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Die Frankfurter Zeil während des Lockdowns. Die Folgen für den Handel sind dramatisch.
© Arne Dedert/dpa

Lokale Geschäfte in Nöten: „Innenstädte könnten sich die Shopping-Center zum Vorbild nehmen“

Handelsexperte Boris Hedde erklärt, warum Amazon kein Feind kleiner Läden ist, wie diese sich digitalisieren können und welche fünf "I"s sie beachten müssen.

Boris Hedde (46) ist seit 2009 Geschäftsführer des Instituts für Handelsforschung Köln (IFH). Zuvor war er in der Marktforschung tätig, etwa bei YouGov und der Sport+Markt AB.

Herr Hedde, Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) will die Innenstädte angesichts der Folgen von Corona stärken und digitalisieren. Wie stark leiden lokale Einzelhändler unter der Pandemie?
Die Effekte sind deutlich spürbar. Wir beim IFH Köln haben mit unserem sogenannten Corona-Consumer-Check repräsentativ Daten zum Handel während der Pandemie erhoben. Eine wichtige Frage war dabei, inwieweit Menschen Produkte, die sei bisher in den Innenstädten gekauft haben, jetzt online erstehen. Das Antwortverhalten der Verbraucherinnen und Verbraucher, für die das zutraf, verdreifachte sich zwischenzeitlich im Verlauf der Corona-Krise. Bemerkenswert ist dabei , dass viele Kundinnen und Kunden mit den Online-Erfahrungen so zufrieden waren, dass sie auch weiterhin im Internet kaufen wollen. Das heißt: Corona hat auch bei sehr loyalen Innenstadt-Kunden einen Umschwung bewirkt.

Für welche Produkt gilt das besonders?
Anfangs ging es um Dinge des täglichen Bedarfs, jetzt geht es vermehrt auch um Produkte aus dem Modesegment oder Möbel. Das trifft direkt die innenstadtrelevanten Sortimente und führt dazu, dass die Frequenz vor Ort weiter sinkt.

Wer profitiert davon? Nur Amazon?
Es gibt auch viele lokale Online-Marktplätze. Immerhin zwölf Prozent der Bevölkerung haben laut unseren Daten bei regionalen Plattformen wie zum Beispiel Locamo gekauft. Händler müssen jetzt überlegen, wie sie von der neuen Online-Affinität profitieren können. Das muss nicht immer der direkte Online-Verkauf sein.

Kölner Veedelsliebe als Vorbild

Was kann es sonst sein? Oder anders gefragt: Was bedeutet Digitalisierung für einen kleinen Einzelhändler überhaupt?
Wir befinden uns im Zeitalter der Kooperationen. Davon gibt es zwei Arten. Erstens: innerhalb einer Branche. Damit meine ich Verbund- und Franchisesysteme wie etwa Euronics für Elektrohändler oder Intersport für Sportbedarf. Diese Händler können gemeinsam sehr effektive Online-Plattformen auf die Beine stellen. Die zweite Art: auf lokaler Ebene. Hier können Gastronomie, Handel, Dienstleistung oder auch Handwerk sich bündeln und dafür sorgen, dass die geringere Zahl der Innenstadt-Besuche effizienter genutzt wird.

Gibt es da schon Vorbilder?
Was in Berlin der Kiez ist, ist in Köln das Veedel. Und hier gibt es das Projekt „Veedel lieben, Veedel leben“, mit dem das Kiezgefühl digitalisiert werden soll. Es geht am Anfang nämlich nicht darum, Umsätze zu digitalisieren, sondern viel mehr darum, den Kauf online vorzubereiten. Dafür braucht man die fünf „I“s: Information, Inspiration, Involvierung, Identifikation und Interaktion. Die Zukunft muss dahin gehen, dass wir die lokale Bindung online stärken. Der Community-Gedanke muss in den Vordergrund rücken.

Boris Hedde (46) ist seit 2009 Geschäftsführer des Instituts für Handelsforschung Köln (IFH). Zuvor war er in der Marktforschung tätig, etwa bei YouGov und der Sport+Markt AB.
Boris Hedde (46) ist seit 2009 Geschäftsführer des Instituts für Handelsforschung Köln (IFH). Zuvor war er in der Marktforschung tätig, etwa bei YouGov und der Sport+Markt AB.
© IFH Köln

Was Kundenorientierung angeht, setzt Amazon Maßstäbe, wird aber dennoch gerne als Feindbild der lokalen Händler gesehen. Zu Recht?
Amazon kann ein großer Partner des Einzelhandels in Deutschland werden. Der Konzern hat eine Infrastruktur aufgesetzt, hat Technologie eingeführt und die Konsumentinnen und Konsumenten für bestimmte Angebote affin gemacht. Und es gibt ja nicht nur Amazon. Ich denke zum Beispiel auch an Zalando, das seine Kampagne "Connected Commerce" mit einer seht interessanten Prämisse gestartet hat: Die Summe aller Lager von Einzelhändlern ist der größte Online-Händler der Welt. Man müsste diese Lager nur im Internet verfügbar machen und das versucht Zalando beispielsweise im Modebereich durch Kooperationen mit kleinen Händlern.

Es braucht zunächst empirische Daten

Auch hier Kooperation statt Feindschaft?
Man muss Online-Offline eben nicht als Gegnerschaft betrachten. Und man kann auch sagen: Amazon hat uns gezeigt, wie man ein einem Markt zukunftsgerichtet und kundenorientiert agiert. Und es wäre ein spannendes Spiel, sich zu fragen: Was würde Amazon den Innenstädten empfehlen? Und da wären wir schnell bei der Besucherzentrierung.

