Enorme Nachfrage nach E-Bikes: Unter Strom
Wer sich ein E-Bike kaufen will, muss sich auf Wartezeiten einstellen. Der Markt hat riesiges Potenzial - das Berliner Brose-Werk profitiert.
Thomas Leicht hat in Berlin das E-Bike entdeckt. Der Maschinenbauingenieur stammt aus Franken, wo der Autozulieferer Brose zuhause ist. Kein anderes Unternehmen auf der Welt baut mehr elektrische Fensterheber für Pkw – um ein Produkt des Brose-Konzerns zu nennen, der weltweit 25 000 Personen beschäftigt. Nach der Finanzkrise 2008/09 entschied sich das Management für den Einstieg in ein neues Geschäft: Elektrische Antriebe für Fahrräder. 2014 liefen in Berlin-Moabit die ersten Motoren vom Band, und 2016 kam Leicht als Standortleiter an die Spree. Und fährt seitdem E-Bike.
Brose wurde in Kreuzberg gegründet
„In Berlin bekommt man gut mit, wie sich der Mobilitätsmarkt entwickelt“, sagt Leicht im Gespräch mit dem Tagesspiegel. Aber das war nicht allein der Grund, die E-Bike-Antriebe hier zu produzieren. Brose wurde 1908 in Kreuzberg gegründet und „hat auch aus historischen Gründen eine große Affinität zu Berlin“, sagt Leicht auch mit Blick auf die Eigentümerfamilie Stoschek. Julia Stoschek ist eine der bekanntesten Berliner Kunstsammlerinnen.
Vor ein paar Wochen hat Leicht mit seinen 150 Mitarbeitern die Eine-Million- Marke geknackt, und es geht weiter steil nach oben: Schon bis Anfang 2023 soll die nächste Million E-Antriebe ausgeliefert sein. „Die aktuelle Nachfrage können wir gerade so bedienen“, sagt der Werkleiter. Unglaublich aber wahr: 2020 sind mehr Elektroräder auf die Straße gekommen als Dieselautos. Inzwischen auch zunehmend in Gegenden, wo die Stromhilfe nicht gebraucht wird für Anstiege. „In der Stadt steigen immer mehr Menschen vom Auto aufs E-Bike um“, hat Leicht beobachtet.
Zwei Millionen E-Bikes 2020 verkauft
Der Absatz von Elektrorädern ist geradezu explodiert. 2020 wurden hierzulande mit 1,96 Millionen Stück 43 Prozent mehr E-Bikes verkauft als 2019. Alles in allem wuchs der deutsche Fahrradmarkt im ersten Coronajahr um knapp 17 Prozent auf gut fünf Millionen Einheiten, 38,7 Prozent davon mit Elektromotor. Die meisten E-Bikes sind Trekking-Räder, gefolgt von Mountainbikes, City- und Lastenrädern. Die sportlich ambitionierten Rennradfahrer, die den Stromantrieb bisweilen als Schummelrad verspotten, verzichten dagegen auf elektrische Hilfe: Nur 0,5 Prozent der E-Antriebe sind in Sporträdern verbaut.
„Die Dynamik ist ungebrochen“, heißt es beim Zweirad-Industrieverband (ZIV) über die Fahrradkonjunktur in diesem Jahr. Der Kunde braucht Geduld, manchmal beläuft sich die Lieferzeit auf sechs Monate. „Alle Zubehörhersteller wurden von den Wachstumsraten überrascht“, sagt ZIV-Sprecher David Eisenberger mit Blick auf die asiatischen Lieferanten. Die in Taiwan, Vietnam oder China ansässigen Firmen können die Produktion nicht so schnell hochfahren, wie die Nachfrage in Europa steigt.
Zusätzlich gibt es die Probleme in der „angespannten Logistikkette“, wie Eisenberger formuliert. Wegen des weltweiten Chipmangels muss Brose in Moabit „mit Versorgungsengpässen umgehen“, erzählt Leicht. „Auch der Stau im Suezkanal hat uns getroffen. Das hat uns noch einmal deutlich gezeigt, wie anfällig das globale Liefersystem ist.“ Die Akkus für den Antrieb bekommt Brose aus Asien, aber alles in allem kaufe man rund 90 Prozent der Teile und Komponenten bei europäischen Firmen.
