Gewerkschafter überprüfen Nachtschichten: Nachts allein unter Kranken
Schon Freitag hatten 700 Verdi-Gewerkschafter bundesweit Nachtschichten in Krankenhäusern: Sie dokumentierten, dass eine Pflegekraft oft 25 Patienten betreut.
Die Personallage in deutschen Kliniken ist offenbar in den Nachtschichten besonders kritisch. Eine Untersuchung der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi in 225 Krankenhäusern schon in der Nacht zum Freitag ergab, dass in 55 Prozent der Kliniken eine Pflegekraft alleine 25 Patienten betreuen muss. In anderen Häusern war der Gewerkschaft zufolge noch ein Azubi oder angelernter Helfer im Dienst. Es habe fünf Stationen gegeben, auf denen gar keine ausgebildete Schwester, sondern nur ein Helfer anwesend war.
„Das Patientenwohl ist ernsthaft gefährdet“, sagte Sylvia Bühler vom Verdi-Bundesvorstand am vergangenen Freitag in Berlin. Besonders bedenklich gehe es auf Intensivstationen zu. Dort versorgt Verdi zufolge eine Pflegekraft im Schnitt 3,3 Patienten. Auf 42 der 419 besuchten Intensivstationen kümmerte sich eine Fachkraft sogar um sechs Patienten. Den von Fachleuten empfohlenen Schlüssel – eine Schwester für zwei Intensiv-Patienten – erfüllten acht Prozent der Kliniken.
Wachschutz der Klinik eines Privatkonzerns behindert Gewerkschafter
Bundesweit gibt es fast 2000 Kliniken. Für die vergleichsweise große Stichprobe hatte Verdi 700 haupt- und ehrenamtliche Mitglieder mobilisiert. Die Gewerkschafter hatten sich mit Fragebögen und nach Anmeldung in die Häuser begeben – meist ohne Probleme. Dem Vernehmen nach hatte der Wachschutz einer sächsischen Klinik eines Privatkonzerns einigen Verdi-Besuchern den Zutritt verweigert.
Klinikmanager hatten oft selbst auf den Kostendruck aufmerksam gemacht, der auch zu Stellenstreichungen führt. Hintergrund sind nicht nur fehlende Investitionen des Staates in die als notwendig anerkannten Kliniken; zu diesen Plankrankenhäusern zählen auch private und kirchliche Einrichtungen. Ein Vorwurf trifft auch die Krankenkassen: Weil sie seit 2003 nur noch pro Diagnose, nicht pro Liegedauer zahlen, bekommen die Kliniken weniger Geld, als ein Patient tatsächlich gekostet hat. Aus demografischen Gründen werden zudem mehr Patienten mit schweren pflegeintensiven Altersleiden versorgt.
Eine Schwester allein hebt keinen 200-Kilo-Patienten
Personalvertreter hatten nach Pannen immer wieder auf massive Arbeitsverdichtung hingewiesen. Verdi-Vize Bühler erklärte am Freitag, der Stress führe dazu, dass vorgeschriebene Hygieneprozeduren kaum noch einzuhalten seien. 28 Prozent des befragten Pflegepersonals gab an, das Desinfizieren der Hände vernachlässigt zu haben. Nachtschichten, die einst den Schlaf der Patienten bewachen sollten, gebe es nicht mehr. Pfleger aus den Berliner Kliniken berichteten dem Tagesspiegel, dass Routineaufgaben wie die Medikamentengabe am Tag wegen der hohen Patientenfrequenz in die Nacht verschoben würden. „Und die Patienten werden immer älter, zudem haben viele Keime und müssten isoliert werden – nur erfordert das mehr Personal“, sagte Carsten Becker, Personalrat an der Charité. „Eine Schwester allein kann keinen 100-, oder gar 200-Kilo-Mann bewegen.“
Klinikbetreiber nennen Verdi-Aktion "unseriös"
Die Krankenhausgesellschaft nannte die Verdi-Erhebung „unseriös“, Verdi habe keine medizinische Kontrollfunktion, die Fragen an die Nachtschichten seien zudem suggestiv gewesen. Es gebe zwar „personelle Engpässe“, 5000 Pflegestellen seien unbesetzt – allerdings nicht, um Kosten zu sparen, sondern weil Fachkräfte fehlten. Die Arbeitgeber verwiesen auch auf die Gewerkschaftsvertreter in den Selbstverwaltungsorganen der gesetzlichen Krankenkassen: Verdi müsse sich fragen lassen, wie es dazu komme, dass die Versicherungen ihre Mittel für die Kliniken nicht so stark erhöhten, wie die Kosten stiegen. Der Verband der Kassen wiederum erklärte, es könne nicht sein, dass die Beitragszahler jedes Jahr mehr Geld für die Kliniken ausgäben, aber dann, wenn sie selbst krank seien, keine Krankenschwester da sei.
Die meisten Schwestern haben keine ungestörten Pausen
In Berlin und Brandenburg hatte Verdi Pflegestationen in insgesamt 19 Kliniken besucht, in denen mehr als 5800 Patienten lagen. Fast 67 Prozent der befragten Schwestern und Pfleger in Berlin – und sogar 98 Prozent derjenigen in Brandenburg – gaben dabei an, dass ungestörte Pausen im Nachtdienst meist nicht möglich seien. Mehr als ein Drittel sagte, dass erforderliche Tätigkeiten wegen des Zeitdrucks nicht erledigt werden könnten. Befragt wurden Nachtdienste landeseigener, gemeinnütziger und privater Häuser. Dazu, ob der Druck auf das Personal in gewinnorientierten, privaten Kliniken größer ist als in landeseigenen oder kirchlichen Häusern, sagte Verdi nichts. Eine detaillierte Auswertung der stichprobenartigen Befragung soll später veröffentlicht werden.
Verdi-Vorstand Bühler forderte erneut eine bessere Mindestbesetzung. Wie berichtet, wird derzeit über eine gesetzliche Personalbemessung diskutiert. Die Politik müsse verbindliche Vorgaben machen, sagte Bühler, Markt und Wettbewerb regelten es nicht. Ein erster Schritt könne eine verbesserte finanzielle Ausstattung sein. Die Bundesregierung will in den nächsten drei Jahren 660 Millionen Euro als Soforthilfe für das Personal ausgeben: Rechnerisch wären das weniger als zwei Vollzeit-Schwestern pro Klinik.
Bei Helios droht Streik
In der Berliner Region stehen derzeit Arbeitskämpfe bei zwei Klinikbetreibern an. Die Beschäftigten der Brandenburgklinik bei Bernau hatten erst am Donnerstag für einen Haustarifvertrag gestreikt, der sich an den Löhnen im öffentlichen Dienst orientiert. Verdi verhandelt außerdem mit Helios. Das private Unternehmen ist eine der größten Klinikketten des Landes. Weil die zuständige Bund-Länder-Arbeitsgruppe sich erst vage dazu geäußert hat, wie der Personalbedarf ermittelt werden soll, wollen Gewerkschafter die Frage deshalb vorher in Tarifverträgen regeln. Doch während Schwestern und Pfleger an den Universitätskliniken vergleichsweise gut organisiert sind, gibt es Krankenhäuser, in denen gerade fünf Prozent des nichtärztlichen Personals einer Gewerkschaft beigetreten ist.
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