AOK startet Transparenz-Offensive: Riesenunterschiede zwischen Krankenkassen
Transparenzberichte in der AOK zeigen: Bei Wartezeit und Ablehnungsquoten gibt es große Unterschiede. Andere Krankenversicherer gewähren noch keinen Einblick.
Bei welcher Krankenkasse wartet man am längsten auf die Bewilligung von Leistungen? Wo ist das Risiko einer Ablehnung am höchsten? Welcher Anbieter hat den meisten Ärger mit seinen Kunden, also beispielsweise die höchsten Widerspruchsquoten? Und warum gibt es für solche Leistungsparameter – trotz des Dauerbeschwörens von echtem Qualitätswettbewerb, bei dem die bloße Höhe des Zusatzbeitrags nicht länger die alles entscheidende Rolle spielen möge – noch immer keine verlässlichen Vergleichsmöglichkeiten?
Bisher herrschte in Sachen Leistungstransparenz bei den Kassen weitgehend Fehlanzeige. Nur wenige Versicherer – wie etwa die Siemens-BKK, die Viactiv oder die IKK Südwest – veröffentlichten freiwillig Transparenzberichte. Möglicherweise ändert sich das nun aber, denn kurz vor Weihnachten hat die AOK-Gemeinschaft ein Signal gesetzt und sich mit ihren knapp 27 Millionen Versicherten ebenfalls zu einer Transparenzoffensive aufgerafft. Seither informieren auch alle elf AOKen via Internet detailliert über ihre Arbeit, ihre Leistungsbewilligung, das Feedback ihrer Mitglieder. Und, siehe da, das Outing ist durchaus ergiebig: Selbst innerhalb dieses regional aufgefächerten Kassenverbundes gibt es Riesenunterschiede bei Wartezeiten und Ablehnungsquoten.
Im Osten warten AOK-Versicherte sechsmal so lange auf ein Pflegebett
Beispiele für das Jahr 2019 gefällig? Auf die Bewilligung einer Mutter- oder Vater-Kind-Kur mussten Versicherte im Südwesten der Republik fünfmal so lange warten wie im Osten. Für Antragsteller aus Baden-Württemberg betrug die Bearbeitungszeit durchschnittlich 52,4 Tage, in Sachsen-Anhalt war das im Schnitt schon nach zehn Tagen erledigt. Andersherum lief es bei Anträgen auf ein Pflegebett. Hier glänzte die AOK im Südwesten als schnellste Kasse im Verbund, sie brauchte pro Entscheidung gerade mal 3,8 Tage. Pflegebedürftige der AOK Plus mussten sich sechsmal so lange gedulden, nämlich durchschnittlich 23,2 Tage.
Beim Zahnersatz wiederum ließ sich die AOK Nordwest die meiste Zeit, die eingereichten Heil- und Kostenpläne lagen dort im Schnitt 18,2 Tage. Die AOK Bremen schaffte die Bearbeitung in 4,2 Tagen. Bei Erstanträgen auf Leistungen der Pflegekasse mussten sich die AOK-Versicherten in Westfalen, Lippe und Schleswig-Holstein ebenfalls am längsten gedulden, dort dauerte es bis zur Entscheidung durchschnittlich 42,6 Tage. Die AOK Plus brauchte dafür nur 22 Tage. Und auch bei der Bewilligung von Kurzzeit- und Verhinderungspflege landete die AOK Nordwest mit 20,2 beziehungsweise 18,6 Tagen ganz hinten. In Sachsen und Thüringen benötigten die Ortskrankenkassen dafür gerade mal vier respektive fünf Tage.
Interessant ist auch der Umgang mit der Bitte um stationäre Rehabilitation, die sich nach bestimmten Operationen und Diagnosen möglichst zügig an Krankenhausaufenthalte anschließen sollte. Hier haben die Versicherten der AOK Nordost die schlechtesten Karten, die Bearbeitungszeit ihrer Anträge dauerte mit 25,8 Tagen am längsten. Die AOK Bayern schaffte das im Schnitt in 4,4 Tagen.
