Ostdeutsche Wirtschaft: Doppelt so viele Schulabbrecher wie im Westen
Die Probleme in der ostdeutschen Wirtschaft sind vielfältig - und verschärfen sich wegen Demografie und Digitalisierung weiter.
Vier Jahre nach der Wende entschied sich Joachim Ragnitz für das Gegenteil von dem, was zur gleichen Zeit mehr als hunderttausend Menschen taten. Er zog nach Ostdeutschland, während so viele fortgingen. Ragnitz, 56 Jahre alt, fing beim Institut für Wirtschaftsforschung Halle an, ist jetzt aber in der Außenstelle Dresden des Ifo-Instituts. Sein Hauptarbeitsgebiet: Die wirtschaftliche Entwicklung im Osten.
Fast jeder vierte Ostdeutsche hat seine Stimme vor einer Woche der rechtspopulistischen Alternative für Deutschland (AfD) gegeben. Bei der Suche nach Erklärungen wird oft argumentiert, dass es den Menschen dort wirtschaftlich nach wie vor viel schlechter gehe und sie deswegen unzufrieden sind. Dass sich Teile der Ostdeutschen ökonomisch bedroht fühlen, kann Ragnitz verstehen.
Natürlich habe der Osten zum Westen aufgeholt, was nicht zuletzt der jüngste Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit gezeigt hatte: Die Arbeitslosenquote in den neuen Bundesländern hat sich von fast 19 Prozent 2005 auf gut acht Prozent im Jahr 2016 verringert. Dort, wo Tarifverträge wirken, ist eine Lohnangleichung von Ost und West fast vollzogen. Insgesamt erreicht Ostdeutschland knapp die Wirtschaftsstärke des EU-Durchschnitts. Karl Brenke, Ost-Experte beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin, meint deswegen: „Es geht den Menschen in Ostdeutschland gar nicht so schlecht.“ Ihr Wahlverhalten könne man mit der wirtschaftlichen Lage eher nicht erklären.
Dem Osten fehlen großen Unternehmen
Was dem Osten fehlt, sind große Unternehmen mit den typischen Funktionen von Headquartern: Forschung und Entwicklung, Marketing und Vertrieb, Finanzen, Personalwesen und Recht. Gerade in in diesen Bereichen gibt es gut dotierte Arbeitsplätze. Das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner betrug auch wegen des Mangels an administrativen Tätigkeiten und industrienahen Dienstleistungen 2016 nur gut 73 Prozent des westdeutschen Vergleichswertes, das Lohnniveau lag 20 Prozent darunter. Der Bevölkerungsschwund und die Demografie verschärfen die Probleme. Zwischen 1990 und 2015 ist die Bevölkerungszahl in den ostdeutschen Ländern (ohne Berlin) um 15 Prozent gesunken, von rund 14,8 auf 12,6 Millionen Einwohner. Außerdem gibt es vielerorts einen Männerüberschuss, weil etliche Frauen ihr Glück im Westen suchten.
Einen „Albtraum“ nennt Iris Gleicke, die Ost-Beauftragte der Bundesregierung, das Szenario für ländliche Gebiete: Gegenden, „in denen es weit und breit keinen Lebensmittelladen, keinen Kindergarten, keinen Arzt und keine jungen Leute“ mehr gibt. „Wir dürfen nicht zulassen, dass ganze Regionen auf Dauer abgehängt werden“, mahnt die SPD-Politikerin aus Thüringen. Strukturschwache Landstriche gebe es zwar überall in Deutschland. In Ostdeutschland sei das Problem bis auf wenige Leuchtturmregionen aber flächendeckend. „All das hat Auswirkungen auf die Befindlichkeiten und Einstellungen der Menschen im Osten“, sagt der Ökonom Ragnitz. „Viele fühlen sich benachteiligt und nicht verstanden.“
Viele frustrierte Männer wählten die AFD
Damit meint er vor allem ältere Menschen, die Veränderungen eher fürchten als jüngere – und jene, bei denen die Wende „zu Verletzungen führte, die bis heute nicht verheilt sind“. Reiner Klingholz, Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, verweist auf den relativ hohen Anteil an Frustrierten unter den AfD-Wählern im Osten. Viele Männer in der Altersgruppe, die noch die Vollbeschäftigung zu DDR-Zeiten erlebten, hätten nach dem Mauerfall ihre Arbeit verloren. „Das waren die Verlierer des Wandels“, sagt er. Schlecht qualifiziert, ohne Job und ohne Frau – das sei keine gute Mischung. Bei den Männern in Ostdeutschland war die AfD laut den Wahlforschern von Infratest mit 26 Prozent die stärkste Partei. Wissenschaftler sind darüber wenig überrascht. Was für US-Präsident Donald Trump der wütende weiße Mann in den Appalachen ist, ist für die AfD der zornige Ossi im Erzgebirge.
