Thüringens Ministerpräsident Ramelow: "Ländliche Räume nicht aufgeben, sondern ihre Infrastruktur stärken"
IWH-Forscher beklagen die geringe Produktivität im Osten. Das ist Blödsinn, findet der Linke-Politiker und erklärt in einem Gastbeitrag, warum er das so sieht.
Im ländlichen Raum – auch in Thüringen – wohnen und leben Menschen, die ihre Heimat lieben. Der Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung IWH, Reint Gropp, hat nun im Rahmen einer Untersuchung zum Rückstand der Produktivität in Ostdeutschland vorgeschlagen, vor allem die Städte zu stärken. Denn dort entstünden die hochwertigen Dienstleistungen, die die Wirtschaft mehr und mehr bestimmten. In der Wissensgesellschaft seien die Städte die zentralen Orte von Forschung, Innovation und Wertschöpfung - und damit die Garanten für Wohlstand.
Was aber sollen die Konsequenzen daraus sein? Wüstungen außerhalb der Städte? In Thüringen gibt es gerade im ländlichen Raum hochmoderne, hochproduktive und sehr innovative Betriebe. Ich will nur einige nennen: Die Heberndorfer Leistenfabrik, Lauscha Fiber, Bluechip Computer AG in Meuselwitz.
Wenn man diese Betriebe besucht und spürt, wie hochmotiviert die Arbeitnehmer und die Unternehmensleitungen arbeiten, dann frage ich mich, welche „aufzugebende Räume“ in Thüringen könnte Professor Gropp gemeint haben? Ich möchte daran erinnern, dass Thüringen sehr stark nach der Wende deindustrialisiert wurde. Das war das Ergebnis der Politik der Treuhand und die Menschen haben die Erfahrung gemacht, dass ihnen ihre Arbeit genommen wurde.
In Thüringen werden die "Aufbauhelfer West" vermisst
Obwohl ein Teil der Betriebe zu DDR-Zeiten für westdeutsche Unternehmen gefertigt haben. Strickwaren in Apolda Strick oder Schuhe und Schreibmaschinen in Erfurt, Büromaschinen in Sömmerda oder Möbel in Zeulenroda, um nur einige Orte und Produkte zu nennen. An den Produkten kann es also nicht gelegen haben. Deshalb hat sich auch bei vielen Menschen der Eindruck verfestigt, dass über die Treuhandentscheidungen eben auch lästige Konkurrenz vom Markt geräumt wurde. Das Kaliwerk Bischofferode und das Kugellager Werk Zella-Mehlis seien stellvertretend genannt. Bei der Kali-Fusion gab es Milliardenhilfen als direkte und indirekte Geschenke dazu - die Firmenzentrale ist im Westen.
Mit dem Verlust der Produktion und der Arbeitsplätze ging dann ein sehr starker Abwanderungsprozess einher. Hunderttausende junger Menschen gingen „rüber“ in den Westen, gingen dahin, wo es Arbeit und bessere Bezahlung gab. Ich nenne diese Menschen immer die Aufbauhelfer West, aber ehrlich gesagt, werden sie hier in Thüringen schmerzlich vermisst und wir haben extra eine Agentur gegründet, um genau diese Menschen anzusprechen und ihnen bei der Rückkehr zu helfen. Denen möchte ich nicht entgegen rufen: Kommt bitte nicht in die ländlichen Räume zurück.
Es gibt eine zweite zentrale Aussage des Instituts in Halle unter Leitung von Professor Gropp: Von 500 Konzernzentralen liegen 464 im Westen und 36 im Osten Deutschlands. Auch die von mir aus dem ländlichen Raum aufgezählten Betriebe (siehe Grafik) fallen überwiegend in diese Kategorie. Sie verfügen über hoch motivierte Mitarbeiter, eine sehr produktive und konkurrenzfähige Produktion, aber die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung erfolgt immer in der Konzernzentrale. Da wo die letzte Schraube, oder die letzte Dienstleistung erbracht und die Unternehmenssteuer abgerechnet wird, da werden auch die Wertschöpfung und die Pro-Kopf-Produktivität errechnet.
Ohne große Mühe kann man ahnen: Im Westen sitzen die gut verdienenden Vorstandsetagen und das Management. Wir in Thüringen leisten die „Brot-und-Butter“-Produktion, sind im internationalen Wettbewerb leistungsfähig im Markt, aber die Statistik ist geprägt von 464 zu 36.
