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Die Qual der Wahl: Viele Kunden folgen ihrem Bauchgefühl.
© Getty Images/iStockphoto

Keine Ausrede mehr: Jetzt kommt der Nutri-Score - und was bringt's?

Der Nutri-Score bewertet Lebensmittel. Jetzt kommt er offiziell in die Supermärkte. Was das neue Label gut kann - und wo es Kunden in die Irre führt.

Vor einem Jahr schickte die OECD eine beunruhigende Mahnung nach Deutschland. 60 Prozent der Bundesbürger seien übergewichtig oder gar fettleibig, schrieb die Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit in ihrer Studie „Gesundheit auf einen Blick“. Die Coronakrise dürfte das Problem verschärft haben. Viele Menschen tragen noch ihre „Corona-Wampe“ aus dem ersten Lockdown mit sich herum, der neue Teillockdown dürfte ihnen weitere Kilos und zusätzliche Fettpolster bescheren.

Wie gut, dass nun im Supermarkt Rettung naht. Der Nutri-Score soll den Menschen helfen, gutes und schlechtes Essen voneinander zu unterscheiden. „Mit dem Nutri-Score schaffen wir Orientierung auf den ersten Blick“, sagt Bundesernährungsministerin Julia Klöckner (CDU) – „für eine gesündere Ernährung und gegen versteckte Kalorienbomben“.

So sieht der Nutri-Score aus: Das grüne "A" ist sehr gut, das rote "E" ist schlecht.
So sieht der Nutri-Score aus: Das grüne "A" ist sehr gut, das rote "E" ist schlecht.
© imago images/Hans Lucas

Was ist der Nutri-Score?

Das Wundermittel ist eine fünfstufige Kombination aus Buchstaben und Farben. Die Skala reicht vom grünen A (sehr gut) bis zum dunkelroten E (Finger weg). Negative Inhaltsstoffe wie Salz, Zucker oder Fette können durch Ballaststoffe und Proteine ausgeglichen werden, am Ende steht eine Gesamtwertung. Das neue Logo sollen Unternehmen auf die Vorderseite ihrer Lebensmittelpackungen drucken. Ob sie das tun, ist ihnen überlassen. Eine Pflicht gibt es nicht. Das, sagt Klöckner, sei mit dem europäischen Recht nicht zu vereinbaren.

Eine unendliche Geschichte

Lange ist über den Nutri-Score gestritten worden. In dieser Woche wird nun der Schlussstrich unter die vermeintlich unendliche Geschichte gezogen. Dann wird die neue Verordnung im Bundesgesetzblatt veröffentlicht, tags drauf tritt sie in Kraft. Wahrscheinlich geschieht das am Freitag.

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„Über 35 wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass der Nutri-Score von den Verbrauchern am besten verstanden wird und am stärksten dazu führt, dass diese gesündere Produkte einkaufen“, sagte Barbara Bitzer, Geschäftsführerin der Deutschen Diabetes Gesellschaft, dem Tagesspiegel. Idealerweise sollte die Kennzeichnung aber nicht nur freiwillig, sondern verpflichtend sein, meint sie.

Zuckerbomben werden entlarvt, sagt Foodwatch

Auch die Verbraucherschutzorganisation Foodwatch fordert eine verpflichtende Kennzeichnung, allerdings auf europäischer Ebene. Dennoch ist Kampagnenchef Oliver Huizinga froh, dass es der Nutri-Score überhaupt so weit gebracht hat, „gegen den Willen der Lebensmittelindustrie“. Die neue Kennzeichnung entlarve auf einen Blick, „wenn eine Zuckerbombe als Fitnessprodukt vermarktet wird“, glaubt Huizinga.

Zu viel Zucker: Ärzte, Krankenkassen und Verbraucherschützer machen sich für eine Limosteuer stark.
Zu viel Zucker: Ärzte, Krankenkassen und Verbraucherschützer machen sich für eine Limosteuer stark.
© imago/CHROMORANGE

Doch das stimmt nur zum Teil. Denn der Nutri-Score gibt keine allgemeingültige Handlungsempfehlung ab, sondern vergleicht nur die Produkte einer Kategorie mit einander. Kunden können sehen, welche Limo besser abschneidet als die Konkurrenz, nicht aber, ob eine Limo gesünder ist als Fruchtsaft oder ein Milchshake.

Zudem führe die neue Kennzeichnung im Einzelfall zu paradoxen Ergebnissen, kritisiert Christoph Minhoff, Hauptgeschäftsführer des Verbands der Lebensmittelindustrie. So könne eine salzreduzierte Salami-Pizza besser abschneiden als eine Pizza mit Gemüse, weil der Nutri-Score bei seiner Pizzawertung erst einen Gemüseanteil von 40 Prozent und mehr positiv berücksichtigt. Ob die Hersteller die neue Kennzeichnung verwenden, hänge vom Produkt ab, glaubt Minhoff. So habe Käse wegen des Fett- und Salzanteils keine Chance, über ein „D“ hinauszukommen.

Monatelang hatte der Verband versucht, den Nutri-Score zu verhindern. Auch Agrarministerin Klöckner war zunächst keine Freundin des Modells, das aus Frankreich kommt. Erst als sich 57 Prozent der deutschen Verbraucher im vergangenen Jahr in einer vom Ministerium organisierten Abstimmung für das neue Logo aussprachen, brachte Klöckner den Nutri-Score auf den Weg.

Auch Minhoff hat inzwischen seinen Frieden gemacht. Der Nutri-Score helfe in Verbindung mit der Nährwerttabelle, die Ausgewogenheit eines Produkts besser einzuschätzen, sagt er heute.

Wo Sie den Nutri-Score schon heute finden

Anders als der Verband haben namhafte Lebensmittelhersteller den Nutri-Score schon früher unterstützt. Im Februar vergangenen Jahres brachte Danone erstmals seine Fruchtzwerge mit dem neuen Logo auf den Markt. Der Fischstäbchenproduzent Iglo ließ sich sogar von gerichtlichen Auseinandersetzungen nicht beirren.

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Den Ritterschlag bekam der bunte Buchstaben-Balken, als Europas Lebensmittelmulti Nestlé ihn Anfang des Jahres auf seine Wagner-Pizzen drucken ließ. Inzwischen hat der Konzern 170 seiner Produkte umgestellt. Bis Ende 2021 sollen alle Nestlé-Lebensmittel den Nutri-Score tragen. Auch Nestlé setzt sich übrigens für eine verpflichtende Lösung auf EU-Ebene ein.

Nach Angaben des Agrarministeriums haben sich inzwischen 56 deutsche Hersteller bei der Markeninhaberin, der Santé publique France, registriert, um den Nutri-Score zu verwenden. Mit Inkrafttreten der deutschen Verordnung befinden sie sich jetzt auch auf rechtssicherem Fundament.

Jetzt geht es um die Zuckersteuer

Für Barbara Bitzer ist der Nutri-Score aber nur ein erster Schritt hin zu einer gesünderen Ernährung. Sie fordert ein Verbot von an Kinder gerichtete Werbung für ungesunde Produkte sowie eine Besteuerung ungesunder Lebensmittel wie Softdrinks. Auch der AOK-Bundesverband und der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte machen sich für eine Zuckersteuer nach britischem Beispiel stark. Der Zuckergehalt in Erfrischungsgetränken sei auf der Insel um 34 Prozent auf 2,9 Gramm pro 100 Milliliter zurückgegangen, sagen sie. Zum Vergleich: In Deutschland sind es 8,92 Gramm.

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