Industrie soll klimaneutral werden: Grüner Stahl ist möglich
Die Grundstoffindustrie kann mit Wasserstoff viel CO2 vermeiden. Allein Thyssen-Krupp will dazu Milliarden investieren.
Das Gelände des größten Stahlwerks in Europa ist fünfmal so groß wie Monaco. Etwa 13 000 Personen arbeiten in Duisburg, wo Thyssen-Krupp vier Hochöfen befeuert. Es gibt wohl nur noch einen anderen Industriestandort hierzulande, der so klimaschädlich ist wie dieser, das ist BASF in Ludwigshafen. Beide Anlagen sollen in diesem Jahrzehnt deutlich sauberer werden. Hier am Rhein wird sich zeigen, ob die Transformation der deutschen Grundstoffindustrie gelingt.
Thyssen-Krupp verursacht im Jahr 20 Millionen Tonnen CO2, das ist ungefähr zehnmal so viel wie alle Inlandsflüge an Kohlendioxid in die Luft blasen. Der Hebel zur CO2-Reduzierung sollte also bei der Stahlindustrie angesetzt werden, die insgesamt für sieben Prozent der deutschen Emissionen steht. Bei der Herstellung einer Tonne Rohstahl entstehen 1,7 Tonnen CO2. Thyssen-Krupp und Salzgitter, Arcelor Mittal und die Hütten im Saarland produzieren rund 36 Millionen Tonnen Stahl im Jahr. Deutschland ist das größte Industrieland und der größte Stahlerzeuger in der EU. Und das soll so bleiben: Die Ampel-Koalition bekennt sich zur Industrie als Basis einer Wertschöpfungskette, an deren Ende Lasermaschinen, Impfstoffe oder Autos stehen. „Um insbesondere die Grundstoffindustrie zu unterstützen, werden wir in dem für die Erreichung der Klimaziele ausreichendem Maße geeignete Instrumente schaffen“, heißt es im Koalitionsvertrag. Dazu gehören regulatorische Maßnahmen und viel Geld für eine noch nicht marktreife Technologie: Wasserstoff ist der Schlüssel zur Dekarbonisierung der Industrie.
30 Prozent weniger CO2 bis 2030
Marktführer Thyssen-Krupp möchte bis 2030 sechs Millionen Tonnen CO2, das entspricht 30 Prozent, weniger „produzieren“ als bislang und dann bis 2045 klimaneutral sein. Dazu müssen in diesem Jahrzehnt nach Konzernangaben rund 2,3 Milliarden Euro investiert werden; bis zur komplett CO2-freien Produktion wären es um die sieben Milliarden. Für die deutsche Stahlindustrie insgesamt mit ihren rund 80 000 Arbeitsplätzen müssten 30 Milliarden Euro in die Dekarbonisierung investiert werden. Ohne Hilfe des Steuerzahlers funktioniert das das nicht, zumal die Betriebskosten steigen: Nach Angaben der Stahlindustrie kostet sauberer Stahl allein zwischen 2026 und 2030 rund sechs Milliarden Euro mehr als der bislang im Hochofen mit Koks produzierte. Und diese Mehrkosten werden die Kunden in der Bauwirtschaft, in der Autoindustrie und im Maschinenbau nicht zahlen. Chinesischen Stahl sollen sie aber auch nicht kaufen.
Wasserstoff statt Kohle
Im Juli 2020 hat die Bundesregierung das ‚Handlungskonzept Stahl’ beschlossen und damit „rund fünf Milliarden Euro für die Dekarbonisierung der Industrie mobilisiert und den Grundstein für den Einstieg in die Transformation gelegt“, wie der damalige Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier sagte. „Im Rahmen eines großen gemeinsamen Wasserstoffprojekts fördern wir Zukunftsinvestitionen in der Stahlindustrie mit bis zu zwei Milliarden Euro.“ Wasserstoff statt Kohle, das ist die Formel der Zukunft.
