Digitale Kindheit: Verloren im Virtuellen
Dreijährige wischen auf dem Tablet, Teenager erleben die Welt auf dem Handy statt in der Realität. Acht Prozent der Kinder und Jugendlichen gelten als onlinesüchtig. Was tun?
Wenn Gordon Schmid erklären möchte, wie sehr sich unsere Welt verändert hat, zeigt er gerne zwei Bilder vom Petersdom. Auf dem einen Foto sieht man eine Menschenmenge im Jahre 2005, bei der Amtseinführung von Papst Benedikt: Nur im Vordergrund sind zwei, drei Leute mit einem Handy erkennbar. Das zweite Bild zeigt ebenfalls eine Menschenmenge vor dem Petersdom, 2013, bei der Amtseinführung von Papst Franziskus: ein Meer von nach oben gereckten, blitzenden Handys. „Und das sind Erwachsene!“, sagt Schmid in seiner Beratungsstelle in Berlin-Kreuzberg. Soll heißen: Kinder und Jugendliche, die um die Jahrtausendwende und später geboren sind, kennen nur die Welt, die das zweite Foto zeigt.
Diese Welt sieht so aus: Dreijährige finden im Tablet traumwandlerisch ihr Lieblingsspiel, patschen fasziniert auf dem Bildschirm herum und wundern sich, wenn der Fernseher nicht auf Wischen reagiert; Siebenjährige schießen Selfies und schicken sie routiniert per WhatsApp an den Onkel, Zehnjährige spielen am PC Minecraft und bauen gleichzeitig ihr Tablet vor sich auf, um per Skype mit ihren Klassenkameraden das Spiel zu kommentieren. 14-jährige Jungs jagen ihre Spiel-Avatare stundenlang durch abgewrackte Industrielandschaften und lassen sie feindliche Soldaten abschießen, 13-jährige Mädchen können die Augen auch beim Abendessen nicht vom Chat abwenden, Teenager auf Klassenreise starren statt auf die Sehenswürdigkeiten auf ihre Handy-Bildschirme.
Manchmal bietet das permanente Surfen Anlässe für Gespräche und gemeinsames Lachen in der Familie: Die lustigen Antworten von Apples Roboter Siri auf Fragen wie „Bist du hässlich?“ (Siri: „Guck mal selbst in den Spiegel!“) oder „Was ist der Sinn des Lebens?“ (Siri: „Ein Film“) hätte das vielbeschäftigte Elternteil nicht selbst herausgefunden. Auf das Youtube-Video vom Teddybär, der besoffen vor sich hinlallt, wären Mutter oder Vater nicht gestoßen. Dass die Kinder ihre BVG-Verbindungen per Internet selbst herausfinden, dass sie ihre Hausaufgaben im Klassenchat erfragen: praktisch! Wenn der Filius der Oma den neuen Laptop einrichtet: klasse! Das Video vom selbstkomponierten Song, das der 14-jährige Yannick auf Youtube hochgeladen hat: kreativ!
Viele Eltern führen Kleinkriege über die Mediennutzung mit ihren Kindern
Die digitalen Medien sind aus dem Alltag von Kindern und Jugendlichen so wenig wegzudenken, dass das Buch von Manfred Spitzer aus dem Jahr 2012, „Digitale Demenz“, jetzt schon wie aus der Zeit gefallen wirkt: Wie kann man ablehnen, was überall ist? „Digitale Hysterie“ hat der Psychologe Georg Milzner daher sein gerade erschienenes Buch genannt (Beltz Verlag) und betont: „Computer machen unsere Kinder weder dumm noch krank.“ Sie ermöglichen neue Formen des Lernens, der Kreativität und der Kommunikation.
Dennoch sind viele Eltern besorgt und führen Kleinkriege mit ihren Kindern um die Mediennutzung. Kaum ein Thema sorgt für so viel Konfliktstoff in den Familien. Bewegen sie sich genug? Können sie sich überhaupt noch konzentrieren? Ist die Persönlichkeitsentwicklung gefährdet, wenn jede Lebensregung gepostet und von anderen kommentiert wird? Stoßen sie auf gefährliche Seiten, werden sie gemobbt, verlieren sie sich im virtuellen Raum?
