Trotz einstweiliger Verfügung: Twitter hebt Nutzersperren nach AfD-Witzen nicht auf
Obwohl ein Gericht längst die Freigabe angeordnet hat, bleibt auch der Account des Grünen-Politikers Dietrich Herrmann gesperrt. Und das mitten im Wahlkampf.
Dietrich Herrmann steckt gerade mitten im Landtagswahlkampf. Er tritt für die Grünen in Sachsen an, doch ein wichtiger Kommunikationskanal fehlt ihm: Schon seit dem 10. Mai ist sein Twitteraccount gesperrt.
Wie viele andere Nutzer hatte er geschrieben, AfD-Wähler dürften nicht vergessen, ihre Stimmzettel zu unterschreiben, damit diese auch gültig seien. „Das war nicht mein bester Witz“, räumt Hermann ein. Doch eine so lange Sperre gehe zu weit.
Der Hintergrund ist, dass Twitter im April spezielle Richtlinien erlassen hat, um der Manipulation von Wahlen vorzubeugen. Da beim Unterschreiben der Stimmzettel ungültig wird, fallen entsprechende Tweets unter das Verbot.
Gericht fordert Aufhebung der Sperrung
Doch das Landgericht Dresden hat Twitter bereits am 21. Juni in einer einstweiligen Verfügung verpflichtet, „die Sperrung des Twitter-Accounts wegen der genannten Äußerung aufzuheben“. Am 3. Juli habe das Gericht laut Hermann den Beschluss zur förmlichen Zustellung an die Niederlassung von Twitter in Dublin geschickt. Hermann kann verstehen, dass die Freigabe nicht von heute auf morgen passiert. „Aber dass es nun schon über drei Wochen dauert, darf eigentlich nicht sein“, klagt der Landtagskandidat. Zumal er auch Unternehmensvertreter wie Twitter-Deutschlandchefin Jolanta Baboulidis direkt kontaktiert und auf den Fall aufmerksam gemacht hatte. „Aber die reagieren gar nicht“, sagt Hermann.
Der Politiker ist damit kein Einzelfall. Twitter hat eine ganze Reihe von Accounts wegen ähnlicher Tweets gesperrt, teilweise sogar, obwohl die Beiträge schon drei Jahre alt waren. Der Anwalt Jörn Claßen von der Kanzlei Höcker vertritt eine Reihe Betroffener. „Klar zulässige Inhalte werden geblockt. Die Meinungsfreiheit im Netz wird eingeschränkt“, sagt Claßen. „Dem schieben die Gerichte nun zunehmend einen Riegel vor. Willkür-Sperren wurden zuletzt mehrfach untersagt.“ Es gab dazu auch schon eine Anhörung im Bundestagsausschuss Digitale Agenda. Genaue Zahlen zu den Sperrungen wollten die Twitter-Vertreter dort jedoch nicht nennen. Auch auf Anfrage von Tagesspiegel Background wollte sich das Unternehmen nicht äußern.
Satire im Wahlkampf ist nur Satire-Accounts erlaubt
Allerdings erklärte das Unternehmen im Ausschuss, ironische Beiträge zu Wahlen seien zulässig, wenn sie von „Satire-Accounts“ stammen. Dafür müsse in der Accountbeschreibung „Satire“ stehen. Dies fehlte bei dem Krimi- und Thrillerautor Tom Hillenbrand. „Alle Afd-Wähler sollten: – ihren Wahlzettel fotografieren – ihn unterschreiben – Foto auf Insta posten – Wahlzettel danach aufessen“, hatte er getwittert. Weiterhin forderte er FDP-Wähler auf, ihre Stimme bei Ebay meistbietend zu versteigern. SPD-Wähler hingegen sollten die Stimmzettel klauen und schreien: „Die Kollektivierung hat begonnen! Lang lebe der Große Vorsitzende Kevin!“
Doch Twitter erkannte darin offenbar keine Satire, seit dem 7. Mai ist der Account gesperrt. Auch hier entschied das Landgericht München, Twitter habe dadurch das „Grundrecht auf Meinungsfreiheit verletzt“. Trotzdem wartet Hillenbrand seit der Entscheidung am 5. Juli darauf, dass die Tweets und der Account wieder freigegeben werden. „Das Gebaren von Twitter ist eines solchen weltweit tätigen Konzerns absolut unwürdig“, schimpft Hillenbrand.