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In ihren ersten 100 Tagen sollte sich die neue Bundesregierung auf die Transformation der Stahlindustrie konzentrieren, fordert die Wirtschaftsvereinigung Stahl, damit die Unternehmen ihre Investitionsentscheidungen treffen könnten. Eine Tonne Wasserstoff induziert in der Stahlindustrie Einsparungen von 28 Tonnen CO2. „Mit Klimaschutzdifferenzverträgen, Anreizen für grüne Leitmärkte, dem Ausbau der Erneuerbaren Energien und dem verstärkten Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft adressiert der Koalitionsvertrag Instrumente für eine nachhaltige und wettbewerbsfähige Stahlproduktion in Deutschland“, lobt die Branchenvereinigung.
Emissionshandel wird teurer
Die Klimaschutzverträge (Carbon Contracts for Difference) werden explizit im Koalitionsvertrag genannt. Im Prinzip sollen damit die Mehrkosten der klimafreundlichen Produktion ausgeglichen werden. Besonders wichtig ist der Industrie Carbon Leakage beim EU-Emissionsrechtehandel: Wenn in der Umsetzung des Fit-for-55-Programms der EU-Kommission der relativ saubere europäische Stahl aufgrund hoher CO2-Zertifikatepreise nicht wettbewerbsfähig ist und von chinesischem Billigstahl verdrängt würde, bedürfe es Schutz durch die Politik. Ein weltweiter CO2-Preis wäre der Industrie am liebsten, doch der ist nicht in Sicht. Ein auf die EU begrenzter Zertifikatemarkt wiederum kann in einer globalen Branche nicht funktionieren.
Thyssen-Krupp bekommt derzeit noch knapp 80 Prozent der CO2-Verschmutzungsrechte frei zugeteilt, muss also nicht dafür zahlen. Jahr für Jahr sinkt dieser Anteil um 1,6 Prozent, doch mit dem Fit-for-55-Programm wären es nach jetziger Planung fünf Prozent weniger im Jahr. Nach Angaben von Thyssen-Krupp führte das zu Mehrkosten von drei Milliarden Euro bis 2030. Die kämen also zu den Investitionen und den höheren Produktionskosten für CO2-freien Stahl hinzu. Deshalb gibt es den Appell an die Politik, sich Zeit zu nehmen und die alte Technologie nicht zu schnell zu stark zu verteuern.
Aus Eisenerz wird Eisenschwamm
Die neue Technologie ist vorhanden: Mit Kokskohle betriebene Hochöfen werden auf Direktreduktionsanlagen und Wasserstoff umgestellt. Dabei wird Eisenerz zu einem Eisenschwamm „reduziert“. Für das Schmelzen des Schwamms bedarf es viel weniger Kokskohle. Auf Erdgasbasis wird Direktreduktion schon angewendet, und auch auf diese Weise entsteht weniger CO2 als im traditionellen Hochofenprozess mit Kohle. Klimaneutral wird der Stahl jedoch erst dann, wenn anstelle von Gas grüner Wasserstoff eingesetzt wird. Das riesigen Gelände in Duisburg ist für die Transformation prädestiniert: Es gibt genügend Platz für den Aufbau neuer und die Umrüstung bestehender Anlagen.
Für 1,2 Milliarden Euro könnte der erste Einschmelzer gebaut und gleichzeitig der Hochofen nebenan weiterbetrieben werden. Pipelines zur Versorgung mit Wasserstoff sind vorhanden. Dazu gab es vom Wirtschaftsministerium 37 Millionen Euro für den Bau einer neuen Leitung. Rotterdam, Europas größter Hafen, könnte perspektivisch Thyssen-Krupp versorgen, den größten Abnehmer von Wasserstoff in Europa.
Jetzt drängt die Zeit
„Die Investitionspläne sind fertig“, heißt es beim Ruhrkonzern, dessen Tochter Uhde einer der größten Hersteller von Elektrolyse-Anlagen zur Wasserstoffproduktion ist. Jetzt wartet man am Konzernsitz in Essen auf den neuen Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck (Grüne). Noch im Januar wünscht sich der Konzern die Bildung einer „Transformations-Allianz“ mit Beteiligung der wichtigsten Ministerien und Unternehmen. Bis Mitte 2022 sollten die zentralen Maßnahmen und Instrumente vereinbart sein. Die IPCEI-Förderung (für Important Projects of Common European Interest) sollte bis dahin geklärt sein, sodass gut 40 Prozent der Investitionskosten in der öffentlichen Hand liegen. Dann muss es nur noch flott gehen mit den Planungs- und Genehmigungsverfahren.