Digitalisierung auf der Schiene: Die Bahn rüstet sich für den Zugverkehr der Zukunft
Der Fortschritt kommt in zwei Stufen – und mit ungewöhnlichen Partnern.
Verspätungen, Zugausfälle, Technikpannen. Die Deutsche Bahn (DB) würde gerne Probleme loswerden und in eine digitale Zukunft aufbrechen. Doch für das Projekt „Digitale Schiene Deutschland“ braucht sie ungewöhnliche neue Partnerschaften – und viel Geld.
„Für die Bahn ist es eine Revolution. Wir erfinden das Bahnsystem quasi digital neu“, sagt Kay Euler, der das Konzernprogramm leitet, im Gespräch mit Tagesspiegel Background. Das klingt wie in der Autoindustrie, in der Automatisierung und Vernetzung ebenfalls herkömmliche Technologien ersetzen. Tatsächlich gibt es vergleichbare Herausforderungen in beiden Branchen. „Es geht um mehr als die Nachrüstung der Stellwerke und der Infrastruktur auf die Leittechnik ETCS (European Train Control System) und digitale Stellwerke (DSTW)“, sagt Euler. Es gehe um die Digitalisierung des gesamten Bahnbetriebs, das Rückgrat des Eisenbahnsystems. Das nimmt der Kunde nur wahr, wenn es nicht funktioniert.
Das digitale Schienennetz soll Kapazität und Stabilität erhöhen
Im digitalen Schienennetz soll es künftig keine klassischen Signale mehr geben, Leit- und Sicherungstechnik basieren auf Funk und Sensoren kombiniert mit künstlicher Intelligenz. Das Ziel: Mehr Kapazität schaffen, mehr Stabilität. Ein milliardenschweres Vorhaben, für das der Bahn-Eigentümer tief in die Tasche greifen muss. 570 Millionen Euro hat der Bund zunächst bis 2023 für die Digitalisierung zugesagt, der Hochlauf in der ersten Stufe kann jetzt beginnen, ab 2025 mit einer jährlichen Investitionssumme von 1,5 Milliarden Euro.
Zwischen 2025 und 2028 soll dann die digitale Technik in der Fläche ausgerollt werden, dies ist der technologisch anspruchsvolle Teil. Bis 2040 soll das gesamte Netz mit ETCS und DSTW ausgestattet sein. Nach einem von der Bundesregierung in Auftrag gegebenen Gutachten würde allein die ETCS-Ausstattung des kompletten Schienennetzes und aller Züge in den kommenden 20 Jahren rund 28 Milliarden Euro kosten.
„Am Ende wollen wir mehr Züge auf das Netz bringen, die zuverlässiger und pünktlicher fahren und damit den Verkehrsträger Bahn wettbewerbsfähiger machen“, wirbt Euler. „Neue Gleise zu bauen, ist in Deutschland komplex und dauert extrem lange.“ Aber alle wollten mehr Verkehr auf die Schiene bringen, darin seien sich politisch alle einig – der Klimaschutz und das Ziel, die Fahrgastzahlen bis 2030 zu verdoppeln, lassen keine Wahl. Und nebenbei wären schnelle, erste Erfolge des Digitalisierungs-Projekts gut für Ronald Pofalla, den Infrastruktur-Vorstand der DB, der sich heute noch mit Baustellen, maroden Bahnhöfen und Stellwerken aus der Kaiserzeit herumschlagen muss.
Noch sind mehr als ein Drittel aller Stellwerke mechanisch
Der Fortschritt kommt in zwei Stufen. Auf die aktuelle Stellwerksinfrastruktur könnte man noch keine Digitalisierung aufsetzen. Mehr als ein Drittel aller 2800 Stellwerke sind mechanisch oder elektromechanisch, fast die Hälfte sind Drucktastenstellwerke. Erst, wenn das alles umgerüstet ist, wird es spannend.
„Im Idealfall haben wir einen Echtzeitfahrplan“, erläutert Euler die Vorteile für das Verkehrsmanagement. „Wenn es beispielsweise in Hamburg bei einem Zug Probleme gibt, könnten wir am Rechner simulieren, wie wir den Fahrplan im gesamten Netz optimieren müssen, damit er pünktlich in München ankommt. Das ist heute kaum lösbar.“ Hier gehe es um mehr Stabilität im System und bessere Dispositionsentscheidungen.
