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Die Stahlindustrie verbraucht hierzulande so viel Gas wie Berlin und München zusammen.
© dpa

Für ein resilientes Europa: Stahlindustrie warnt vor einem Gas-Boykott

Der Präsident der Wirtschaftsvereinigung Stahl erläutert die Bedeutung der Grundstoffindustrie für die deutsche Wirtschaft.

Die strategische Resilienz Europas ist in diesen Kriegszeiten das Gebot der Stunde. Dabei kommt der Wirtschaft und insbesondere der Industrie eine zentrale Rolle zu. Sie stehen zum Primat der Politik und den für uns neuen Herausforderungen. Europa und insbesondere Deutschland haben schon seit einiger Zeit einen klaren Kurs in Richtung Erneuerbare Energien eingeschlagen. Der schnelle Ausbau bekommt jetzt angesichts der Zeitenwende eine neue politische Dimension – eine auch sicherheitspolitische. Wir müssen uns von alten Abhängigkeiten lösen, die uns in den vergangenen Jahren zunehmend verwundbar gemacht haben. Die Transformation zur Klimaneutralität weg von fossilen Energien wird so zu einem wichtigen Eckpfeiler für Freiheit und Stabilität in der Europäischen Union.

"Der industrielle Motor muss weiterlaufen"

Politik, Wirtschaft und Gesellschaft stehen vor massiven Herausforderungen, die mit hoher Schlagzahl kommen und gleichzeitig klug und umsichtig von den politischen Entscheidern organisiert werden müssen: Bereits bis Sommer 2024, also in gerade einmal zwei Jahren, soll etwa der russische Anteil an der deutschen Gasversorgung auf nur noch zehn Prozent sinken. Gleichzeitig muss der industrielle Motor weiterlaufen – auch damit die Grundlagen für die Transformation zu einer grünen Industrie geschaffen werden können.

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Dabei spielt Stahl mit seiner Position am Beginn der industriellen Wertschöpfungsketten eine wichtige Rolle: Vom Elektroauto über das Windrad bis zu den Rohren, die beispielsweise die jetzt dringend benötigten Häfen für Flüssiggas mit den Verbrauchszentren verbinden sollen. Eine vorausschauende Planung ist dabei besonders wichtig, denn in einigen Jahren kann über diese Häfen und mit diesen Rohren grüner Wasserstoff transportiert werden, der für die Transformation der Industrie dringend gebraucht wird.

"Für die Dekarbonisierung brauchen wir Gas"

Die Stahlunternehmen wollen auch angesichts der neuen Herausforderungen weiter an ihren Dekarbonisierungsplänen festhalten. Dazu wird jedoch auch in den kommenden Jahren Erdgas benötigt, solange klimaneutraler Wasserstoff in den benötigten Mengen noch nicht zur Verfügung steht.

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Heute benötigt die Stahlindustrie in ihren Prozessen rund zwei Milliarden Kubikmeter Erdgas pro Jahr; ungefähr so viel, wie Berlin und München zusammen verbrauchen. Ziel muss sein, dass dieses möglichst rasch nicht mehr aus Russland kommt. Klar ist aber auch, dass ein plötzlicher Lieferstopp oder ein Embargo massive Auswirkungen auf diese Industrie hätte, solange keine anderen Quellen verfügbar sind – es käme zu drastischen Produktionseinschränkungen bis hin zur Beschädigung von Anlagen. Dies wäre auch ein Problem für die vielfältigen Wertschöpfungsketten, die an der Stahlindustrie hängen.

 Hans Jürgen Kerkhoff führt die in Düsseldorf ansässige Wirtschaftsvereinigung Stahl.
Hans Jürgen Kerkhoff führt die in Düsseldorf ansässige Wirtschaftsvereinigung Stahl.
© promo

Es ist daher richtig, dass die Bundesregierung diese Zusammenhänge nicht ignoriert und damit auch nicht leichtfertig einen Verzicht auf unsere industrielle Grundstoffproduktion in den Raum stellt. Denn Hersteller und Zulieferer gibt es anderswo eben nicht zur Genüge, auch wenn der internationale Wettbewerb in der Grundstoffindustrie intensiv ist. Und nur mit einer starken Grundstoffindustrie vor Ort wie zum Beispiel Stahl werden Innovationspartnerschaften erhalten und letztlich neue Abhängigkeiten vermieden. Auch beim Stahl lag der Anteil der russischen (und weißrussischen) Importe in Europa zu Beginn des Angriffskriegs bei etwa 30 Prozent. Der Großteil der europäischen Einfuhren im Stahlbereich entfällt auf Länder, die durch autokratische beziehungsweise nicht-marktwirtschaftliche Strukturen gekennzeichnet sind.

"3,4 Milliarden mehr für Energie"

Deshalb tut die Politik in Europa gut daran, die grüne Transformation nicht zu gefährden. Mit rund 3,4 Milliarden Euro jährlichen Mehrkosten für Gas und Strom ist die Stahlindustrie konfrontiert, wenn die Preise auf dem gegenwärtigen Niveau bleiben würden – ein erhebliches Problem für die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen.

Hinzu kommen hausgemachte Belastungen durch die Brüsseler Pläne zum Emissionsrechtehandel, die offenbar trotz der aktuellen Unsicherheiten unbeirrt weiter fortgesetzt werden sollen: Wenn die von der EU-Kommission geplanten Einschnitte der freien Zuteilung umgesetzt werden, wird die Branche in der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts zusätzliche 16 Milliarden Euro für den Kauf von Emissionszertifikaten aufbringen müssen. Ein unerprobter Grenzausgleich, der zudem keine Entlastungen für Exporte vorsieht, wird diese Kosten nicht auffangen. Damit verliert die Stahlindustrie ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit und kann zudem die Kosten für die Transformation nicht mehr aufbringen. Die Produktion würde aus Deutschland und Europa in andere Regionen der Welt abwandern, in denen sich keine Abkehr von der kohlenstoffbasierten Stahlerzeugung abzeichnet.

"60 Millionen Tonnen CO2 im Jahr"

Um den Einstieg in die klimaneutrale Stahlerzeugung zu schaffen, muss die Transformation in Europa erfolgreich sein. In Deutschland liegt der Treibhausgasausstoß der Stahlindustrie bei etwa 60 Millionen Tonnen CO2 im Jahr, was den Emissionen von rund 30 Millionen Pkw in diesem Zeitraum entspricht. 60 Millionen Tonnen, die sich mit Hilfe von grünem Strom, grünem Wasserstoff in ausreichender Menge und zu wettbewerbsfähigen Preisen und bereits vorhandenen Techniken vermeiden lassen – wenn die Rahmenbedingungen stimmen.

Um unsere freiheitliches und wertebasiertes Gesellschaftsmodell gegen aggressive Staaten zu schützen, benötigen wir wirtschaftliche Stärke. Dafür brauchen Europa und Deutschland eine zukunftsfähige Industrie. Anders lassen sich die Herausforderungen nicht bewältigen. Den Weg zur Klimaneutralität müssen wir beibehalten. Dies wird nur mit einer Industriepolitik gehen, die noch dynamischer Konsequenzen aus den neuen Herausforderungen zieht.

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