Konferenz des Tagesspiegel-Verlags: Was Deutschlands Verbände von Jamaika erwarten
Die Konferenz „Agenda 2018“ stimmte auf ein schwarz-gelb-grünes Bündnis im Bund ein. Saarlands Regierungschefin Annegret Kramp-Karrenbauer schlug erste Pflöcke ein.
Annegret Kramp-Karrenbauer, CDU-Ministerpräsidentin im Saarland, hat am Dienstag konkrete Erwartungen an den Koalitionsvertrag der künftigen Regierungspartner geäußert. Sie selbst wird den Vertrag mit aushandeln. Unter anderem unterstützt Kramp-Karrenbauer die Idee, eine Enquetekommission zu Rentenfragen einzuberufen, die auch das Thema Pflege einbeziehen solle. „Wir haben in Deutschland gute Erfahrungen mit überparteilichen Kommissionen in der Rentenfrage gemacht“, sagte sie. Angesichts der aktuellen Situation gehöre die Pflege in eine solche Kommission zwingend hinein.
Um die Digitalisierung Deutschlands voranzubringen, plädiert sie für die Bündelung der bisher in verschiedenen Ministerien angesiedelten Zuständigkeiten im Kanzleramt, „weil wir bei dem Thema den Durchgriff auf die anderen Ressorts brauchen“. Als zentrale Anliegen für die Koalitionsverhandlungen nannte sie Maßnahmen zur Schaffung bezahlbaren Wohnraums in Ballungszentren und die Schaffung besserer Strukturen im ländlichen Raum.
„Damit der Druck auf die Ballungszentren nicht weiter wächst.“ Dies betreffe die Gesundheitsversorgung, die Pflege, öffentliche Verkehrsmittel und das Internet. Grundsätzlich müssten die Länderinteressen stärker berücksichtigt werden. Forderungen nach einer Zentralisierung der Bildung, wie sie die FDP im Wahlkampf formuliert hatte, trat Kramp-Karrenbauer entschieden entgegen. Eine Angleichung der Bildungsangebote und der digitalen Bildung könne auch auf Ebene Kultusministerkonferenz verabredet werden. „Was wir brauchen ist ein Bildungsgipfel für Digitalisierung mit konkreten Vereinbarungen.“
Gäste stimmen auf der "Agenda"-Konferenz über Thesen ab
Die CDU-Politikerin sprach auf der vierten „Agenda“ des Tagesspiegels, der ersten unmittelbar nach einer Bundestagswahl, wie Tagesspiegel-Herausgeber Sebastian Turner bei seiner Begrüßung erwähnte. Chefredakteur Stephan-Andreas Casdorff, der die mehr als 200 Besucher durch den Tag im Verlagshaus führte, erklärte für alle die bewährten Regeln: Jeder Verbandsvertreter habe für seinen Kurzvortrag mit Forderungen an die künftige Koalition, nicht mehr als fünf Minuten Zeit. Eine von manchen Rednern gefürchtete, aber von den meisten Zuhörern geschätzte Stoppuhr auf einem Großbildschirm zählte ungnädig die Sekunden. Am Ende wurde die zentrale These der Rednerin oder des Redners eingeblendet: Und alle Gäste waren eingeladen, per Knopfdruck ihre Meinung auf einer Skala von 1 (Ablehnung) bis 5 (Zustimmung) auszudrücken.
Agenda 2018 für Klima Energie und Bau
Den Anfang beim ersten Konferenzschwerpunkt rund um Energie und Klima machte Stefan Kapferer, Hauptgeschäftsführer des Verbandes der Energie- und Wasserwirtschaft BDEW. Er forderte, dass die neue Regierung die Stromsteuer auf ein „zulässiges Minimum“ senkt. Im Ergebnis könnte der Strompreis um vier Cent pro Kilowattstunde sinken. Auch seiner Branche sei klar, dass die Klimaziele von Paris nur mit einem Kohleausstieg zu erreichen seien. „Aber das allein wird nicht reichen.“ Deshalb forderte FDP-Mitglied Kapferer die künftige Koalition auf, die energetische Sanierung von Häusern und Wohnungen steuerlich abzugsfähig zu machen. Dadurch könnten in Deutschland mehr als 30 Millionen Tonnen CO2 im Jahr gespart werden.
