Integration in Berlin: Verfluchtes Nichtstun
Adnan Gündogdu leitet den zweitgrößten Anbieter von Integrationskursen in Berlin. Er verließ seine Heimat vor Jahren und weiß, wie schwer es ist, in einem fremden Land anzukommen.
Heute sollen sie die Zahlen bis 20 lernen. Zahlen sind wichtig, erklärt ihnen die Lehrerin Gülay Basaran. Damit können sie ihr Geburtsdatum, ihre Adresse und Telefonnummer nennen. „Bei jedem Amt fragt man euch danach“, sagt sie der Klasse. Ihre Schülerinnen und Schüler sind Flüchtlinge. Viele von ihnen sind in ihrer Heimat nie in der Schule gewesen. Lesen und schreiben lernen sie erst jetzt. Hier in Berlin. Mit Anfang 20.
Das Bildungszentrum in der Hasenheide, wo sie jeden Tag mehr als drei Stunden Deutsch lernen, gehört zu dem Träger „dtz-Bildung und Qualifizierung“ – dem zweitgrößten Anbieter von Integrationskursen in Berlin nach der Volkshochschule. Geschäftsführer ist Adnan Gündogdu. Wie gut er das kennt, in einem fremden Land anzukommen, in dem man nichts versteht.
Ein Grund war der Putsch, der andere die Liebe
Der 62-Jährige ist 1982 nach Berlin gezogen. Ein Grund war der Militärputsch in der Türkei, ein anderer die Liebe. Im Sommer 1981 heiratete er seine Jugendfreundin. „Zehn Tage waren wir zusammen, dann musste sie zurück nach Berlin“, erzählt Gündogdu. Er hatte gehofft, dass Hayriye in der Türkei bleibt, bei ihm, doch sie lebte schon seit elf Jahren in Berlin. Die Türkei fühlte sich für sie nicht mehr wie Heimat an. Also verließ er mit 29 Jahren das Land, in dem er aufgewachsen war. Wo er seit vier Jahren als Lehrer und Direktor einer Grundschule arbeitete. In der Hoffnung, sich in Deutschland ebenso zugehörig zu fühlen wie sie.
In Berlin angekommen, wollte Gündogdu schnell Deutsch lernen und wieder als Lehrer arbeiten. Nur gab es kostenlose Sprachkurse damals nur für Jugendliche, und arbeiten durften Migranten erst nach fünf Jahren. Also „machte“ sich Gündogdu, wie er sagt, „elf Jahre jünger“, um die unbekannte Sprache zu lernen. Das Geld verdiente seine Frau. Was ihm unangenehm war. „Ich hatte das Gefühl, selber nicht für meinen Lebensunterhalt zu sorgen“, erzählt Gündogdu an einem Montagmorgen im Januar.
Weil er nichts zu tun hatte, vertrieb er sich die Zeit in türkischen Cafés. Er verfluchte dieses Nichtstun. Niemandem nütze er etwas, nicht einmal sich selbst.
1984 gründete er deswegen ein eigenes Café, 1986 einen Fernsehsender. Doch mit beiden Geschäftsideen scheiterte er. Zwei Jahre später fing er in der Druckerei an, in der seine Frau arbeitete. Tag für Tag kontrollierte er Papiere und faltete sie. „Ich lernte dort das deutsche Arbeitssystem kennen und habe mich mit Deutschen unterhalten“, erinnert sich Gündogdu. 2003 ging die Druckerei jedoch pleite. Beide verloren ihren Job.
Als habe er nie etwas gelernt, nie gearbeitet
Gündogdu musste zum Arbeitsamt. Jedes Mal, wenn eine Vorladung im Briefkasten lag, bekam er Angst. Vermittelte ihm die Mitarbeiterin wieder einen Ein-Euro-Job, hatte er das Gefühl, dass ihm dort niemand etwas zutraute. Als habe er in seinem Leben nie etwas gelernt, nie gearbeitet. Und jedes Mal wurde ihm dort wieder seine Abhängigkeit als erwachsener Mann bewusst. Als Vater zweier Söhne. Dabei hatte er mit Deutschland Freiheit verbunden.