Heute entscheiden die Bereichsdisponenten in den sieben großen Netzleitzentralen der Bahn für ihr Gebiet, wie ein Zug fährt – nicht aber in den anderen Gebieten. Um Abläufe im Gesamtnetz zu digitalisieren, wird eine enorme Rechnerkapazität gebraucht. Heute benötigt die DB zum Beispiel für die Erstellung ihres gewaltigen Fahrplanwerks zwei Jahre Vorlauf.
Für die Pläne wird eine enorme Rechnerkapazität benötigt
Ähnlich wie die Autobauer schwärmt auch die Bahnindustrie vom hochautomatisierten Fahren. Eine digitale Schiene mit einer Hindernis- und Abstandserkennung über Kameras, Radar, Laser oder Infrarot würde es möglich machen. „Wir können dann Züge im minimalsten Abstand zueinander fahren lassen. Dabei wird das Fahr- und Bremsverhalten so weit wie möglich automatisiert“, sagt Euler. Vorteile hätte das vor allem im städtischen Verkehr, bei der S-Bahn. „Die automatisierte Steuerung sorgt für optimale Beschleunigungs- und Bremsvorgänge. Sie reagiert präziser, als es der beste Lokführer je könnte.“ Der Vorteil: Mehr Kapazität. Ein Nachteil: Sensoren aus dem Automobilbereich kann die Bahnindustrie nicht einfach einsetzen, weil etwa Bremswege auf der Schiene viel länger sind.
Teilweise passen Lösungen aus der Autobranche
In anderen Bereichen passen Lösungen aus der Autobranche hingegen perfekt. Wenn Züge zentimetergenau geortet werden müssen, um ihre Position im Netz zu bestimmen, werden hochpräzise Karten gebraucht. Die könnte der Geodatendienst Here liefern, an dem Audi, BMW und Daimler, aber auch die Zulieferer Bosch und Continental beteiligt sind. „Wir sprechen mit vielen“, weicht Euler der Frage aus, ob auch die DB Interesse an einer Beteiligung hat. „Wir wollen bei der Bahn nutzen, was auch in anderen Industrien schon funktioniert.“
Die neue Nähe zur Auto-Industrie ist kein Zufall. „Generell gilt: Wir suchen neue Formen der Zusammenarbeit mit Partnern. Das gilt für klassische Lieferanten wie Siemens, Bombardier oder Stadler. Aber auch für die neuen digitalen Systeme, die es im Bahnbetrieb noch gar nicht gibt“, erklärt der Bahn-Manager. Digitalisierung schafft niemand alleine, auch nicht auf der Schiene. Eisenbahnunternehmen, Betreiber und Hersteller, die in der Vergangenheit häufig gegeneinander gearbeitet haben, müssen neue Formen und Formate der Zusammenarbeit finden. Industriepolitisch macht es nach Ansicht der bundeseigenen Bahn außerdem Sinn, wenn der Bund Forschung und Entwicklung in diesem Bereich stärker fördern würde, denn bei der Bahntechnik sei Deutschland im internationalen Vergleich ganz weit vorne. Warum sollte das, was in der Autoindustrie funktioniert, nicht auch auf der Schiene funktionieren?
In Hamburg soll ab 2023 das hochautomatisierte Fahren getestet werden
Intensiv arbeiten Euler und sein 50-köpfiges Team aktuell an einem ersten Pilotprojekt, einem Vorgeschmack auf die Zukunft: In Hamburg soll im Oktober 2021 zum ITS-Weltkongress der Verkehrsbranche die S-Bahn auf einem 23 Kilometer langen Streckenabschnitt den hochautomatisierten Betrieb demonstrieren. Eine Weltpremiere in einem Vollbahnsystem.
Bis die Digitale Schiene Deutschland verwirklicht ist, wird noch viel Zeit vergehen – und Personal gesucht. „Bis zu 2000 Ingenieure brauchen wir im gesamten Sektor“, sagt Euler, „von der Bahnindustrie über die Forschungsinstitute bis zu den Verkehrsunternehmen und den Betreibern der Infrastruktur.“
Der Beitrag erschien zuerst in unserem Entscheider-Briefing Tagesspiegel Background Mobilität & Transport.