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Elektroniker-Lehrling auf einer Berliner Baustelle.
© dpa

Ausbildung in Berlin: Jeden nehmen, der kommt

Die Ausbildungsbetriebe in Berlin klagen über zu wenig Bewerber. Was die Gründe für das Nachwuchsproblem sind - und was vom neuen Senat gefordert wird.

Von 50 Bewerbern blieb am Ende einer übrig, der ein Probepraktikum machen konnte. Doch statt die Zeit zu nutzen, habe er nur an seinem Smartphone herum gespielt. Kein Interesse, kein Eifer waren bei ihm zu erkennen. Deswegen hatte das Softwareunternehmen msu Berlin zum letzten Ausbildungsstart Anfang September nicht einen einzigen neuen Azubi.

Dies ist ein Beispiel von vielen: Mehr als jeder dritte Betrieb der Hauptstadt konnte seine Lehrstellen 2016 nicht besetzen. Vor acht Jahren war die Quote nur halb so gering. Die Zahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge hat mit den Jahren stetig abgenommen. Wurden 2012 noch 9409 Verträge abgeschlossen, waren es im vergangenen Jahr gerade einmal 8430. Und das, obwohl die Zahl der angebotenen Stellen im gleichen Zeitraum von 12 171 auf 14 804 gestiegen ist.

Lieber studieren als eine Lehre machen

Dass sich die Betriebe nicht mehr die Besten aus einer Masse von Bewerbern aussuchen können, hat mehrere Gründe: Wegen des demografischen Wandels ist ein Schülerjahrgang in den vergangenen zehn Jahren um 120 000 junge Menschen geschrumpft – und von den Absolventen wollen viele lieber studieren. 2015 wollten 40 Prozent mehr studieren als 2006, die Bewerbungen um eine Lehrstelle sanken um sieben Prozent. Allein in Berlin lag die Zahl der unbesetzten Ausbildungsstellen 2016 bei 1211, ein Plus von 38,4 Prozent.

Aufgrund dieser Daten sprach Jan Eder, Hauptgeschäftsführer der IHK Berlin, am Freitag von einer „Zeitenwende“. Mittlerweile müssten die Unternehmen jeden nehmen, der kommt – wenn jemand kommt. Weil das Angebot an Stellen größer und die Konkurrenz kleiner geworden sei, könnten es sich die Jugendlichen erlauben, wählerisch zu sein. Außerdem beobachtet Eder, dass viele Junge frühes Aufstehen und harte Arbeit scheuen. Der Job als Koch sei nicht wie in „einer Show im Fernsehen“, sondern anstrengend.

Hälfte der Azubis fühlt sich ausgenutzt

Den geringen Verdienst in einigen Branchen schnitt Eder dagegen nur kurz an. „Die Hotellerie wird nicht drum herumkommen, mehr zu zahlen“, sagte er. Dort bekommt ein Azubi im ersten Jahr zwischen 430 Euro (Osten) und 690 Euro (Westen). Ebenso wenig erwähnte er die Arbeitsbedingungen: Fast die Hälfte der Auszubildenden fühlt sich laut einer Umfrage der Gewerkschaft Verdi als billige Arbeitskraft ausgenutzt. Zudem klagt rund jeder Zweite über Überstunden, körperliche Strapazen und zu viele Aufgaben.

Um das Nachwuchsproblem zu lösen, seien laut IHK vielmehr die Schulen gefragt. „Viele Bewerber kommen absolut unvorbereitet zu uns“, erzählt Christian Sander, Geschäftsführer von msu Berlin. Auch die Gründerszene müsse sich wandeln. Statt auszubilden, würden Start-ups bislang lieber Bachelor-Absolventen als Praktikanten einstellen.

Forderungen an den neuen Senat

Was die IHK Berlin außerdem fordert ist eine „bildungspolitische Reformagenda“: Um die Koordination zwischen Schulen und Unternehmen zu verbessern, sei ein Landesinstitut für berufliche Bildung sinnvoll. Die IHK Berlin sei sogar für eine eigene Senatsverwaltung gewesen. Dass die beiden Verwaltungen nun auch noch von zwei verschiedenen Parteien geführt werden, „macht es künftig nicht einfacher“, sagte Eder.

Die Ausbildungsplatzabgabe, die im Koalitionsvertrag festgehalten wurde, nannte er eine „Totgeburt“. Weil die Zahl der angebotenen und unbesetzten Lehrstellen im vergangenen Jahr so hoch wie nie war, habe die Idee „mit der Realität nichts zu tun“. Weiter meinte Eder, dass die Jugendberufsagenturen zwar eine gute Idee seien – es fehle aber an finanziellen Mitteln und Systematik. „Anders als in Hamburg hat Berlin noch keinen Überblick darüber, wie viele Schulabgänger mit Unterstützungsangeboten nicht erreicht werden“, hieß es. Der Senat müsse zudem „Strategien gegen den Fachlehrermangel entwickeln“. Zuletzt warb Eder für eine ausbildungsbegleitende Sprachförderung von Geflüchteten. So könnten sie gleichzeitig Berufserfahrungen sammeln und ihren Wortschatz vergrößern.

Neben Schulen, Start-ups und Politik sei noch ein Akteur entscheidend, um das Azubi-Problem in Berlin zu lösen: die Eltern. Sie seien ja – zumindest meistens – die wichtigsten Berater ihrer Kinder.

Marie Rövekamp

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