Es folgte eine Diskussion mit Jakob Schlandt, dem Leiter der Tagesspiegel-Fachdienstes Background Energie und Klima. Dort brachte CDU-Energiepolitiker Thomas Bareiß zum Ausdruck, dass er Deutschlands Klimaziel 2020 bereits aufgegeben. „Es ist nicht zu erreichen, aber nach 2020 könnten wir die CO2-Emissionen dann stärker reduzieren“, sagte der wiedergewählte Bundestagsabgeordnete. Damit bestätigte Bareiß die Vorhersage der Grünen-Energiepolitikerin Julia Verlinden, die ebenfalls wieder im Parlament sitzt. Sie sagte über die anstehenden Sondierungen für eine Jamaika-Koalition: „Wir haben sehr schwierige Gespräche vor uns. Ein Weiter so mit ein bisschen grüner Farbe drüber wird es nicht geben.“
Die energiepolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion forderte, die schmutzigsten Kohlekraftwerke möglichst bald stillzulegen. Die größten CO2-Schleudern Europas stünden in Nordrhein-Westfalen. Außerdem müsse es deutliche Fortschritte in den Bereichen Verkehr und Gebäude geben. Im Koalitionsvertrag müsse festgelegt werden, welche Sektoren ihre CO2-Emissionen wie stark senken müssen. Ihr Fazit: „Mit einem steigenden Meeresspiegel kann man nicht verhandeln.“
Trotz dieser Meinungsverschiedenheiten sagte Claudia Kemfert, Energieexpertin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, über eine Jamaika-Koalition: „Ich sehe Chancen in dieser Konstellation.“ Die Grünen müssten die Energiewende voranbringen, die FDP setze auf marktwirtschaftliche Instrumente. Allerdings müssten die Liberalen noch definieren, was sie darunter verstehen. Auch reiche es nicht, allein einen CO2-Mindestpreis festzulegen und den Rest dem Markt zu überlassen. Dabei gebe es im Detail zu viele Probleme, sagte Kemfert.
Agenda 2018 für Innere und äußere Sicherheit plus Integration
Das Thema Sicherheit in jeder Facette war ja ein großes Thema im Wahlkampf – dort auch im Kontext mit dem Thema Integration von Geflüchteten und Zuwanderern. Moderator Malte Lehming, Autor des Tagesspiegels, wies zum Beginn seiner Diskussionsrunde darauf hin, dass diese Komplexe nicht zwingend zusammengehören, was Prälat Peter Neher, der Präsident des Caritasverbandes, in seinem Kurzvortrag dankbar aufgriff. Man wolle mögliche Sicherheitsprobleme nicht leugnen, „aber diese Fokussierung auf Sicherheitsfragen lenkt von der eigentlichen Aufgabe ab“. Integration brauche einen langen Atem, Ehrlichkeit und Vertrauen, sagte Neher. Diese These erhielt bei der anschließenden Abstimmung auf der 1-bis-5-Skala einen guten Zustimmungswert von 4,2.
Deutlich schwerer hatte es Hans Christian Atzpodien, Hauptgeschäftsführer der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV), mit seinem Werben für höhere Verteidigungsausgaben und einen Verzicht auf schärfere Exportrichtlinien unter einer neuen Bundesregierung. „Unsere Industrie exportiert Rüstungsgüter auf der Grundlage der bestehenden Exportgesetze und im Einklang mit den geltenden Vorgaben der Bundesregierung“, lautete seine eher defensiv formulierte Grundthese. Sie fand unter den fünf Fünfminutenbriefings in diesem Debattenblock die geringste Zustimmung. Hans-Wilhelm Dünn vom Cyber-Sicherheitsrat Deutschland erzielte mit seiner Kernaussage („Der IT-Fachkräftemangel ist ein Risiko für Digitalisierung und IT-Sicherheit. Lehrpläne müssen angepasst und IT-Experten vernetzt werden.“) eine ähnlich hohe Zustimmung wie der Caritas-Präsident.
Moderator Lehming diskutierte unter dem Eindruck der Thesen mit den Außenpolitikern Niels Annen (SPD) und Alexander Graf Lambsdorff (FDP) sowie mit Joachim Krause, emeritierter Professor für Politikwissenschaften in Kiel. Letzterer warnte eindringlich vor einem Konflikt der Nato mit den Russen im Baltikum. Zudem müsse die Bundesregierung in Moskau eine Antwort auf die Frage einfordern, warum in Nordkorea Raketen russischer Bauart auftauchen.
Agenda für Wirtschaft, Verkehr und Digitales
Im Politikbereich Wirtschaft, Verkehr und Digitales wurde deutlich, dass der Dieselskandal die Politik auch in der kommenden Legislaturperiode beschäftigen wird. Und zwar auf unterschiedlichen Feldern: Klaus Müller, Vorstand des Verbraucherzentrale Bundesverbands, forderte als Konsequenz aus dem VW-Betrugsskandal die Einführung einer Musterfeststellungsklage, über die Ansprüche von Konsumenten gesammelt durchgesetzt werden könnten. „Die Hersteller müssen gezwungen werden, manipulierte Autos auf eigene Kosten umzurüsten und Garantien zu übernehmen“, sagte Müller. Der Forderung schloss sich später auch der Linken-Politiker und frühere Gewerkschafter Klaus Ernst an.