Ablehnungsquoten zwischen 2 und 29 Prozent
Sind derartige Unterschiede bei den Wartezeiten in Ordnung? Rein rechtlich ja. Und da die AOKen untereinander nicht im Wettbewerb stehen und andere Konkurrenten keine Transparenzberichte veröffentlichen, müssen selbst die behäbigsten Ortskrankenkassen kaum befürchten, dass ihnen Mitglieder weglaufen. Allerdings: „Patientinnen und Patienten müssen sich darauf verlassen können, dass alle Kassen rechtskonform und nachvollziehbar mit ihren Leistungsanträgen umgehen und diese innerhalb der gesetzlichen Fristen bearbeiten“, betont die Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Claudia Schmidtke. Laut Gesetz haben die Versicherer über Leistungsanträge binnen drei Wochen, bei Hinzuziehung von Gutachtern binnen fünf Wochen zu entscheiden.
„Unverhältnismäßig lange und unbegründete Wartezeiten sind aus meiner und vor allem aus Sicht der Patientinnen und Patienten nicht hinnehmbar“, stellt die CDU-Politikerin Schmidtke klar. Daher sei „ausdrücklich geregelt, dass eine Leistung nach Ablauf der Frist als genehmigt gilt, wenn die Krankenkasse keinen hinreichenden Grund für eine Fristverlängerung mitgeteilt hat“. Wenn sich Versicherte nach Ablauf der Frist eine erforderliche Leistung selbst beschafften, habe die Kasse hierdurch entstandenen Kosten zu erstatten. Eine Sonderregelung gilt für die Feststellung von Pflegebedürftigkeit, hierüber muss binnen 25 Arbeitstagen entschieden sein. In dringenden Fällen – etwa wenn die Versorgung nach Klinikaufenthalten nicht gesichert ist – verkürzt sich die Begutachtungsfrist auf eine Woche. „Entscheidet die Pflegekasse zu spät und ist sie für die Verzögerung verantwortlich, muss sie in der Regel 70 Euro für jede begonnene Woche der Fristüberschreitung an die oder den Versicherten zahlen“, so Schmidtke.
Dabei würden manche vielleicht gerne länger warten, wenn sie die Gewähr hätten, dass die beantragte Leistung bewilligt wird. Tatsächlich gibt es jedoch auch bei der Ablehnungsquote – wie der AOK-Vergleich zeigt – enorme Unterschiede. Bei Anträgen auf Pflegeleistung betrug diese im Jahr 2019 zwischen 2 Prozent (AOK Plus) und 21,6 Prozent (AOK Bremen). Beim Zahnersatz belief sich die Spanne auf 0,4 (Baden-Württemberg) bis 8 Prozent (Niedersachsen), bei Reha-Leistungen auf 13,8 (Bremen) bis 29 Prozent (Hessen). Und auch die Widerspruchsquote war unterschiedlich. Bei der Krankenversicherung reichte sie von 0,05 Prozent (AOK Baden-Württemberg) bis 0,23 Prozent (AOK Nordost), bei der Pflegeversicherung von 0,96 Prozent (AOK Rheinland-Pfalz/Saarland) bis 3,7 Prozent (AOK Sachsen-Anhalt).
Kassenwahl darf bei Leistungsbewilligung keine Rolle spielen
Solche Differenzen ließen sich nicht wirklich erklären, meint die gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Maria Klein-Schmeink. Aus ihrer Sicht wäre vielen chronisch Kranken oder Behinderten mit besonderem Versorgungsbedarf „sehr geholfen, wenn es ein versorgungsorientiertes Case-Management und feste Ansprechpartner mit fachspezifischen Kenntnissen gäbe“. Ob eine Leistung bewilligt werde, dürfe jedenfalls „nicht davon abhängig sein, bei welcher Krankenkasse das Versicherungsverhältnis besteht“, betont die Patientenbeauftragte Schmidtke. „Der gesetzliche Leistungsanspruch muss für alle Versicherten in gleicher Weise erfüllt werden.“ Problematisch werde es, wenn der Eindruck entstehe, dass Leistungen zu Unrecht abgelehnt würden.
