Bericht des Rats der Arbeitswelt: Weniger Minijobs, mehr Weiterbildung und Schutz für Soloselbstständige
Zum ersten Mal legt der neue Sachverständigenrat einen Bericht vor mit Empfehlungen an die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik.
Minijobs sukzessive abschaffen, Soloselbstständige besser schützen und Weiterbildung zu einer tragenden Säule des Bildungssystems machen - das sind kurz gefasst die wichtigsten Empfehlungen des Rats der Arbeitswelt, der am Dienstag seinen ersten Bericht vorlegt. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hatte das Gremium Anfang 2020 eingesetzt und dazu Wissenschaftlerinnen, Gewerkschafter und Betriebsräte sowie Arbeitgebervertreter berufen. Kurz darauf tauchte Corona auf, und so widmete sich das Gremium auch Themen, die in der Pandemie auffällig wurden: Die Bedingungen in der Pflege, die Bedeutung des Betriebs als sozialer Ort kontrastiert mit Homeoffice und schließlich und überhaupt die Krisenanfälligkeit von prekären Arbeitsverhältnissen, die durch das soziale Netz rutschen, weil es zum Beispiel keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld und kaum Kündigungsschutz gibt.
Sechs Millionen Minijobber
Ende vergangenen Jahren arbeiteten hierzulande knapp sechs Millionen Millionen Menschen als Minijobber im gewerblichen Bereich. „Die Minijobregelung gehört in der nächsten Legislaturperiode auf den Prüfstand“, forderte kürzlich das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Sie begrenze für viele Beschäftigte das Arbeitsangebot und verhindere höhere Einkommen. Schließlich habe sich in der Pandemie die Verletzlichkeit der Minijobberinnen gezeigt, die für das DIW „klare VerliererInnen der Krise sind". Die Wissenschaftler schlagen vor, diese Beschäftigungsform nur noch für Studierende und Rentner zuzulassen.
Der Rat der Arbeitswelt schließt sich dem an, erweitert den Kreis aber noch um Übungsleiter in Sportvereinen und zieht dazu eine so genannte Bagatellgrenze von 3000 Euro im Jahr, bis zu der Arbeitseinkommen steuer- und sozialversicherungsfrei bleiben. Für eine „stufenweisen Abschaffung“ der Minijobs plädiert der Rat und führt mehrere Argumente an. Ratsmitglied Ulrich Walwei zufolge, Vizedirektor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), verhindert der massenweise Einsatz von Minijobbern, dass das Erwerbspotenzial auf dem Arbeitsmarkt ausgeschöpft wird. Ferner, so die Einschätzung im Rat, sei der Einsatz der 450-Euro-Kräfte bürokratisch und aufwändig und blockiere die soziale Mobilität, da viele Minijobber in prekären Arbeitsverhältnissen über Jahre stecken blieben.
Soloselbstständige in Not
Eine andere Gruppe, die die Anti-Corona-Maßnahmen besonders trifft, sind Soloselbstständige. „Die Wahrscheinlichkeit von Einkommenseinbußen bei Selbstständigen und Freiberuflern war im April 2020 um 30 Prozentpunkte höher als bei abhängig Beschäftigten“, heißt es in einer Studie des Tübinger Instituts IAW für den Rat der Arbeitswelt. Große Sorgen um die eigene finanzielle Situation mache sich ein doppelt so hoher Anteil der Selbstständigen im Vergleich zu den abhängig Beschäftigten, die Kurzarbeitergeld beziehen.
Der Rat der Arbeitswelt widmet sich in seinem Bericht zum Einen der Frage, wie der Schutz der Soloselbstständigen verbessert und zum anderen der Einsatz von Scheinselbstständigen erschwert werden kann. Zumal Letztere den Wettbewerb verzerren und sich nicht an der Finanzierung der Sozialsysteme beteiligen.
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Für die Soloselbstständigen empfiehlt das Gremium eine erleichterte aber freiwillige Einbeziehung in die Arbeitslosenversicherung. Ferner sollte es eine Pflicht zur Altersvorsorge, die Einbeziehung in die gesetzliche Unfallversicherung sowie eine Absenkung des Mindestbeitrags zur Krankenversicherung geben. Scheinselbstständige wiederum könnten künftig rückwirkend als Arbeitnehmer anerkannt werden. Das ist aufgrund der Rechtsprechung der Arbeitsgerichte bereits möglich, wenn Scheinselbstständige in die Organisation eines Arbeitgebers integriert sind und Weisungen erhalten. Künftig sollte es nach der Empfehlung des Rates dafür eine gesetzliche Grundlage geben. Im Blick haben die Sachverständigen etwa Paketbot:innen, Lieferdienste oder Fahrer. „Das ist ein wichtiger Schritt nach vorn“, kommentiert ein Ratsmitglied diese Empfehlung.
