zum Hauptinhalt
In den USA und Großbritannien gehören die Lieferanten von Amazon Fresh vielerorts längst ins Stadtbild.
© REUTERS

Lebensmittel-Lieferdienst: Warum Amazon Fresh bald in Deutschland starten könnte

Die Hinweise verdichten sich, dass der US-Konzern in naher Zukunft frische Lebensmittel in Deutschland liefert. Das könnte die Branche radikal verändern.

Von Maris Hubschmid

Nahe München wird in diesen Tagen ein Logistikzentrum gebaut – mit Kühlbereich. Die Tragweite dieser Nachricht könnte manchem Lebensmittelhändler Angst einjagen. Zumindest, wenn es stimmt, was einige erzählen: dass der Bauherr der US-Konzern Amazon ist.

Amazon dementiert die Gerüchte nicht

Gerüchte über einen bevorstehenden Start des Lebensmittellieferdienstes Amazon Fresh gab es immer wieder. Doch noch nie sprach so viel dafür wie jetzt. Das Unternehmen kommentiert die Information nicht, dementiert sie aber auch nicht.

Erst vor wenigen Tagen hat Amazon sein Lebensmittelangebot im sogenannten Trockensegment stark erweitert. Wie die Supermarktkette Tegut Anfang März mitteilte, bietet der Internethändler ab sofort tausende Produkte aus dem Sortiment der Kette, die vor allem in Süd- und Mitteldeutschland angesiedelt ist, zum Onlinekauf an. Bereits jetzt können Kunden im Bereich „Amazon Pantry“ Artikel des täglichen Bedarfs bestellen, wie Zahnpasta, Toilettenpapier, aber eben auch Konserven oder andere nicht kühlungsbedürftige Nahrungsmittel wie Cerealien und Süßigkeiten. Von einer Partnerschaft mit einem erfahrenen Lebensmittelhändler hin zur Lieferung frischer Waren wie Obst, Fleisch oder Milchprodukten scheint es nur noch ein kleiner Schritt.

Übernimmt Amazon tatsächlich [...] die Auslieferung online bestellter Lebensmittel, dann sind alle brav Einkommensteuer zahlenden deutschen Unternehmen, die ebenfalls online bestellte Lebensmittel ausliefern, im höchsten Maße benachteiligt.

schreibt NutzerIn Violett

Tegut ist der ideale Partner: Er hat nichts zu verlieren

Dass Tegut dieser Partner ist, liegt nahe. Bislang hat Tegut keinen eigenen Lieferdienst – und eine eher bescheidenen Position in dem von wenigen Akteuren dominierten Markt. Mithilfe von Amazon könnte Tegut aufholen. Die mächtigeren Wettbewerber hingegen dürften kein Interesse daran haben, ihren wohl gefährlichsten Konkurrenten zu bedienen.

Zur Zeit ist Rewe Pionier im Bestellgeschäft, mit einem inzwischen umfangreichen Lieferservice in vielen deutschen Städten. Auf Wunsch wird der gesamte Einkauf an die Tür gebracht. Kaufland hat einen Lieferdienst in Berlin gestartet. Erstaunlich zurückhaltend war dagegen bislang Edeka, das sich im Zuge der Übernahme von Kaiser’s-Tengelmann jedoch deren in Berlin und München aktiven Lieferdienst Bringmeister gesichert hat. Der Post-Logistiker DHL mischt mit Allyouneedfresh mit, jüngst hat auch DPD angekündigt, ins Geschäft einzusteigen. Andere haben ihr Glück versucht und aufgegeben: Sie hießen Supermarkt.de, Froodies oder Shopwings. Kleine Anbieter haben es aber schwerer – sie müssen erst Kundenvertrauen aufbauen, anders als die etablierten stationären Händler, die jeder kennt.

Kostspielige Logistik und neues Personal

In dieser Hinsicht haben Rewe und Co gegenüber Amazon einen kleinen Vorteil. Für viele ist der US-Händler nach wie vor mit Büchern und Elektronik verknüpft, Kompetenz in einem so sensiblen Bereich wie Lebensmittel traut ihm vielleicht nicht jeder zu. In der Tat müsste Amazon eigens dafür geschultes Personal einstellen. Die Ansprüche sind maximal hoch: Erweist sich eine Avocado, die man selber gegriffen hat, als überreif, ärgert man sich über sich selbst. Hat ein anderer sie ausgewählt, bestellt man dort eben nicht wieder. Verderbliches wie Eier oder Tiefkühlkost kann nicht einfach mit dem nächsten Schwedenkrimi mitgeliefert werden. Es bedarf aufwendiger Verpackungen, Vorkehrungen und Kontrollen, um die Qualität zu sichern.

