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Gerade Frauen kümmern sich derzeit neben dem Job häufig ums Kind.
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WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch: „Mütter haben eine sehr schlechte Lobby“

Frauen sind von der Coronakrise besonders betroffen, sagt die Soziologin Bettina Kohlrausch. Wenn Kinder Videokonferenzen stören, sei das trotzdem eine Chance.

Frau Kohlrausch, während der letzten Wochen wurde viel über Homeoffice gesprochen. Diese Möglichkeit haben aber weder Putzfrauen noch Bäcker. Zementieren sich gerade verschiedene Welten?
Wir wissen, dass vor allem Höherqualifizierte und damit Besserverdiener zu Hause arbeiten können – und diese fühlen sich trotz ihrer Herausforderungen im Schnitt weniger belastet als jene, die diese Option gar nicht erst haben. Ob sich diese Ungleichheit verfestigt, weiß ich nicht. Ich denke aber, dass auch nach der Pandemie mehr Menschen hin und wieder von zu Hause aus arbeiten werden, während andere nicht einmal darüber nachdenken können.

Wurde an einem Teil der Bevölkerung vorbeidiskutiert?
Für Eltern, die nicht zu Hause arbeiten und ihre Kinder betreuen konnten, gibt es eine Entschädigungsleistung. Das Problem wurde vom Gesetzgeber also schon gesehen. Allerdings ist ein Lohnersatz von 67 Prozent in etlichen Jobs zu wenig.

Je nachdem ob ich die letzten Wochen zu Hause verbrachte oder nicht, nehme ich die Krise sicherlich anders wahr, die Einschränkungen und Lockerungen.
Das klingt nachvollziehbar, aber ich kann darauf noch keine empirische Antwort geben. Anfang April haben wir eine Befragung veröffentlicht. Die zeigte, dass es eine ganz, ganz große Zustimmung zu den Maßnahmen gab und die Schritte der Regierung für angemessen gehalten wurden. Ich betone angemessen, nicht angenehm.

[Frauen halten in Zeiten von Corona in systemrelevanten Berufen den Laden am Laufen. Trotzdem trifft sie Krise besonders. Lesen sie hier unsere Datenanalyse. (Abo)]

Zu dem Zeitpunkt wurde die Politik von der breiten Bevölkerung mitgetragen. Man könnte jetzt annehmen, dass jene, die inzwischen stark leiden, um ihren Job fürchten, ihn verlieren, skeptisch oder wütend werden. Bald führen wir eine Nachbefragung durch. Dann werden wir sehen, ob es Unterschiede zwischen sozialen Schichten gibt.

Bettina Kohlrausch ist seit Kurzem Wissenschaftliche Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung.
Bettina Kohlrausch ist seit Kurzem Wissenschaftliche Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung.
© privat

Haben Paare Kinder, ist es meistens die Frau, die weniger arbeitet, sich um Erziehung und Haushalt kümmert. Hat die Soziologin Jutta Allmendinger recht, wenn sie sagt: Der Fortschritt fällt für Frauen um drei Jahrzehnte zurück?
Ob es genau drei Jahrzehnte sind, weiß ich nicht, aber in der Tendenz stimme ich ihr zu. In unserer Befragung haben wir gesehen, dass Frauen gerade in doppelter Hinsicht benachteiligt sind. Sie sind eher diejenigen, die weniger arbeiten, sich freistellen lassen. Wer weiß, was das langfristig für Auswirkungen für sie haben wird! Außerdem sind sie zwar so oft in Kurzarbeit wie Männer, aber ihr Gehalt wird seltener aufgestockt. Das geschieht eher in Branchen wie der Industrie. Mich hat aber etwas anderes besonders überrascht.

Was denn?
Frauen haben auch schon vor der Pandemie mehr Zeit für Kinderbetreuung und Pflege aufgebracht. Dieses Muster setzt sich aber nicht nur weiter fort. Nein. Interessant finde ich Paare, die sich sämtliche Aufgaben vor Corona gleichberechtigt geteilt haben. Von diesen Paaren sagen jetzt nur noch 60 Prozent, sie erledigen die Care-Arbeit zu fairen Teilen. 

Vor allem in Familien mit wenig Geld kann jetzt nicht auf das höhere Einkommen verzichtet werden – und das verdient öfter der Mann. Es ist nicht so, dass Frauen gerade ein traditionelles Bild von Mütterlichkeit wiederentdecken. Alte Strukturen werden in der Krise enorm sichtbar und die Bedingungen des Arbeitsmarktes – wie der Gender Pay Gap – verschärfen die Situation.

[Alle aktuellen Entwicklungen in Folge der Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog]

Was hätten Sie anders gemacht? Kitas und Schulen offen gelassen?
Ich bin keine Virologin und möchte mich nicht auf die Debatte einlassen, was geht und was nicht. Ich fand die Schließungen anfangs plausibel, aber die Entlastung von Eltern hätte anders geregelt werden müssen. Wenn jemand zu Hause den ganzen Tag Kinder betreut, ist er – auch im Homeoffice – nicht voll erwerbsfähig und bräuchte eine auskömmliche Lohnersatzleistung. Wäre das der Fall, würden sich auch mehr Männer kümmern. Mütter haben hier nach wie vor eine sehr schlechte Lobby.