Altmaier spricht zunächst nicht von Fördergeld, sondern von neuen Konzepten und Attraktivität. Ist das fair angesichts der Milliarden, mit denen die Politik zur Rettung von Unternehmen hantiert?
Es stimmt schon: Wir brauchen nicht zwangsweise Budget, sondern Lösungen. Dass die allerdings mit Investitionen einher gehen, steht außer Frage. Und gerade mit Anfangsinvestitionen tun sich die gebeutelten Unternehmen in Corona-Zeiten natürlich schwer. Da sind sicher Förderprogramme nötig, die kein Unternehmen alleine leisten kann. Aber erstmal muss man empirisch untersuchen, welche lokalen Strategien vor Ort die richtigen sind.

Ein zweiter Lockdown wäre verheerend, meint Boris Hedde.
Ein zweiter Lockdown wäre verheerend, meint Boris Hedde.
© Arne Dedert/dpa

„Strategie“ ist ebenso wie Altmaiers „Konzept“ ein Wort, hinter dem sich alles und nichts verbergen kann. Was bedeutet das konkret?
Man muss die Besucherzentrierung in den Fokus setzen und davon ausgehend Lösungen herleiten. Das kann ein Lieferservice sein. Das können neue Informationsmöglichkeiten sein. Das können lokale Treuepunkte sein, die an Standorte und nicht an Unternehmen gebunden sind. Vielleicht muss auch das Thema Parken verbessert werden. Es ist generell dafür zu sorgen, dass der Durchschnittsbon pro Besucher höher ausfällt.

Es werden weniger Menschen in den Innenstädten

Ist es denn unausweichlich, dass weniger Menschen in den Innenstädten unterwegs sind?
Ja, diese Entwicklung ist schon seit mehreren Jahrzehnten messbar. Der Handel hat die Kundinnen und Kunden auch dazu erzogen, extrem bequem zu sein. Früher sagte man: Wo Handel ist, da ist Frequenz. Heute muss man sagen: Handel geht dahin, wo die Frequenz ohnehin schon ist. Das beste Beispiel dafür sind Flughäfen und Bahnhöfe; Discounter eröffnen Pop-up-Filialen auf Musikfestivals. Das heißt, der Handel folgt seinen Kundinnen und Kunden. Nicht mehr andersherum.

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Von der Coronakrise ist jede Branche unterschiedlich stark betroffen. Während der Lebensmittelhandel floriert, bricht der Umsatz bei Textilhändlern ein. Gibt es Möglichkeiten, einzelne Branchen zu stärken?
Wenn wir den Besuch in der Innenstadt insgesamt attraktiver machen und die Bereitschaft zum Konsum erhöhen, profitieren alle. Es wird schwer sein, jede einzelne Branche zu unterstützen. Die Innenstädte könnten sich da aber die Shopping-Center zum Vorbild nehmen.

Inwiefern?
Nun ja, Einkaufszentren sind ja minutiös geplant. Man überlegt sich dort sehr genau, welche Mehrwerte und Sortimente geboten werden müssen, um möglichst attraktiv für die breite Masse zu sein. Und analog dazu bräuchten wir auch für die Stadt geplanten Besatz von bestimmen Angeboten. Statt bestimmte Branchen zu fördern, muss man also Vielfalt herstellen - nicht nur im Handel.

Die Rolle von Galeria Karstadt Kaufhof

Apropos Vielfalt: Ist Karstadt wirklich so wichtig für die Innenstädte?
Da muss differenziert werden zwischen lokaler und bundesweiter Betrachtung. Bundesweit machen Kauf- und Warenhäuser nur noch zwei Prozent des gesamten Handelsumsatzes in Deutschland aus. Per se ist das also nicht mehr von großer Bedeutung. Lokal kann das aber anders sein - und auch einen größeren Anteil haben. Das Schicksal dieser Innenstädte an den Warenhäusern festzumachen, greift aber zu kurz. Stattdessen muss mehr dafür getan werden, dass der Standort selbst attraktiver wird. Dann bleibt Karstadt auch freiwillig.

Wie können Corona-spezifische Aspekte, wie etwa Maskenpflicht oder Abstand mitgedacht werden?
Da braucht es ein Out-of-the-Box-Denken. Wir brauchen verantwortliche Zuführung von Besuchern in der Innenstadt. Zugang kann nach Zielgruppen, Zeitpunkten oder anderen Metriken kanalisiert werden. In Südamerika beispielsweise dient die letzte Ziffer im Personalausweis dazu, Bürger zu unterschiedlichen Zeitunkten in die Innenstadt zu lotsen. Generell denke ich, dass aber nicht das Verbot im Zentrum stehen kann, sondern vielmehr der Anreiz. Warum soll nicht incentiviert werden, wenn bestimmte Zielgruppen solchen Regeln folgen. Innerstädtische Wirtschaft ist gewohnt, mit Anreizen Frequenz zu erhöhen.

Rechnen Sie mit einer steigenden Zahl von Händler-Insolvenzen, sollte es zu einer zweiten Welle kommen?
Nach September wird es auch ohne eine zweite Welle viele Insolvenzen geben, weil die Meldepflicht dann wieder greift. Ein zweiter Lockdown würde diese Entwicklung exponentiell befeuern. Das wäre verheerend für die lokale Wirtschaft in Deutschland.

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