Kampf um Rollstuhl und Reha: Verbraucherschützer fordern von Krankenkassen mehr Transparenz
Was bewilligen bestimmte Krankenkassen, mit welchen gibt es Ärger? Verbraucherschützer und Grüne fordern, dass Versicherer ihr Leistungsverhalten publik machen.
Bei der Wahl der Krankenkasse ist für gesetzlich Versicherte meist nur eines entscheidend: die Beitragshöhe. Der Rest ist Blindflug – und wie es mit der Kasse sonst so klappt, stellt sich oft erst im Krankheitsfall heraus. Patientenschützer und Grüne wollen das geändert haben. Zur besseren Vergleichbarkeit müssten die Kassen verpflichtet werden, regelmäßig auch die Zahl der abgelehnten Leistungsanträge und erfolgreichen Widersprüche zu veröffentlichen, fordern sie.
"Transparenz über Leistungsbewilligungen ist dringend notwendig"
„Transparenz über die Leistungsbewilligungen und -ablehnungen der einzelnen Krankenkassen ist dringend notwendig“, sagte der Gesundheitsexperte des Bundesverbands der Verbraucherzentralen, Kai Vogel, dem Tagesspiegel. Informationen zum jeweiligen Umgang mit Versichertenanträgen sollten verpflichtend veröffentlicht werden. Als Beispiel nennt Vogel die Bewilligungsquoten für Hilfsmittel wie etwa Rollstühle, Reha-Maßnahmen oder Mutter-Kind-Kuren, die sich von Kasse zu Kasse stark unterscheiden. „Bisher finden Verbraucher dazu keinerlei Angaben.“
Das Gleiche gelte für juristische Auseinandersetzungen. Jede Kasse sollte „zumindest jährlich verbindliche Informationen veröffentlichen müssen, wie viele Widersprüche von Versicherten gegen nicht genehmigte Leistungen erfolgreich waren“, verlangt der Verbraucherschützer. Einer repräsentativen Umfrage von 2017 zufolge wünschten sich 78 Prozent der gesetzlich Versicherten solche Angaben.
Auch die Patientenbeauftragte möchte mehr Qualitäts-Wettbewerb
Die neue Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Claudia Schmidtke, steht hinter dieser Forderung. „Solche Transparenz wäre für den erwünschten Qualitäts-Wettbewerb sicher nicht schlecht“, sagte sie vor kurzem. Und die Grünen wollen verpflichtende Infos über das jeweilige Kassengebaren per Gesetz erzwingen. „Insbesondere für chronisch kranke oder Menschen mit Behinderung können beim Vergleich der Krankenkassen die Leistungsgewährung beziehungsweise die Quote der Ablehnung von Leistungen und spezielle Programme für bestimmte Krankheiten wichtige Kriterien bei der Wahl einer Krankenkasse sein“, heißt es in einem Gesetzesantrag, der dem Tagesspiegel vorliegt und der nach der Sommerpause in den Bundestag eingebracht werden soll.
Die Infos sollten „verständlich aufbereitet werden, so dass Versicherte die Chance erhalten, Krankenkassen anhand der Kriterien, die für sie relevant sind, miteinander zu vergleichen“. Mit der Datenaufbereitung könne man dann eine zu gründende Patientenstiftung beauftragen.
„Eine günstige Kasse nutzt gar nichts, wenn sie nicht leistet“, sagte die gesundheitspolitische Sprecherin der Grünenfraktion im Bundestag, Maria Klein-Schmeink, dieser Zeitung. Leider sei aber für Versicherte nicht voraussehbar, ob eine Kasse Schwierigkeiten mache. „Das kriegen sie erst zu spüren, wenn ihnen, die aufgrund einer Krankheit oder Behinderung ohnehin mit ihren Kräften haushalten müssen, eine Kur verweigert oder minderwertige Hilfsmittel geliefert werden.“ Daher brauche es „Transparenz über das Leistungsgebaren und die Servicequalität der Krankenkassen“. Die Veröffentlichung von Widersprüchen, Ablehnungsquoten und Gerichtsverfahren der einzelnen Kassen sei „eine gute Idee“.
Studie belegt höchst unterschiedliche Ablehnungsquoten je nach Kasse
Dass die Ablehnungsquoten von Leistungsträgern je nach Kasse und auch nach Kassenart höchst unterschiedlich sind, belegt ein Gutachten des IGES-Instituts aus dem Jahr 2017. Bei Anträgen auf Kur oder Reha-Maßnahme variierten sie demnach zwischen 8,4 Prozent (Landwirtschaftliche Krankenkasse) und 19,4 Prozent (AOKen und Ersatzkassen). Und bei Hilfsmitteln für chronische Wunden ging das Verhalten der Versicherer noch weiter auseinander. Hier betrug die Ablehnungsquote bei einer Kasse nicht mal vier, bei einer anderen fast 55 Prozent.