Über die konkreten Gründe, die den unterschiedlichen Ablehnungsquoten zugrunde lägen, könnten nur die Kassen selber Auskunft geben, sagt Schmidtke. Die AOK-Zahlen zeigten jedoch, „wie wertvoll ein nachvollziehbarer Leistungsvergleich der Krankenkassen sein kann“. Versicherte hätten damit „erstmalig die Möglichkeit, im Vorfeld eines konkreten Leistungsfalles die Qualität der Arbeit einer Krankenkasse besser einzuschätzen“, so die Beauftragte. „Die Fragen, ob und wie schnell die Krankenkassen im Bedarfsfall Leistungen auch tatsächlich erbringen, könnten damit ein entscheidendes Kriterium der Wahlentscheidung für oder gegen eine Krankenkasse werden.“ Insofern begrüße sie den Vorstoß der AOKen „außerordentlich“. Das sei ein „Schritt in die richtige Richtung, dem weitere Krankenkassen folgen sollten“.
Grüne fordern ein Transparenz-Portal für alle
Bisher seien Informationen zum Leistungsumfang und zur Qualität der Leistungsgewährung bei den einzelnen Kassen „nur schwer beziehungsweise gar nicht zugänglich“, bedauert Schmidtke. Auch amtlich würden nur einzelne Daten wie etwa die Anzahl der Fristüberschreitungen bei Leistungsanträgen erfasst. Sie habe daher vor kurzem alle gesetzlichen Versicherer kontaktiert, um in Erfahrung zu bringen, ob sich mittlerweile nicht noch weitere Krankenkassen für entsprechende Transparenzoffensiven entschieden haben. Die Ergebnisse dieser Befragung würden in diesem Jahr öffentlich kommuniziert.
Ein echter Kassenvergleich könne aber nur funktionieren, wenn sich alle nach gleichen Regeln beteiligten, gibt Grünen-Experten Klein-Schmeink zu bedenken. „Ansonsten kann es sogar passieren, dass der Mut zur Transparenz zu Nachteilen führt, weil einzelne Daten nicht ins Verhältnis gesetzt werden können.“ Warum also existiert nicht längst eine Art Transparenz-Portal, wo Bearbeitungszeiten, Ablehnungsquoten, Widerspruchsverfahren und ähnliche Kriterien zum Umgang mit Versicherten erfasst und für alle einsehbar sind? Eine entsprechende Parlamentsinitiative der Grünen sei „leider an den Koalitionsfraktionen gescheitert“, erinnert Klein-Schmeink. Mit dem jetzt geplanten „Gesetz zur Weiterentwicklung des Gesundheitswesens“ (GWeG) böte sich aber „parlamentarisch eine neue Möglichkeit, das Anliegen aufzugreifen“.
Verbraucherschützer: Gesetzliche Vorgaben nötig
Noch deutlicher wird der Bundesverband der Verbraucherzentralen (vzbv). Die Transparenzberichte seien „nur ein Schritt in die richtige Richtung“, sagte die Gesundheitsexpertin des Verbands, Petra Fuhrmann, dem Tagesspiegel Background. „Eine freiwillige Selbstverpflichtung einzelner Krankenkassen schafft aber keineswegs die notwendige Transparenz und Vergleichsmöglichkeit für Verbraucherinnen und Verbraucher bei der Wahl ihrer Kranken- und Pflegekasse.“ Dringend nötig seien „klare gesetzliche Vorgaben, welche Informationen veröffentlicht werden müssen – und zwar von allen Kassen“. Diese Qualitätsdaten müssten „nutzerfreundlich in einem Portal aufbereitet werden, anstatt seitenlange Einzelberichte herauszugeben“, denn nur so könnten Versicherte die Qualität der einzelnen Kassen schnell und leicht verständlich vergleichen.
Die Patientenbeauftragte dagegen verweist auf die Selbstverwaltung. Der GKV-Spitzenverband habe „den gesetzlichen Auftrag, Entscheidungen zur Organisation des Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitswettbewerbs der Krankenkassen zu treffen und Rahmenrichtlinien für den Aufbau und die Durchführung eines zielorientierten Benchmarkings der Leistungs- und Qualitätsdaten zu erlassen“, sag Schmidtke dem Tagesspiegel Background. „Eine Festlegung von verbindlichen Indikatoren und Kriterien für einen Qualitätsvergleich könnte meines Erachtens durchaus im Rahmen dieser Aufgabe durch den GKV-Spitzenverband erfolgen, um den Krankenkassen die Umsetzung von Transparenzmaßnahmen zu erleichtern.“ Gegebenenfalls wäre dann lediglich „zu prüfen, ob der bestehende gesetzliche Auftrag um eine entsprechende Umsetzungsfrist ergänzt werden sollte“.