Scheitern mit Ansage: Interne Analyse stellt Bahn alarmierendes Zeugnis aus
Die Deutsche Bahn will schneller, pünktlicher und attraktiver werden. Nur: Unternehmensexperten glauben selbst nicht daran, wie interne Papiere zeigen.
Bis 2030 will die Bundesregierung deutlich mehr Fahrgäste und Güter auf die Schiene holen. So sieht es der Koalitionsvertrag von Union und SPD vor. Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) hatte im Herbst 2018 ein „Zukunftsbündnis Schiene“ gestartet. Fünf Arbeitsgruppen mit Experten aus Politik, Wirtschaft und Verbänden sollten klären, wie die Bahn besser und leistungsfähiger werden kann. Es geht um den Ausbau der Kapazitäten, um höhere Wettbewerbsfähigkeit der Schiene, um Digitalisierung, Automatisierung, Innovation und weniger Lärmbelastung.
Am Dienstagabend stellten Scheuer, sein Staatssekretär Enak Ferlemann und Richard Lutz, Vorstandschef der Deutschen Bahn (DB), erste Ergebnisse in Berlin vor. Thema war vor allem der „Deutschland-Takt“, der ab 2030 „öfter, schneller und überall“ für bessere Verbindungen auf der Schiene sorgen soll. So lautet zumindest das Versprechen. Eine langfristige „Kommunikationsstrategie“ soll den Bürgern die Vorteile und die „neue Qualität“ der Bahn verdeutlichen. Das ist internen Zwischenberichten der Arbeitsgruppen zu entnehmen, die dem Tagesspiegel vorliegen.
Die Experten betonen, dass die bisher geplanten Maßnahmen und deren Finanzierung nicht ausreichen. Besonders kritisch fällt die Bestandsaufnahme der zentralen Arbeitsgruppe 2 aus, die sich mit der dringend nötigen Erweiterung der Kapazitäten im vielerorts überlasteten Schienennetz beschäftigt. Nur mit einem raschen Ausbau von Strecken und Knoten, leistungsfähigerer Technik und zuverlässigen Zügen ist bundesweit ein enger Taktverkehr ab 2030 möglich – und damit mehr Pünktlichkeit bei der Bahn.
Völlig überlastetes Streckennetz
Zwar waren die Fernzüge im April mit einer Quote von 78,7 Prozent wieder etwas pünktlicher als im Vormonat, wie die Bahn mitteilte. In den Analysen des Schienenbündnisses kann Minister Scheuer indes nachlesen, woran es grundsätzlich immer noch hapert: Die Netzbelastung ist zwischen 1999 und 2017 um 23 Prozent gestiegen. Es müssen also fast ein Viertel mehr Fern-, Regional-, Nah- und Güterverkehr auf Gleisen und an Bahnhöfen abgewickelt werden.
Dadurch sind der Westkorridor zwischen Rhein und Alpen, der Nord-Süd- Korridor von Skandinavien zum Mittelmeer sowie sechs große Knoten (Köln, Frankfurt/Main, Mannheim, Hannover, Hamburg und München) immer häufiger überlastet. 85 Prozent des Bahnverkehrs finden auf nur rund 60 Prozent des Netzes statt. Das hat ebenfalls Gründe. Denn oft fehlen leistungsfähige Ausweich- und Parallelstrecken. So schrumpfte das Gleisnetz durch Stilllegungen seit der Bahnreform 1994 von 44.600 auf heute noch 38.500 Kilometer.
Oft wurden weniger befahrene Regionalstrecken außer Betrieb genommen. Allein zwischen 1999 bis 2017 wurden zudem 32 Prozent der Ausweichgleise und Weichen abgebaut, wie der Expertenbericht feststellt. Besonders nach der Jahrtausendwende, als die DB unter Ex-Chef Hartmut Mehdorn auf Rendite- und Börsenkurs fuhr, fielen viele Anlagen dem Rotstift zum Opfer.
Dominoeffekt bei Verspätungen
Mit dem Abbau sei „die Betriebsflexibilität gesunken“, kritisiert die Arbeitsgruppe. Denn bei Störungen fehlen seither oft Alternativen und Reserven, die eine gute Netzqualität auszeichnen. Das habe „negative Auswirkung auf die Pünktlichkeit im deutschen Schienenverkehr“. Verspätungen können nicht mehr abgebaut werden, sondern werden im Gegenteil auf viele weitere Züge übertragen.
Das unerfreuliche Zwischenfazit der Fachleute: Schon jetzt gebe es „Staueffekte“ und Überlastungen im Netz, und der erwartete Mehrverkehr könne nicht „qualitätsgerecht“ gefahren werden. Deshalb sei die Kapazitätserweiterung der Korridore und Knoten „dringend erforderlich“. Die bisherigen 35 Aus- und Neubauprojekte des Bundes reichten nicht aus.
Die Experten fordern von Scheuer, vor allem die vielen Engpässe zügiger zu entschärfen. Zehn Projekte mit „höchster Priorität“ werden genannt, darunter die sechs großen Bahnknoten, die Neubaupiste Frankfurt–Mannheim, der Rhein- Ruhr-Express, die Rheintalstrecke Karlsruhe–Basel, die verbesserte Anbindung der Nordseehäfen Hamburg und Bremen sowie die Modernisierung des Netzes für 740-Meter-Güterzüge.
Investitionen müssen massiv erhöht werden
Klar ist: Die Umsetzung wird lange dauern und viel Geld kosten. Allein die zehn vordringlichen und mehr oder weniger laufenden Projekte werden auf mindestens 30 Milliarden Euro veranschlagt. Bisher stehen dafür pro Jahr nur 1,6 Milliarden Euro im Verkehrsetat des Bundes bereit. Scheuers Expertengremium hält es für zwingend, die Mittel ab 2022 auf mindestens zwei Milliarden und ab 2024 auf wenigstens wieder drei Milliarden Euro zu erhöhen, wie einst nach der Wiedervereinigung. Nur dann bestünde die Chance, dass die wichtigsten Projekte bis 2030 wenigstens zum Teil fertig werden. Zur Finanzierung wird ein neuer Fonds vorgeschlagen, um die Mittel langfristig zu sichern.