Mehr Personal für die Pflege
Bei der Pflege wiederum wünschen sich die Experten eine stärkere Übereinstimmung von Berufswahlmotivation und Berufswirklichkeit. Trotz der Pandemiebelastung in der Alten- und Krankenpflege lassen sich noch immer viele junge Menschen in einem Pflegeberuf ausbilden. Nicht wenige verlassen den Job nach einigen Jahren wegen der Arbeitsumstände oder sie reduzieren die Arbeitszeit. Der Rat der Arbeitswelt plädiert dafür, die Personalausstattung dem tatsächlichen Bedarf einen menschenorientierten Betreuung anzupassen. Für den Krankenhausbereich liegt ein entsprechendes Personalbemessungsinstrumentarium vor, wird aber nicht angewendet.
Rund 200 000 Personen sind ohne Berufsabschluss in der Altenpflege tätig. Der Rat empfiehlt für diese Gruppe eine forcierte Weiterbildung zur Pflegefachkraft und dazu eine einheitliche Berufsbezeichnung, die es bislang im föderalen deutschen System nicht gibt.
Lebensbegleitende Berufsberatung
Dem Thema Weiterbildung im Wandel hat sich der Rat intensiv gewidmet. Durch Digitalisierung und Dekarbonisierung beschleunigt sich die Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft, ohne dass die Weiterbildungsstrukturen auf der Höhe der Zeit wären. Für die rund 18 000 Weiterbildungsanbieter hierzulande regt der Rat Mindestqualitätsstandards und ein Zertifizierungssystem an. Die Bundesagentur für Arbeit soll ferner eine „lebensbegleitende Berufsberatung“ anbieten, und die Altersgrenze für den Bezug von Bafög müsste angehoben werden – womöglich nach schwedischem Vorbild auf 56 Jahre.
Bildung hat Vorrang
Mit Hilfe einer „investiven Arbeitsmarktpolitik“ soll die Berufsausbildung künftig Vorrang haben vor der Vermittlung in Beschäftigung. Das wäre ein Paradigmenwechsel, denn seit der Einführung der Arbeitsmarktreformen im Rahmen der rot-grünen Agendapolitik hieß die Devise „Hauptsache Arbeit, egal zu welchen Bedingungen“. Das forcierte den Aufbau des Niedriglohnsektors. Der Rat hat sich nun über eine Re-Regulierung des Arbeitsmarktes Gedanken gemacht.
Drei Ratsmitglieder gingen vorzeitig
Den ersten Bericht inklusive Schlussfolgerungen präsentieren neben Minister Heil am Dienstag die Ratsmitglieder Isabel Rothe, Präsidentin der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, sowie Stephan Schwarz, Gesellschafter des Gebäudedienstleisters GRG und ehemals Präsident der Berliner Handwerkskammer. Aus Pandemiegründen sind nicht mehr Mitglieder anwesend, und einige Prominente sind schon vor Wochen ausgeschieden. Bettina Volkens, ehemals im Lufthansa-Vorstand für das Personal zuständig, Janina Kugel, in gleicher Funktion bis Anfang 2020 bei Siemens, sowie Uschi Backes-Gellner, Betriebswirtschaftsprofessorin in Zürich, hatten die Lust verloren an der aufwändigen und eher mäßig vergüteten Expertentätigkeit. Volkens, die von der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA) vorgeschlagen worden war, sperrte sich ebenso wie Kugel grundsätzlich gegen staatliche Interventionen auf dem Arbeitsmarkt.
Bis zum Ende dabei waren der frühere Verdi-Vorsitzende Frank Bsirske, Sinischa Horvart, Konzernbetriebsrat der BASF; Iwer Jensen, ehemals Vorstandschef eines Bauunternehmens, Matthias Möreke, stellvertretender Betriebsratsvorsitzender des VW-Werks in Braunschweig, Michaela Ewans, Direktorin des Instituts für Arbeit und Technik, sowie die Arbeitssoziologin Sabine Pfeiffer.
Arbeitgeber gehen auf Distanz
Was aus den Ratsempfehlung wird, hängt nun von der Politik ab – und dem Zusammenspiel der Sozialpartner. Die Arbeitgeber gehen schon bevor etwas auf dem Tisch liegt auf Distanz. „Die BDA ist an der Erstellung des Berichtes nicht mehr beteiligt und macht sich daher dessen Ergebnisse auch nicht zu eigen“, heißt es auf Anfrage. Ob und wie der Rat seine Arbeit überhaupt fortsetzt, hängt ab von der nächsten Bundesregierung. Bsirske jedenfalls hat sich von den Kolleginnen und Kollegen verabschiedet: Auf dem Ticket der Grünen zieht er voraussichtlich in den nächsten Bundestag.