Die Omnipräsenz von digitalen Medien stellt Eltern vor Herausforderungen, wie sie keine Elterngeneration zuvor zu bewältigen hatte. „Digitale Selbstkontrolle“ vorzuleben, dem Nachwuchs zu vermitteln oder bei ihm durchzusetzen (siehe Interview mit dem Psychologen Gerd Gigerenzer), gelingt längst nicht allen Eltern. Manche dieser Mütter oder Väter landen irgendwann bei Gordon Schmid in der Beratungsstelle für Computerspiel- und Internetsüchtige „Lost in space“, nah am Gleisdreieckpark. Die Beratungsstelle der Caritas existiert seit zehn Jahren und hat sich aus der Beratungsstelle Café Beispiellos für Glücksspielsüchtige entwickelt. Schmid, 39 Jahre jung, Vollbart, leichter schwäbischer Akzent und selbst früher begeisterter Commodore 64-Spieler, erklärt den Rat suchenden Eltern dann unter anderem, wie man Online-Sucht erkennt und ab wann sie sich ernsthaft Sorgen um ihre Kinder machen sollten. Das macht Schmid jedoch nicht an der Nettozeit fest, die das Kind vor den Medien verbringt, sondern an anderen Kriterien: Hat das Kind, der Jugendliche Freunde, kommt er in der Schule klar, treibt er Sport, hat er Hobbys außerhalb der virtuellen Welt? Spielt er am PC überwiegend mit Menschen, die er persönlich kennt? Dann kann man die Mediennutzung gelassen sehen.
Ist das alles nicht der Fall, schrillen jedoch die Alarmglocken. Tanja Selkow zum Beispiel (Name von der Redaktion geändert), Charlottenburgerin, alleinerziehend, fürchtet sich manchmal schon vor ihrem Sohn: Stunden um Stunden verbringt er mit seinem xbox-Spiel, lernt nicht für den MSA, trifft sich nicht mit Freunden, die virtuellen Mitspieler kennt er nicht in der Realität, er hat keine Hobbys, geht nicht zum Sport und schwänzt die Schule, um zu spielen, während sie arbeiten geht. Und wenn sie dann mal, verzweifelt und genervt, den LAN-Zugang kappt, stürzt er aus seinem zugemüllten Zimmer und bedroht sie. „Er ist einen Kopf größer als ich“, sagt die Versicherungsangestellte, die nicht wirkt, als wäre sie leicht einzuschüchtern. „Und er hat seine Aggressionen nicht im Griff.“
Plötzlich das Kabel zu ziehen, davon rät Gordon Schmid ab: „Das ist, als wenn Sie ein Fußballteam, das gerade gewinnt, fünf Minuten vor Schluss abpfeifen.“ Da Tanja Selkows Sohn ein Teamspiel spielt, hat er wütende Reaktionen seiner Mitspieler zu befürchten, wenn er plötzlich aussteigt. Aber zeitliche Grenzen setzen, dazu ermutigt Gordon Schmid ausdrücklich, auch die geplagten Eltern von bereits volljährigen Spielsüchtigen: „Sie würden ja auch nicht tolerieren, wenn Ihr volljähriger Sohn kiffend im Wohnzimmer sitzt.“ Rund acht Prozent der Jugendlichen in Deutschland gelten als onlinesüchtig oder suchtgefährdet. 90 Prozent der Eltern, die in die Beratungsstelle kommen, kommen wegen ihrer Söhne. Besonders suchterzeugend sind Spiele wie „World of Warcraft“ und „League of Legends“, denn hier identifiziert sich der Spieler am stärksten mit seiner Figur und seinem Team. „Dagegen sind die Ego-Shooter, die Ballerspiele mit ihren kurzen Spielzyklen, sogar weniger gefährlich.“
Wohin es führen kann, wenn Onlinesucht nicht rechtzeitig therapiert wird, erlebt Schmid in der Beratungsstelle: Das Durchschnittsalter derer, die sich aus eigenem Antrieb an ihn wenden, liegt bei 29 Jahren, hinter den jungen Männern liegen dann meist mehrere Abbrüche von Ausbildungen oder Studium, und sie müssen in einer Gruppe erst wieder lernen, Freude an normalen Tätigkeiten zu finden. „Tischtennisspielen, in den Park gehen – das würden sie von alleine nicht tun.“
Denn das ist ja das Verführerische an der virtuellen Welt, nicht nur für Süchtige: Alles, was stört und schwierig ist, lässt sich wegklicken. „Einen Menschen, der einen nervt, kann man nicht einfach wegklicken. Gerade Kinder, die Schwierigkeiten haben, gemobbt werden, depressiv sind, flüchten sich in die virtuelle Welt.“ Das Belohnungssystem im Gehirn wird permanent aktiviert – dagegen erscheint die reale Welt mühsam und langweilig.
Die Balance zu halten zwischen positiver und schädlicher Internetnutzung ist schwierig. Auch Psychologe Georg Milzner plädiert für eine „neue Aufmerksamkeitsethik“ im Computerzeitalter: Eltern sollten ihren Kindern die Fähigkeit vermitteln, zwischen Wichtigem und Unwichtigem zu unterscheiden und Wichtigem ungeteilte Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.
Eine Mutter, berichtet Milzner, habe kürzlich gefragt, wie viele Stunden denn ihr Dreijähriger mit dem Tablet verbringen solle. „Da habe ich gesagt: das Tablet sollte er nur gemeinsam mit Ihnen benutzen. Er soll lieber mit seinen Händen die Welt entdecken, im Sandkasten oder mit Bauklötzen spielen. Ein Dreijähriger braucht überhaupt kein Tablet.“