Offenkundig ist jedoch, dass Amazon in den zurückliegenden zwei Jahren viele logistische Weichen gestellt hat, welche die Einführung eines Lieferdienstes erleichtern dürften. Mit dem Service „Same-Day-Delivery“ verfügt das Unternehmen schon jetzt über die Infrastruktur, Bestelltes in 14 deutschen Großstädten unabhängig von gängigen Paketdiensten noch am gleichen Tag mit eigenem Personal an den Empfänger zu bringen. Sogar eine Lieferung binnen 90 Minuten wird mancherorts erprobt. Wer ohnehin Amazon-Kunde ist, muss seine Kreditkartendaten kein zweites Mal an anderer Stelle eingeben. Bei Amazon zu ordern ist folglich bequemer, als andernorts ein neues Konto anzulegen. Und Bequemlichkeit war schließlich schon immer das Erfolgsrezept von Amazon.

Kann sich das Modell rechnen?

In Seattle, wo der Konzern seinen Sitz hat, gehören die hellgrünen Transportfahrzeuge von Amazon Fresh bereits fest ins Straßenbild. Seit Juni vergangenen Jahres sind sie auch in Großbritannien unterwegs. Bislang steht der Dienst allerdings nur Mitgliedern von Amazon Prime zur Verfügung – so wie auch das Angebot „Pantry“. Das heißt: Nur derjenige kann ihn nutzen, der einen jährlichen Mitgliedsbeitrag zahlt. Kaum irgendwo aber sind Verbraucher bei Lebensmitteln so preissensibel wie in Deutschland. Umfragen zufolge sind nur wenige bereit, Geld für Lieferung auszugeben.

Für Discounter rechnet sich das Modell deshalb kaum. Rewes Lieferdienst macht fünf Jahre nach seiner Gründung immer noch Verlust. Allerdings hat Amazon bewiesen, dass es Einbußen durchaus in Kauf nimmt, um zu wachsen: 2014 investierte der Konzern mehr als eine Milliarde Dollar in seinen Streamingdienst. Heute nutzen etliche Menschen Amazon Prime, um Filme zu gucken. Diese Abonnenten wären wohl die ersten potenziellen Kunden für Amazon Fresh.

130 000 Artikel

Gerrit Heinemann, Handelsexperte von der Hochschule Niederrhein: „Das Prime-Programm wird für Amazon ein großer Vorteil sein, weil es keiner der Mitbewerber so anzubieten hat.“ In einem Interview mit dem Tagesspiegel hatte Amazon-Deutschlandchef Ralf Kleber bereits vor mehr als einem Jahr erklärt: „Alle unsere Kunden essen und trinken. Wir wissen, dass keiner verhungern wird, wenn Amazon keine Lebensmittel liefert. Also müssen wir es schaffen, es ihnen bequemer zu machen als andere.“

Der andere entscheidende Vorteil: die „gigantische Warenvielfalt“. Auf der Website kann aus 130 000 Artikeln gewählt werden – ein gut sortierter Supermarkt führt circa 12 000 Artikel. Amazon bietet Niedrigpreisiges ebenso wie exquisites Rinderfilet für 500 Euro das Kilo und ist auf jede Art von Nahrungsmittelunverträglichkeit eingestellt. In Amerika schwärmen Konsumenten von der Qualität der Waren. Das Bio-Angebot ist umfangreich. Wie es der Zufall will, hat Tegut diesen Bereich kontinuierlich ausgebaut: auf nunmehr 3000 Bio-Artikel. Zu einer weitergehenden Kooperation will man sich bei der Kette, die seit 2012 zur Schweizer Migros gehört, nicht äußern. Tegut betreibt in Deutschland 272 Märkte mit 5780 Mitarbeitern und meldete zuletzt knapp eine Milliarde Euro Netto-Umsatz.

Nur ein Prozent der Lebensmittel werden online gekauft

In Großbritannien zog Amazon seinen Lieferservice gemeinsam mit der Supermarktkette Morrisons auf. In den USA bezieht der Händler seine Waren dagegen direkt im Großhandel. Dieses Modell wird er womöglich auch in Europa anstreben, wenn sein Angebot angenommen wird.

Für Heinemann steht fest: Der mächtige Onlinehändler wird „jetzt auch bei Food den Damm brechen“. Aktuell werde gerade einmal ein Prozent aller Lebensmittel in Deutschland online bestellt. Mit steigender Tendenz. Im vergangenen Jahr erhöhte der Onlinehandel seinen Umsatz mit Lebensmitteln um 26 Prozent auf 932 Millionen Euro.

Berichten der Lebensmittelzeitung zufolge hat Amazon Geschäftspartnern zu verstehen gegeben, dass Fresh zuerst in Berlin starten wird. Man kann fragen: Wieso sollte jemand in einer Stadt wie Berlin Lebensmittel online bestellen? Aber wer hätte vor zehn Jahren gedacht, dass Menschen Schuhe im Internet kaufen?

Warum der stationäre Handel sich fürchten muss

Handelsexperte Heinemann schätzt: „Es wird lange dauern, bis die Online-Lebensmittelhändler einen Marktanteil von zehn Prozent oder mehr erreichen.“ Doch selbst, wenn Amazon nur ein paar Prozent des Umsatzes der Branche abgreifen sollte: Manchen Händler könnte das in die Verlustzone treiben, denn die Lebensmittel-Margen sind hierzulande gering. Jede Filiale, die dann schließt, schafft neuen Raum für den Onlinehandel.

Zur Startseite