Bei den Selbstständigen in Ostdeutschland hat sich der AfD-Stimmenanteil gegenüber 2013 fast vervierfacht. Er ist mit 22 Prozent höher als bei Rentnern und Angestellten. Jörg Dittrich ist Präsident der Handwerkskammer Dresden. Nach vielen Gesprächen an der Basis habe er „ein solches Ergebnis kommen sehen, wenn auch nicht so drastisch“, sagt der Handwerker. Die Leute wollten teilhaben und nicht ständig etwas vorgesetzt bekommen. Er kritisiert „eine Ignoranz der Lösungsansätze“ – zum Beispiel beim Thema Breitbandausbau: „Sachsen sagt: der Bund. Der Bund sagt: die Telekom. Die Telekom sagt: ohne Förderung geht auf dem Land nichts.“ Und dann passiert nichts.
Eric Weber leitet das Spinlab, ein Start-up-Programm in Leipzig, das seit Kurzem auch das Digital Hub Dresden/Leipzig koordiniert, eines von zwölf solcher Hubs in Deutschland, die vom Bundeswirtschaftsministerium gefördert werden. Er sagt: „Wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich Amerikaner, Deutsche Italiener, Chinesen, Pakistani, alle ganz normal nebeneinander.“ Gerade im Energie- und Gesundheitsbereich, aber auch bei Cybersicherheit und Hochtechnologie gebe es vielversprechende Gründungen. „Wenn die Landtagswahl in Sachsen 2019 ein ähnliches Ergebnis bringen und die AfD mitregieren würde, wäre das aber schon standortgefährdend.“ Im Gegensatz zu Dresden oder Leipzig gebe es ländliche Regionen, wo sich die Menschen durch die Digitalisierung überfordert fühlten. „Wenngleich Telemedizin, digitale Lieferdienste und irgendwann autonomes Fahren die Lebensqualität gerade für Ältere auf dem Land steigern könnten.“
Bildung muss erste Priorität haben
In diesem Jahr wird die Wirtschaft im Osten nach Schätzungen des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) um 1,9 Prozent wachsen. „Der Aufholprozess stagniert“, sagt Vize-Präsident Oliver Holtemöller. Zur Bundestagswahl meint er: Mehrere Studien hätten gezeigt, dass die wirtschaftliche Lage durchaus einen Einfluss auf Wahlentscheidungen habe und dass Menschen, die sich subjektiv abgehängt fühlten, eher extreme Parteien wählen. Aus diesem Grund seien die Lebensverhältnisse im Osten zwar nicht die einzige Begründung, aber durchaus ein Erklärungsbaustein.
Hinzu kämen Zukunftsängste: Erstens vor der Automatisierung die wahrscheinlich zuerst Geringqualifizierte treffen wird. Zählen im Westen 18 Prozent zum Niedriglohnsektor, sind es im Osten 28 Prozent. Zweitens vor den Geflüchteten: Die Argumentation, dass diese meist Helferjobs annehmen und deswegen von Geringqualifizierten als stärkste Konkurrenz wahrgenommen würden, kann Holtemöller jedoch nur eingeschränkt nachvollziehen. „Die Konkurrenz gibt es durchaus, aber sie ist in Ostdeutschland zahlenmäßig kaum relevant“, sagt er. Er warnt: Wo die Bevölkerung altert und schrumpft, der Zuzug von Ausländern aber abgelehnt wird, könne es „zu einem Teufelskreis von zunehmender Fremdenfeindlichkeit und einer Schwäche der wirtschaftlichen Entwicklung“ kommen. Zum einen benötige die Wirtschaft wegen des zunehmenden Fachkräftemangels Zuzügler aus dem Ausland. Zum anderen sei Fremdenfeindlichkeit für Unternehmen wie für Bewerber ein Grund, den Osten zu meiden.
Wichtig ist aus Sicht von Holtemöller, mehr in Bildung und Qualifizierung zu investieren. „Das muss erste Priorität haben“, sagt er. Die Schulabbrecherquote, die im Osten bei bis zu zwölf Prozent liegt, sei doppelt so hoch wie im Westen. Mit der Folge, dass Menschen schon früh ein hohes Risiko haben, arm zu bleiben, und ihnen jegliche Perspektive fehlt.
Mitarbeit: Michael Rothel
Hendrik Lehmann, Marie Rövekamp
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