrbarkeit der Klimapolitik gesichert. Wenn es um die unmittelbare Umsetzung in einem bestimmten Jahr geht, dann wird es allerdings kompliziert. Die Sache mit den Budget-Ansätzen und der Verteilung vermeintlicher Restbudgets ist anders als es oft dargestellt wird, eben nicht in Stein gemeißelt. Der zweite Punkt, der postuliert wird: Technologisch sei alles vorhanden, was wir brauchen. Das ist schlicht falsch.
Warum?
Man sieht es doch an der Studie für die Fridays. Es ist der Versuch mit dem, was wir heute wissen, ein spezielles Ziel zu erreichen. Die vorhandenen Technologien werden in einer Art überdehnt, dass das Ergebnis eben frustrierend ist. Die Veränderungsdynamik von materiellen und immateriellen Beständen wird oftmals gewaltig unterschätzt und das verstellt uns den Blick auf neue Optionen, die wir auch weiterhin brauchen werden. Dass verzagte Gerede von Wasserstoff als überteuerter Champagner ist eines der unmittelbaren Ergebnisse solch einer Vorgehensart. Es wird noch viele bahnbrechende Entwicklungen geben.
Wie kommen Durchbrüche zustande?
Einiges sehen wir jetzt schon bei all den Start-ups aus aller Welt mit denen wir bei der Dena zu tun haben. Dem müssen wir offen und mit mehr Engagement und Zuversicht begegnen. Und mir gibt noch etwas Hoffnung, was wir oft unterschätzen: Zeit ist physikalisch zumindest für uns Erdenmenschen linear, die chronologische Zeit. Die alten Griechen wussten, dass es neben Chronos auch Kairos gibt, die Gunst der Stunde und die Verdichtung der Zeit auf einen besonderen Moment. Vielleicht ergibt sich für den Klimaschutz ein weiterer solcher Kairos-Moment mit den Wahlen in den USA. Dann haben wir mit den USA, China und der EU drei riesige Handelsblöcke mit sehr ambitionierten Zielen und zuletzt sind noch weitere wichtige Länder hinzugekommen. Solche Momente muss man nutzen.
Die Frage, ob die Paris-Ziele einhaltbar sind, haben Sie noch nicht beantwortet.
Mit den Mitteln, die wir heute kennen und mit Blick auf den aktuellen Zustand der Welt sicher nicht. Aber jedes zehntel Grad zählt! Ich persönlich halte es bei alledem mit einem Song von Rio Reiser: „Der Traum ist aus! Aber ich werde alles geben, dass er Wirklichkeit wird.“ Und zwar mit all der Kraft, die er dem wunderbaren Lied 1988 in der Ostberliner Seelenbinderhalle mitgegeben hat. Nur wenige Zeit später ist die Berliner Mauer gefallen.
Vor einigen Jahren wurde viel über die All-Electric-Society gesprochen, über die Elektrifizierung aller Energiebedarfe. Freuen Sie sich, dass die Dena mit einer gewissen Skepsis recht behalten hat?
Alles, was effizient elektrisiert werden kann, sollte auch elektrifiziert werden. Aber nehmen Sie das Beispiel Wärmepumpe: Manche sagen, sechs Millionen Geräte sollen bis 2030 installiert werden. Ich sehe aktuell nicht, dass das technisch geht und ich will mir rechtzeitig Gedanken machen, was wir sonst noch vorantreiben können, um keine Lücke zu bekommen. Was mich aber vor allem irritiert hat, war das Ausblenden der Moleküle aus dem Diskurs. Strom deckt derzeit etwa 20 Prozent des Energiebedarfs. Ein Anstieg auf 50, 60 oder von mir aus auch 70 Prozent in den kommenden Jahrzehnten wäre schon sensationell. Für den Rest brauchen wir Moleküle, ob flüssig oder gasförmig. Und ja, ich freue mich, dass sich die Sicht der Dena hier im Diskurs durchgesetzt hat.
Wenn man 20 Jahre Dena begangen hat, macht man sich vermutlich besonders intensiv Gedanken über die Zukunft der Organisation. Was ist dabei herausgekommen?
Wir verstehen uns ja als „Thinktank der angewandten Energiewende“. Wir machen den Abgleich zwischen dem „was sein soll“ und dem „was geht“. Und dabei lassen wir uns immer wieder was Neues einfallen, damit die Lücke zwischen beidem so klein wie möglich ist. Die meisten kennen unsere direkten Tätigkeiten, zum Beispiel die Vorreiterrolle beim Gebäude-Energieeffizienz-Ausweis und die schon erwähnten Netzstudien sowie die Leitstudien von uns. Die Dena ist aber auch ein Brückenbauer und bringt unterschiedlichste Stakeholder zusammen: etablierte Unternehmen, Wissenschaft. Zivilgesellschaft. Und mit großer Liebe auch Start-ups. Allein in unserem globalem SET-Innovation-Netzwerk befinden sich rund 1500 Start-ups und andere Innovatoren. Zwischen all denen wollen wir Brücken bauen, aber mit einem klaren Ziel: Energiewende und Klimaschutz erfolgreich gestalten.
Wie ist es da um Ihren Bewegungsspielraum bestellt? Stimmberechtige Gesellschafter sind vier Bundesministerien und die staatliche Förderbank KfW.
Aus unserem Aufsichtsrat bekommen wir für den Ansatz viel Unterstützung. Das gilt übrigens auch und vor allem für den Vorsitzenden, CDU-Wirtschaftsstaatssekretär Thomas Bareiß. Wir wissen, dass wir manchmal auch anstrengend sind. Aber die Art, wie wir die Dinge angehen, führt dazu, dass wir viele Anfragen aus allen Richtungen bekommen. Ich habe das Gefühl, dass unsere einordnende Rolle und unsere Analysen und Argumente geschätzt werden. Das freut mich vor allem für die rund 280 Kolleginnen und Kollegen, die wir mittlerweile haben. Das ist ein klasse Team und ich bin stolz, ein Teil davon sein zu dürfen.