Ist die Sicht von Frauen und Müttern in den Expertenrunden zu wenig vertreten?
Ja! Zu sagen, man kann zu Hause arbeiten und nebenbei Kinder betreuen, ist eine maßlose Geringschätzung von Sorgearbeit. Dann hat derjenige, der so etwas behauptet, das noch nicht über Wochen hinweg getan. Ich sehe aber nicht nur zu wenig Frauen bei den Entscheidungsprozessen. Es bräuchte generell mehr Diversität, also Menschen mit verschiedeneren sozialen Herkünften und Biografien.

Wenn das Kind die Videokonferenz stört, kann das auch eine Chance sein.
Wenn das Kind die Videokonferenz stört, kann das auch eine Chance sein.
© imago images/photothek

Wo Frauen stark vertreten sind, sind die systemrelevanten Jobs. Sie sitzen vor allem an der Supermarktkasse, pflegen im Krankenhaus …
Es entsteht gerade ein höheres Bewusstsein für den Wert dieser Arbeit. Letztlich müssen diese Berufe aber auch stärker tarifrechtlich abgesichert und besser bezahlt werden. Die Menschen müssen von ihren Leistungen zumindest mal leben können.

Sie forschen auch zum Wandel der Arbeit. Wird Deutschland wegen der Kontakteinschränkungen digitaler? Oder fallen wir hier zurück, weil der Fokus gerade nicht auf Investitionen und Qualifizierungen liegt?
Ich glaube, beides ist wahr. Bestimmte Praktiken wie mobiles Arbeiten werden bleiben. Etliche werden sich außerdem fragen, ob sie noch so viele Dienstreisen machen müssen oder ob es nicht eine andere Lösung gibt. Wir machen gerade die Erfahrung, dass virtuelle Konferenzen ein Ersatz sind. Die Digitalisierung der Arbeit meint aber auch die Veränderung der Arbeitsorganisation, beispielsweise durch plattformbasiertes Arbeiten oder veränderte Qualifikationsanforderungen. Über all das diskutieren wir gerade nicht so sehr und die Beschäftigten werden vorerst nicht groß weiterqualifiziert. Alle Maßnahmen zielen erst mal darauf ab, gut durch diese Zeit zu kommen.

Digitalisierung ist auch in den Schulen ein wichtiges Thema. Nur: Manche Kinder haben für das Homeschooling einen Computer und Drucker, andere nicht.
Ich gehe stark davon aus, dass sich Ungleichheiten auch in der Bildung verstärken werden. Die Ausstattung ist da nur die Spitze des Eisbergs. Gerade in Deutschland bestimmt die soziale Herkunft enorm über den Bildungserfolg. Es kommt also gerade sehr darauf an, welche Ressourcen die Eltern zu Hause haben, wie gut sie den Stoff selbst verstehen, die Sprache. Einer Alleinerziehenden fehlen sehr wahrscheinlich Zeit und Nerven zum Unterrichten.

Weil nicht alle Kinder einen Laptop zuhause haben, nimmt die Ungleichheit bei der Bildung zu.
Weil nicht alle Kinder einen Laptop zuhause haben, nimmt die Ungleichheit bei der Bildung zu.
© imago images/photothek

Sie haben vor zwei Jahren herausgefunden, dass die AfD stark von Ängsten, finanziellen Sorgen, Unsicherheiten, dem Misstrauen gegenüber der Politik profitierte. Sehen Sie diese Faktoren gerade wieder?
Zunächst einmal hat die AfD in Umfragen verloren. Ein Grund, warum viele die AfD zuletzt gewählt haben, war ein geringes Vertrauen in die Gestaltungsfähigkeit der Politik und staatlicher Institutionen. In den letzten Wochen hat die Politik aber enorm viel Handlungsfähigkeit gezeigt und Vertrauen zurückgewonnen.

Aber ...
Auf lange Sicht stellt sich aber natürlich die Frage, welche Auswirkungen die Krise haben wird. Viele sind verunsichert. Man weiß so vieles nicht. Wenn sich diese Sorgen mit einer zunehmenden sozialen Spaltung und steigenden Arbeitslosigkeit kombinieren, bildet sich ein Nährboden für solche Parteien. Man könnte die Verschwörungstheorien gerade als Indikator begreifen, aber wer weiß, wie viele die tatsächlich glauben. Ich sehe Parallelen zum medialen Umgang mit dem Flüchtlingsthema. Die meisten Menschen standen der Zuwanderung 2015 nicht ablehnend gegenüber, aber den Gegnern wurde viel Aufmerksamkeit geschenkt.

Wo sehen Sie trotz allem Chancen?
Ich tue mich schwer damit, die Krise als Chance zu sehen. Wir erkennen aber gerade, was in unserer Gesellschaft gut funktioniert und was nicht. Mit dem Instrument der Kurzarbeit ist es uns beispielsweise gelungen, viele Menschen erst mal im Arbeitsmarkt zu halten. Der große Niedriglohnsektor fällt uns aber dabei auf die Füße, weil Geringverdiener von noch weniger als ihrem Lohn nicht leben können. Wir merken auch, dass wir wichtige Bereiche wie die Erziehung und Pflege nicht beliebig privatisieren können. Und: Es wird offensichtlicher, dass Menschen nicht nur Mitarbeiter sind. Bei Videokonferenzen laufen Kinder durchs Bild. Man sieht das Wohnzimmer im Hintergrund. Das Leben ist eben nicht nur Erwerbsarbeit.

Bettina Kohlrausch ist seit Anfang Mai Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung und Professorin für gesellschaftliche Transformation.

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