Kein Wunder, dass der Ärger mit abgewiesenen Leistungsanträgen gesetzlich Krankenversicherte umtreibt, wie kaum etwas anderes. Von den mehr als 128 000 Anfragen, die von der Unabhängigen Patientenberatung Deutschlands (UPD) im vergangenen Jahr bearbeitet wurden, hatte nahezu jede dritte dieses Thema. Immer wieder, so bekamen die Berater zu hören, würden Anträge auch ohne individuelle Begründung abgelehnt. Offensichtlich gebe es hier „eklatante Kommunikationsprobleme“, resümierte UPD-Geschäftsführer Thorben Krumwiede.
„Die Erfahrung zeigt, dass es zwischen den blumigen Leistungsversprechen und der tatsächlichen Leistungsbereitschaft in der GKV oft eine große Diskrepanz gibt“, sagt Hans Unterhuber. Damit Versicherte besser vergleichen könnten, hätten sie „ein Recht auf diese Fakten“. Unterhuber ist nicht Verbraucherschützer, sondern Vorstandschef der Siemens-Betriebskrankenkasse (SBK) mit mehr als eine Million Versicherten. Aber als einer von wenigen seiner Branche findet auch er, dass deutlich mehr Transparenz über das Leistungsgeschehen nottäte. „Eine gute Absicherung im Krankheitsfall ist mehr als die Frage nach dem Preis“, sagt er. „Wenn es aber um mehr als den Beitragssatz geht, brauchen die Versicherten Anhaltspunkte, um vergleichen zu können.“
Zwei große Kassen veröffentlichen ihre Daten schon freiwillig
Der Kassenfunktionär belässt es nicht bei Appellen an andere. Zum dritten Mal in Folge hat die SBK nun schon freiwillig die Zahl aller Widersprüche gegen Leistungsentscheidungen ihres Hauses aufgelistet. 1064 waren es im vergangenen Jahr. 178 mündeten in Sozialgerichtsverfahren. In 68,7 Prozent der Fälle gaben die Gerichte der SBK Recht, in 15,8 Prozent den Klägern. 14,5 Prozent endeten mit Vergleich. Diese Zahlen muss man nun nur noch in Relation zur Größe der Kasse stellen, um einen aussagekräftigen Wert zu erhalten.
Und Unterhuber geht noch weiter. Er macht auch die Zahl aller Kundenbeschwerden öffentlich – „ohne Bauchschmerzen“, wie er sagt. Die Palette reicht hier vom geballten Ärger über die nichtbezahlte individuelle Gesundheitsleistung (IGEL) bis hin zu der vorsichtigen Nachfrage, wie lange es denn bitte noch dauern wird mit der neuen Gesundheitskarte. Und wer will, erfährt sogar im Detail, wie lange die Kasse braucht, um beantragte Hilfsmittel zu genehmigen oder abzulehnen. Für Badewannenlifter waren es 2018 demnach im Schnitt 2,1 Tage, für einen Standard-Rollstuhl 2,8 und für eine elektrische Insulinpumpe 6,6 Tage. Mehr Transparenz geht kaum.
Das alles gebe nicht nur „einen intimen Einblick in das, was uns und unsere Versicherten im Alltag tatsächlich beschäftigt“, sagt der Kassenchef. Es helfe auch dem eigenen Laden, besser zu werden.
Grüne: Alle Versicherer müssen sich beteiligen
Noch besser wäre aber wäre es aus Unterhubers Sicht für die Versicherten, wenn alle Kassen solche Zahlen veröffentlichen müssten. Immerhin ist er nicht ganz allein. Die IKK-Südwest veröffentlicht ebenfalls seit Jahren freiwillig ihre Zahlen zu Widersprüchen, Sozialgerichtsverfahren und Beschwerden . „Wenn Versicherte einheitlich vergleichen können, bei welchen Krankenkassen beispielsweise besonders oft Widerspruch gegen Leistungsbescheide eingereicht wird, hilft das bei der Wahl der richtigen Kasse“, meint Vorstandschef Roland Engehausen. Auch Deutschlands größte Ersatzkasse, die Techniker-Krankenkasse, scheint nichts gegen eine solche Verpflichtung zu haben. Er begrüße "die Forderung, die Widerspruchsverfahren transparenter und vergleichbarer zu gestalten", sagte jedenfalls der Vorsitzende des TK-Verwaltungsrates, Dieter Märtens.
Relevanz für die Versicherten erhielten die Transparenzoffensiven einiger weniger erst, wenn sich alle Kassen beteiligen müssten, heißt es in dem Grünen-Antrag. Vergleichsportale müssten auf den ersten Blick zeigen, welche Versicherer sich in Service und Versorgung engagierten, fordert Klein-Schmeink. Das betreffe die Bewilligung von Antragsleistungen ebenso wie die Genehmigung von Hilfsmitteln und die Verordnung von Physio- oder Ergotherapie. Zudem könne dann jeder unkompliziert erfahren, bei welcher Kasse es persönliche Ansprechpartner, klare Aussagen und unkomplizierte Verfahren gebe.
Und für die Kassen, so ist sich Klein-Schmeink sicher, gebe es dadurch „einen größeren Anreiz, sich um eine bessere Versorgung ihrer Versicherten zu bemühen“.