Was ihn letztlich dahin brachte, wo er heute ist, war sein ehrenamtliches Engagement als Vorsitzender des Vereins „Türkisch Deutsches Zentrum“. Eine Anlaufstelle für Menschen mit Migrationshintergrund – mit Sozialberatung, Schülerhilfe und Integrationskursen. „Irgendwann wollten wir professioneller sein, mehr erreichen“, sagt er, und so gründete er 2009 mit der Auszahlung seiner Lebensversicherung den Bildungsträger „dtz-Bildung und Qualifizierung“.
Die ersten Jahre kamen fast nur Türkinnen und Türken zu ihm. Seit zwei Jahren sind es vor allem Geflüchtete aus dem arabischen Raum. Zwar kämen sie aus einem anderen Kulturkreis als Gündogdu und die meisten seiner Mitarbeiter, aber, sagt er: „Wir kennen die Probleme der Flüchtlinge, verstehen sie. Wir waren hier ja auch mal Fremde.“
Was ihm auffällt: Viele der Geflüchteten seien müde, traumatisiert, wollten sich nur ausruhen. Andere wollten lieber arbeiten statt Deutsch lernen – was ihnen das Team von Gündogdu versucht auszureden. Und dann sei da noch das Problem der Pünktlichkeit: Zu der Deutschstunde, in der die Zahlen bis 20 gelernt wurden, kam ein Schüler 30 Minuten später, ein anderer 40 Minuten. Der Letzte verpasste fast die ganze Stunde. In gemischten Kursen würde das die Teilnehmer mit türkischem Migrationshintergrund nerven. Sie würden dann sagen: Passt euch an und kommt zeitig!
Integration wird heut pragmatischer betrachtet
Mit der gestiegenen Zahl an Flüchtlingen hat sich die Zahl der Dozenten auf rund 200 und der Kurse auf 1100 verdoppelt. Vor Kurzem hat Gündogdu eine Mitarbeiterin eingestellt, die allein die Qualität der Kurse kontrolliert. Sie kommt unangekündigt vorbei, beobachtet, wertet aus. Ein Grund dafür sei, dass zu Anfang der Flüchtlingskrise so viele Lehrer gebraucht wurden, dass auch schlechte einen Job bekamen. Neulich war die Lautstärke beim Sprechen Thema. Spricht jemand leise, würden Araber denken, man verheimliche etwas.
Um Missverständnisse wie diese zu vermeiden, hätten sämtliche Mitarbeiter des Bildungsträgers an Schulungen zu kultureller Öffnung teilgenommen. Bei einem anderen Kurs ging es um Stressbewältigung. Jetzt sei es recht geordnet. „Am Anfang war die Zusammenarbeit mit dem Bamf und den Jobcentern aber total chaotisch“, sagt Gündogdu. „Auch bei uns war alles durcheinander.“
Im Vergleich zu der Integrationspolitik von früher, sagt er, die Integration werde heute „viel pragmatischer betrachtet“. Die Geflüchteten würden nicht mehr vom Arbeitsmarkt ferngehalten, sondern sollten recht schnell in Ausbildung und Arbeit vermittelt werden. Die Politik einigte sich beispielsweise im vergangenen Jahr auf das Integrationsgesetz, wenn auch nicht ohne Kritik. Einige Unternehmen stellten Geflüchtete ein, schlossen sich zu Netzwerken zusammen. Optimismus wurde verbreitet. Auch wegen des demografischen Wandels und Fachkräftemangels.
Gleichzeitig sieht Gündogdu wieder das Problem der Ghettoisierung. Die Geflüchteten würden zwar untergebracht und unterstützt werden – aber wieder so, dass sich niemand gestört fühle. Außerdem würden sie die politische Debatte teilweise mitbekommen, die Nachrichten von brennenden Unterkünften hören, die Anti-Flüchtlings-Sätze verstehen. Er könne aus seiner Migrationsgeschichte nur sagen, dass er nie vergessen wird, wie sich Ausgrenzung anfühlt.