Zumal die Sperre vielfältige Auswirkungen hat. Er kann sich nicht einloggen und damit auch nicht passiv die Beiträge anderer lesen oder selbst auf Nachrichten, die an ihn gerichtet sind zugreifen. Dem Grünen-Politiker geht es genauso und er bemängelt ein weiteres Problem. „Mein Konto sieht für Außenstehende nicht aus wie gesperrt“, sagt Hermann. Man kann es aufrufen und die vorhandenen Tweets lesen, muss dabei aber genau hinschauen, um zu merken, dass der letzte Beitrag aus dem Mai stammt. „Ich kann aber auch kein Hinweis oder eine Abwesenheitsnotiz hinterlassen“, sagt Hermann. Daher hat er inzwischen einen Zweitaccount mit dem Namen „Ersatz für @d_herrmann“.
Warum Twitter nicht wie in anderen Fällen gesperrte Nutzer auch öffentlich als solche sichtbar macht, wollte das Unternehmen auf Anfrage auch nicht sagen. „Wir geben hierzu momentan keinen Kommentar ab“, erklärte ein Sprecher. Hillenbrand wirft dem Unternehmen eine „Angstmasche“ vor. „Widerworte werden bestraft“, sagt der Schriftsteller. Denn wer freiwillig die beanstandeten Tweets löscht und auf Widerspruch verzichtet, bekommt seinen Account kurz darauf wieder freigeschaltet. In einem anderen Fall wurde der Account des Rechtsanwalts Thomas Stadler innerhalb von zwei Tagen entsperrt, nachdem er mit gerichtlichen Schritten gedroht hatte.
Gesetzliche Regelung gefordert
Herrmann und Hillenbrand wollen jedoch eine grundsätzliche Klärung. „Es hat schließlich Folgen für den demokratischen Diskurs, wenn man im Wahlkampf keine Witze mehr machen darf“, sagt der Grünen-Politiker. Die beiden Betroffenen fordern daher auch, dass der Gesetzgeber aktiv wird und strengere Vorgaben macht. „Unternehmen dieser Größenordnung müssen erreichbar sein und wenigstens eine Telefonnummer und E-Mailadresse haben“, sagt Hermann. Es könne nicht sein, dass ein für die Kommunikation heutzutage so relevanter Konzern keine zustellfähige Adresse in Deutschland habe, sagt auch Hillenbrand: „Die agieren wie eine zwielichtige Briefkastenfirma.“
Denn der Europasitz in Irland dürfte ein wesentlicher Grund dafür sein, warum die Entsperrungen noch nicht erfolgt sind. In Hillenbrands Fall muss das Landgericht München die Verfügung auf Englisch übersetzen und nach Dublin zustellen. Die Dresdner Richter hielten das nicht für notwendig. Es sei davon auszugehen, dass ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache vorhanden sind. Schließlich stelle Twitter Millionen Kunden in Deutschland eine vollständig in deutscher Sprache gehaltene Plattform zur Verfügung. Trotzdem kann die gerichtliche Zustellung und die Rückübermittlung der Postzustellurkunde nach Deutschland dauern. „Wir warten jeden Tag darauf“, sagt sein Anwalt Jonas Kahl von der Kanzlei Spiritlegal. Sollte sich Twitter dann nicht daran halten, droht er mit einem Ordnungsgeld von 250 000 Euro.
Zum Löschen gibt es strenge Fristen
Erstaunlich ist es trotzdem, dass sich in der EU trotz vorliegender Gerichtsentscheidungen der Vollzug um Wochen verzögern kann. Bei der Löschung von offensichtlich rechtswidrigen Inhalten hat die Politik sozialen Medien im Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) enge Fristen von 24 Stunden gesetzt. Für die Freigabe von rechtswidrig gesperrten Inhalten oder ganzen Accounts fehlen solche Vorgaben. "Bei der Sperrung von Accounts handelt es sich um einen sehr weitreichenden Eingriff", sagt die Netzpolitikerin Saskia Esken (SPD). Da ohnehin geplant ist, das NetzDG zu evaluieren, müsse man das an dieser Stelle möglicherweise schärfen.
Schließlich kann die Praxis von Twitter bei Nutzern zu einer Schere im Kopf führen. Herrmann spürt die Selbstzensur bereits: Obwohl sie laut Gerichtsurteil zulässig sind, würde er Tweets zum Unterschreiben von Stimmzetteln erst einmal lassen - wenn er den mal wieder welche verfassen kann. Hillenbrand gibt sich dagegen kämpferisch: "Ich verspreche noch unverschämter zu sein als vorher!"