Existenzielle finanzielle Risiken für die Autoindustrie und damit auch für die Mitarbeiter in der Autoindustrie fürchtet er nicht. „Wenn man sieht, wie schnell VW das Geld für Entschädigungszahlungen in den USA zur Verfügung hatte, dann wird klar: Die versteckten Gewinne der Unternehmen sind so groß, dass auch Entschädigungen in Europa möglich wären.“ Beschäftigte und Verbraucher müssten vor kriminellen Machenschaften der Konzerne geschützt werden, so Ernst weiter.
Kay Lindemann, Geschäftsführer des Verbands der Automobilindustrie, warnte indes davor, als Folge der Debatte um den Diesel schon jetzt Vorgaben für die Antriebstechnik der Zukunft zu machen. „Wir wissen derzeit noch nicht, welcher Antrieb 2030 oder 2050 der beste sein wird, ob das der Elektroantrieb, der Verbrennungsmotor oder die Brennstoffzelle sein wird“, begründete er. Statt Fahrverbote auszusprechen müsse der Staat Anreize zur Flottenerneuerung setzen. Innovative Mobilitätskonzepte hingen zudem vom Ausbau der digitalen Infrastruktur ab.
In diese Kerbe schlug auch Bernhard Rohleder, Hauptgeschäftsführer des Branchenverbandes Bitkom. „Das Motto der Legislaturperiode muss lauten: digital für alle“, sagte er. „Wir brauchen nicht nur Breitband in Schulen, sondern auch in Altenheimen, wir brauchen eine Bundeszentrale für digitale Bildung, digitale Streetworker, kurz: Wir müssen Deutschland wirklich digital machen.“
Claudia Große-Leege, Geschäftsführerin des Verbandes deutscher Unternehmerinnen, forderte eine Forschungs- und Gründungsförderung in der Digitalwirtschaft besonders für Mädchen und Frauen; Stefan Genth, Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands Deutschland, plädierte für mehr Einkaufsmöglichkeiten an Sonntagen, um dem veränderten Kundenverhalten Rechnung zu tragen, und forderte eine faire Finanzierung der Energiewende, damit Konsum möglich bleibe. Verbraucherschützer Müller schlug außerdem eine Aufsichtsbehörde für Algorithmen vor, die Zugänge von Verbrauchern zum Online-Shopping und zu Krediten regeln.
Agenda 2018 für Gesundheit und Soziales
In der Gesundheits- und Sozialpolitik werden sich die künftigen Regierungspartner mit Dauerbrenner-Themen befassen müssen – allen voran mit dem Pflegenotstand und auch mit dem Kostendruck und Personalmangel in Krankenhäusern. Zur Entlastung des Systems müsse künftig konsequent gelten: ambulant vor stationär, sagte Andreas Gassen Vorstandsvorsitzender der kassenärztlichen Bundesvereinigung. Irene Maier, Vizepräsidentin des Deutschen Pflegerates, forderte die Politik auf, bessere Rahmenbedingugen für Pflegeberufe auf den Weg zu bringen und den Beruf damit wieder attraktiver für junge Menschen zu machen. In einigen Bereichen, etwa in der Intensivmedizin müssten zudem Pfelgeschlüssel festgelegt werden. „Es kann nicht sein, dass sich ein Intensivpfleger bei uns um vier Patienten kümmern muss, in anderen Ländern dagegen nur um zwei“, sagte sie. Auch bei der Qualität der Ausbildung sieht sie Deutschland im Hintertreffen.
Nach Ansicht von Martin Zintgraf, Vorsitzender des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie, droht Deutschland indes auch, seine Vorreiterrolle bei der Entwicklung biologischer Arzneimittel einzubüßen. Die Politik sei gefordert, Innovationen „made in Germany“, die sich durch einen hohen Qualitätsstandard auszeichneten, zu fördern, sagte er.
Georg Baum, Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft, machte sich für eine Weiterentwicklung von Krankenhäusern zu vernetzten Versorgungszentren stark, in die auch ambulante Arztpraxen integriert werden sollen. „Das kann gerade in ländlichen Regionen die Versorgung verbessern.“ In diesem Sinne sagte Friedemann Schmidt, Präsident der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände, sei Gesundheitspolitik auch Strukturpolitik. Denn wenn eine Versorgung mit Ärzten und Apotheken im ländlichen Raum nicht sichergestellt sei, zögen gerade junge Familien von dort weg.
Lesen Sie hier, was Luxemburgs-Außenminister Jean Asselborn der neuen Regierung auf der Agenda-Konferenz empfohlen hat.
Rückblick auf die Konferenz "Agenda 2017" beim Tagesspiegel.