„Gravierende Verschlechterungen“: Verbraucherschützer befürchten mehr Stromsperren
Bisher dürfen nur Grundversorger den Strom abstellen. Mit dem neuen Energiewirtschaftsgesetz könnte dieser Schutz aber aufgeweicht werden.
Mit wachem Auge beobachtet die Energiebranche die Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes (EnWG), das vergangenen Montag in einer öffentlichen Anhörung im Energieausschuss des Bundestages beraten wurde. Nun kommt Kritik aus Hessen. Die dortige Verbraucherzentrale warnt, der derzeitige Entwurf bringe voraussichtlich „gravierende Verschlechterungen“ für Stromkunden mit sich.
Denn der Entwurf enthält einen Passus, der es wettbewerblichen Stromanbietern erstmals erlaube, zahlungsunfähigen Kunden den Strom abzustellen. Bislang wird der radikale Schritt einer Stromkappung nämlich nur von den Grundversorgern vorgenommen.
Werde das aufgeweicht, drohe die Anzahl an Stromsperren „in die Höhe zu schießen“, sagte Philipp Wendt, Vorstand der Verbraucherzentrale Hessen, zu Tagesspiegel Background. „Wir befürchten, dass Chaos ausbrechen wird, wenn nun auch Energie-Billiganbieter das Recht erhalten, die Stromversorgung zu kappen.“
Grundsätzlich unterscheidet die Stromgrundversorgungsverordnung (Strom GVV ) zwischen Grundversorgern (oftmals die örtlichen Stadtwerke) und wettbewerblichen Anbietern, die oft deutlich günstiger sind. Im Fall eines zahlungsunfähigen Kunden kann ein Stromanbieter den Vertrag zwar kündigen und die Schulden gerichtlich geltend machen. Aufgrund des Anschlusszwanges springt in diesem Fall aber der örtliche Grundversorger ein, um den Kunden vor dem Stromausfall zu bewahren.
Hunderttausende Stromsperren im Jahr
Bis zur eigentlichen Stromsperre durch den Grundversorger gilt es wiederum einige Bedingungen einzuhalten. So muss der Energielieferant eine Verhältnismäßigkeitsprüfung ablegen, um den Schritt zu rechtfertigen, er muss eine Sperrandrohung schicken und darf den Strom frühestens vier Wochen später abdrehen. Eingeleitet darf der Prozess nur ab einer Schuldengrenze von 100 Euro.
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Trotz dieser Hürden sind Stromsperren nicht selten. Rund 289.000 Haushalten wurde 2019 der Strom abgestellt, so steht es im Monitoringbericht der Bundesnetzagentur zum Energiemarkt. Bei der Gasversorgung waren es etwa 31.000 Haushalte.
Weil in der Corona-Pandemie mehr Strom zu Hause konsumiert wurde, fürchtet die Verbraucherzentrale, dass diese Zahlen noch steigen werden – trotz der Ankündigung vieler Energieanbieter zu Beginn der Pandemie, bei Zahlungsrückständen temporär keine Unterbrechungen der Strom-, Gas- und Wasserversorgung in Privathaushalten vornehmen zu wollen.
Aber bezahlt werden muss die Stromrechnung trotzdem. Zudem verbucht Deutschland nun schon im zweiten Jahr in Folge europaweit die höchsten Stromkosten für private Verbraucher, wie Eurostat gestern vermeldete. 30,06 Cent pro Kilowattstunde waren es im der zweiten Jahreshälfte 2020 für einen durchschnittlichen Haushalt, der EU-Durchschnitt liegt bei 21,34 Cent.
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Besonders für sozial sehr schwache Personen, Angestellte in Kurzarbeit oder Studenten führe dies oft zur Zahlungsunfähigkeit beim Stromanbieter, erklärt Wendt von der Verbraucherzentrale.
Wirtschaftsministerium: Keine Änderung der Rechtslage
Auf Anfrage weist das Wirtschaftsministerium (BMWi) die Befürchtungen zurück, es könne zu mehr Stromsperrungen kommen. Im Gegenteil, das neue EnWG führe neue Informationspflichten für Verbraucher ein, um Kunden vor einer Versorgungsunterbrechung zu schützen. Dazu zählen Informationen über staatliche Unterstützungsmöglichkeiten oder alternative Zahlungspläne.
Außerdem könnten auch nach jetziger Rechtslage Nicht-Grundversorger eine Stromsperre einleiten, wenn dieses vertraglich festgehalten ist. „Insoweit ändert sich die Rechtslage nicht.“
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Auch der SPD-Abgeordnete Timon Gremmels betont gegenüber Tagesspiegel Background, dass das EnWG vor allem neue Informationspflichten für Stromanbieter mit sich bringt, um die Kunden vor Stromsperrungen zu schützen. „Versorgungsunterbrechungen dürfen daher nur das allerletzte Mittel sein.“
Tatsächlich haben auch wettbewerbliche Stromversorger theoretisch die Möglichkeit, eine Stromsperre anzuordnen. Dies ist in Paragraph 24 der Niederspannungsanschlussverordnung (NAV) geregelt. Allerdings müssen sie dafür den Netzbetreiber beauftragen und diesen Netzbetreiber von möglichen Schadenersatzansprüchen der Endabnehmer freistellen.
„Der Aufwand, das zu tun, ist aber so hoch, dass die Sperre im Sondervertragsverhältnis nach unserer Erfahrung praktisch nicht vorkommt“, so Philipp Wendt.
Wenig Vorgaben zur Stromsperre
Das eigentliche Problem im EnWG sei vor allem der Mangel an Hemmschwellen für Stromsperren. Die Regeln für Nicht-Grundversorger seien „viel zu wage und generell unzureichend“ formuliert. Denn im Gesetzesentwurf heißt es schlicht, Haushaltskunden seien vier Wochen vor einer geplanten Versorgungsunterbrechung „in geeigneter Weise über Möglichkeiten zur Vermeidung der Versorgungsunterbrechung zu informieren“.
Wann ein Anbieter seinem Kunden den Strom abstellen darf, wie es bei den Grundversorgern geregelt ist, wird nicht definiert. Auch eine Bagatellgrenze von 100 Euro oder gar eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit sind nicht vorgesehen.
Die Verbraucherzentrale fordert daher, dass auch in Zukunft das Recht der Stromsperre den Grundversorgern vorbehalten bleiben oder zumindest für wettbewerbliche Energieanbieter dieselben Konditionen gelten sollen, wie es beispielsweise der Bundesrat in einer Stellungnahme vorschlägt.
Kritisch sieht die Verbraucherzentrale auch die Praxis der Schätzungen des Stromverbrauchs durch die Energieanbieter, wenn keine Stromzählung beim Kunden möglich ist. Dann könne es passieren, dass der Strombedarf zu niedrig geschätzt wird und womöglich erst Jahre später eine dicke Rechnung auf dem Tisch liegt, wenn der tatsächliche Stromverbrauch ermittelt werden konnte.
Nicht selten komme es zu Nachzahlungsforderungen von vielen tausend Euro. Der Verband fordert daher, eine Verjährung von einem Jahr oder eine maximale Höchstgrenze für Nachzahlungen an Stromanbieter in das EnWG aufzunehmen.
Florence Schulz