Damit erweist sich die angebliche Produktivitätslücke eben als ein statistischer Effekt, der die Wirklichkeit keineswegs angemessen abbildet. In Kölleda produziert der Daimler-Konzern unter der Firmenbezeichnung „MDC Power“ hochwertige Motoren. Immerhin jeder dritte Motor im Hause Daimler kommt aus Thüringen. Aber abgerechnet wird lediglich der Teilschritt der Produktion, also die Zulieferstufe.
Bei allen Firmen mit einem Hauptsitz außerhalb Thüringens ist das so. Wir haben mit klein- und mittelständischen Betrieben erfolgreich die Nischen besetzt und bei der volkswirtschaftlichen Betrachtung steht die Leistungsfähigkeit unserer Betriebe in Thüringen für den Erfolg des ganzen Unternehmens. Die Produktivität und die Steuerverteilung sollten also fairerweise einer ganzheitlichen Logik folgen.
Zudem sollte man als Wissenschaftler einbeziehen, wie in den besagten 464 im Westen ansässigen Zentralen über Forschung und Entwicklung entschieden wird und wohin die Mehrzahl der Aufträge fließt. Wir nehmen unsererseits viel Landesgeld in die Hand um im F&E-Bereich wenigstens etwas dagegen setzen zu können. Ich nenne beispielhaft die Faserforschung in Rudolstadt oder die Keramikforschung am Hermsdorfer Kreuz. Ach ja, da sind wir wieder beim ländlichen Raum und der These vom „aufgeben“.
Wir brauchen 5G an jeder Milchkanne
Ähnlich verhält es sich mit der Verteilung der Bundesbehörden. Im Durchschnitt gibt es auf 1000 Einwohner 2,2 Bedienstete von Bundesbehörden. Wieviel sind es im Osten des Landes und in Thüringen? Tatsächlich sind es in Sachsen 0,9 und in Thüringen sind wir das Schlusslicht mit 0,7 Bediensteten pro 1000 Einwohner. Wenn wir aber auf der Einnahmenseite schon so einen gravierenden Nachteil in Kauf nehmen müssen, dann sollte man den neuen Ländern diese Nachteile nicht auch noch um die Ohren hauen.
Vom IWH in Halle hätte ich erwartet, dass man nicht nur oberflächliche statistische Effekte betrachtet, sondern sie vor allem hinterfragt. Offensichtlich sind Thüringer Betriebe erfolgreich, immerhin 62 von ihnen sind Europa- und Weltmarktführer. Viele von denen sind im ländlichen Raum ansässig. Aktuell überlegen Unternehmen weitere Produktion nach Thüringen zu verlagern. Hinzu kommt ein weiterer wichtiger Aspekt: In Ballungsräumen können Arbeitnehmer kaum mehr die Miete zahlen.
Das Gegenteil dessen, was das IWH und Professor Gropp vorschlagen, ist somit richtig: Nicht ländliche Räume aufgeben, sondern die örtlichen Kooperationen von Wirtschaft und Kommunen stärken und Infrastruktur ausbauen. Wir brauchen deshalb 5G an jeder Milchkanne, denn auch unsere Landwirtschaftsbetriebe sind sehr modern, digital und ein starker Träger im ländlichen Raum. Wer ein High-Tech-Melkkarussell sehen will, zu dem die Fachleute aus der ganzen Welt kommen, dem sei der Besuch in Remda-Teichel empfohlen. Die Agrargenossenschaft investiert Millionenbeträge, Ingenieurarbeit und Landwirtschaft sind eben kein Gegensatz.
Eine letzte Anmerkung: Vergleicht man alle 28 Europäischen Staaten wirtschaftspolitisch und im erarbeiteten BIP, dann stellt man Erfreuliches fest. Die Region Mitteldeutschland, also Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen zusammen, ist stark und läge auf Platz 13. Dreißig Jahren nach dem Mauerfall und der Deutschen Einheit sollte genau hingeschaut werden, was wir im Osten in unser Deutschland einzubringen haben. Eben weit mehr als Sandmännchen und Grüner Pfeil. Wir erwarten eine differenzierte Debatte, nicht nur über mangelnde Produktivität.
Der Autor, Bodo Ramelow (63), ist seit 2014 Ministerpräsident in Thüringen. Am 27. Oktober wird dort erneut gewählt. Der gebürtige Niedersachse ist der erste Regierungschef der Linken.
Bodo Ramelow