Mit einem Marktanteil von knapp zehn Prozent werden die Brose E-Antriebe vor allem „im Performancebereich“ eingesetzt, schwerpunktmäßig in teuren Mountainbikes. Marktführer Bosch dagegen bedient alle Segmente, kommt auf einen Marktanteil von gut 50 Prozent in Europa und setzt schätzungsweise eine Milliarde Euro im E-Bike-Business um.
Die Räder werden immer teurer
Da Stromräder deutlich teurer sind als „Bioräder“, erhöhte sich der Umsatz mit neuen Drahteseln 2020 um erstaunliche 61 Prozent (auf 6,44 Milliarden Euro) gegenüber dem Vorjahr. Der durchschnittliche Verkaufspreis pro Fahrrad lag bei 1279 Euro „und wird von dem hohen E-Bike-Anteil dominiert“, heißt es beim ZIV. In einer Umfrage von YouGov im Auftrag des Vergleichsportals Check24 gaben 44 Prozent der Befragen an, mehr als 2000 Euro für ihr E-Bike bezahlt zu haben. Ein Jahr zuvor waren das nur 36 Prozent. 14 Prozent investierten zuletzt sogar mehr als 3000 Euro in ihr E-Bike.
Ein Stromrad mit Brose-Antrieb gibt es kaum unter 3000 Euro. Vor allem aufgrund des speziellen Zahnriemens fühlten sich die von Brose angetriebenen Räder „natürlich an und lassen sich harmonisch fahren“, sagt der Ingenieur Leicht, der mit dem Großteil seiner Berliner Mannschaft an der Zukunft arbeitet. Von den 150 Beschäftigten befassen sich etwa zwei Drittel mit Forschung und Entwicklung. 30 Konstrukteure, Programmierer und Entwicklungsingenieure hat Leicht in diesem Jahr schon eingestellt, 15 Stellen sind noch vakant, obgleich „wir in Berlin gute Möglichkeiten haben, Fachkräfte zu gewinnen“. Ein Vorteil des Standorts in Moabit: Entwicklung und Produktion sind unter einem Dach.
Getüftelt wird am Antrieb, weil das Schalten offenbar ein Problem ist. „So manchem ist gar nicht bewusst, dass er im falschen Gang fährt und sich dadurch unnötig abmüht“, sagt Leicht. Viele Hersteller bemühten sich deshalb, das Schalten zu integrieren und dem E-Bike-Fahrer abzunehmen. „Die Schaltung wird irgendwann vom Antrieb übernommen, wie bei einem Automatikgetriebe im Auto“, glaubt der Brose-Ingenieur.
Sicherheit und Komfort und adäquate Radwege sind Voraussetzungen für ein weiteres Wachstum auf dem potenziell riesigen Markt. Denn von den knapp 80 Millionen fahrtüchtigen Rädern, die es nach Schätzung des Industrieverbandes in Deutschland gibt, haben nur sieben Millionen einen Motor. „Ausgestattet mit vielen elektronischen Features, die auch die Sicherheit erhöhen, wird das Fahrrad in Zukunft immer mehr zu einem komfortablen, vollwertigen Fahrzeug“, meint Brose-Chef Leicht. Rotwild oder Stevens statt BMW oder Audi. Nicht nur für Leicht sind „gute Fahrräder inzwischen ein Statussymbol“.
Gefährlicher Trend zum Tuning
Sorge macht ihm der Trend zum Tuning: „Das Problem ist leider größer als man denkt.“ Technisch halbwegs Begabte können sich im Internet Tuning-Kits besorgen, um das E-Bike schneller zu machen. Das könnte irgendwann die Politik alarmieren, denn nur bei einer Höchstgeschwindigkeit von 25 km/h gehen die Pedelecs als Fahrrad durch. „Jegliche Steigerung der Leistung und/oder die bauartbestimmte Geschwindigkeit hat zur Folge, dass das Fahrzeug zu einem Kraftfahrzeug wird und den Fahrradstatus verliert“, warnt der ZIV.
Der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) zeigt auf Frankreich, wo seit Anfang 2021 Verkauf und Verwendung von Tuning-Kits verboten sind. „Das wäre auch in Deutschland sinnvoll“, meint der Club. Hersteller wie Brose arbeiten an technischen Gegenmaßnahmen. „Das Pedelec muss seinen Fahrradstatus unbedingt behalten“, sagt Thomas Leicht. Andernfalls wäre der Markt tot. Und das Geschäft auch.
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