Stadtentwicklung: Wenn die Planung von der Geschichte überholt wird
Krieg, deutsche Teilung und Wiedervereinigung haben die Stadtentwürfe verändert. Was ist zu tun?
Berlin lebt seit Jahrzehnten von der Substanz seiner Verkehrsinfrastrukturen. Wie lange geht das noch gut? Es ging so lange gut, weil die Bevölkerung Berlins vor knapp 100 Jahren größer war als heute und die Berliner Verkehrspolitik bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs mustergültig war. Sie zeigt, was eine vorausschauende Verkehrspolitik leisten kann.
Einige Zahlen: Bei der Entstehung Groß-Berlins im Oktober 1920 hatte Berlin mehr als 3,9 Millionen Einwohner und war nach London und New York die drittgrößte Stadt der Welt. Das öffentliche Verkehrssystem war international führend und wurde in den 20er und 30er Jahren laufend verbessert. Dazu gehörten 1939 nicht nur 1271 Straßenbahnkilometer, die S- und U-Bahn, sondern auch der bis vor einigen Jahren längste Autobahnring der Welt, der 1940 zum größeren Teil fertiggestellt war. Der Durchmesser des Rings zeigt, mit welchem Wachstum die Stadtplanung in den 1930er Jahren rechnete.
Krieg, deutsche Teilung, Wiedervereinigung und die gescheiterte Fusion von Berlin und Brandenburg haben aber für 70 Jahre die vorausschauende Verkehrsplanung torpediert. Hier zwei Beispiele: der U-Bahnbau im Westteil hatte auch den Zweck, der – DDR-kontrollierten – S-Bahn die Fahrgäste abzugraben. Die U3 wurde deshalb nicht zur S-Bahn (Mexikoplatz) verlängert, und nach 1990 fehlte wiederum das Geld. Die sogenannte U10, die so in etwa parallel zur S1 verlaufen sollte, wurde nach 1990 nicht mehr gebaut. Im Osten floss das knappe Geld in den 1950er Jahren in die Eisenbahnumfahrungen West-Berlins im Norden und Süden.
Reurbanisierung und der extreme Mietanstieg
Seit den 1960er Jahren veränderte die Randwanderung der Bevölkerung den Charakter der Großstädte. Die Entmischung machte auch in West-Berlin die Altbaugebiete zu Problemquartieren, doch war die Randwanderung schwächer als anderswo und zielte (wie in Ost-Berlin) teilweise auf die neu gebauten Großwohnsiedlungen, die heutigen Problemquartiere.
Seit den 1990er Jahren bescherte der neue Trend der Reurbanisierung den innerstädtischen Altbauquartieren Berlins einen beständigen Zuzug junger Menschen und Familien. Für diese neue Durchmischung haben Stadtplanung und Quartiersmanagement viele Jahre gearbeitet und gekämpft. Durch die Überlagerung mit dem Wachstum der Stadt stiegen in diesen Wohngebieten die Mieten besonders stark, sodass sie heute zu den teuersten der Stadt zählen. Der extreme Anstieg der Mieten trifft die Berliner mental, weil sie dies nicht gewohnt sind, und faktisch auch deshalb hart, weil die Eigentumsquote (15 Prozent) besonders niedrig ist.
Während die Verkehrsplanung für das schrumpfende West-Berlin in den 1960er Jahren große Autobahnstrecken vorsah, erleben wir heute eine restriktive Planung für eine wachsende Stadt. Der in den 1960er Jahren für die Gesamtstadt entworfene innere Autobahnring ist nur im Westen verwirklicht; ein Strukturnachteil für die Bezirke im Osten.
1944 fuhr die S-Bahn weiter ins Umland als heute
Es kommt trotzdem im Vergleich mit München und Hamburg zu weniger Staus, weil die große Stadtanlage insgesamt die Autos aufnimmt, während die kleineren Städte München und Hamburg für die Autos wirklich keinen Platz haben. Nach wie vor rollt der Autoverkehr auf den breiten Straßen Berlins flüssiger als in den Metropolen Westdeutschlands. Immerhin: die Ampelschaltung im Westteil der Stadt ist vergleichsweise durchdacht.
Problematisch ist dagegen der hinhaltende Widerstand gegen die Verbesserung der Verkehrsverhältnisse mit dem Umland. Seit Jahren ziehen nun jedes Jahr rund 30 000 Berliner/innen hinaus, aber auch viele Unternehmen verlegen Fertigungen oder Logistikzentren ins Berliner Umland. Inzwischen haben wir etwa 280 000 Pendler, nämlich 200 000 Einpendler und 80 000 Auspendler, Letztere übrigens mehr aus den Ost-Berliner Bezirken. Im Westen gibt es stärker noch die Mauer im Kopf.
Die S-Bahnverbindungen mit dem Umland sind aber kaum besser geworden, ja sie haben den Zustand von 1944 noch immer nicht erreicht. Die S-Bahn fuhr 1944 auf fast allen Strecken weiter ins Umland als heute, einige Strecken, wie die Bahn von Berlin-Wilhelmsruh nach Mühlenbeck oder die Stammbahn von Zehlendorf nach Babelsberg, fehlen ganz. Neubauplanungen, wie die Bahnstrecke über den Bahnhof Südkreuz zum neuen Flughafen, werden äußerst langsam angegangen.
Hinzu kommt eine verfehlte Tarifpolitik, die an der Landesgrenze Halt macht. Deshalb fahren viele Einpendler mit ihren Autos bis zum ersten S-Bahnhof im AB-Bereich, wo es kaum Parkplätze gibt. Brandenburg hat immerhin 19 500 Park&Ride-Plätze, Berlin nur 5140 – und hält den weiteren Ausbau für nicht sinnvoll. Die Berliner geben dafür den guten Rat nach Brandenburg, die Wohngebiete so nah an den Bahnhof zu legen, dass es möglich ist, den Bahnhof zu Fuß oder mit dem Fahrrad zu erreichen. Ja, das wäre schön. Erst langsam wird sich die Stadt Berlin ihrer Verantwortung für diesen Ausbau bewusst.
Die Ablehnung der Vereinigung der beiden Bundesländer im Jahr 1996 durch den Volksentscheid hat die Zusammenarbeit im Infrastrukturbereich sicher nachhaltig geschwächt und das Mauerdenken bei den alten West-Berlinern, aber auch in Brandenburg erhalten. Vielleicht kann die zähe Genehmigungspraxis beim Brandschutz des Flughafens Schönefeld teilweise auch darauf gebucht werden. Jedenfalls tun sich beide Seiten bei der konsequenten Verwirklichung verkehrlicher Lösungen für den Metropolraum schwer.
Was könnte man in Berlin tun?
Was könnte man in Berlin tun? Aus der Vergangenheit übernehmen und neu einführen könnte man die „Bankierszüge“: S-Bahnen, die ohne Zwischenhalt von der Stadtgrenze in die City fahren (wie der RER in Paris). Wie wäre es mit Regionalzügen mit S-Bahn-Frequenz, großen Park&Ride- Plätzen, die sich über Parkgebühren finanzieren, der Genehmigung von Uber und Lyft für die Zubringerverkehre zum ÖPNV, großen Wohnflächen in der Nähe der Bahnhöfe im Umland und – mit dem Mobilitätsgesetz – schnelle, kreuzungsfreie Fahrradstraßen für E-Bikes und vor allem sichere Fahrradparkhäuser an den Stationen. Der Fahrraddiebstahl ist nämlich eine der großen Belastungen für viele Pendler, auch innerhalb Berlins.
Wie wäre es mit einem gemeinsamen Kontrastraumkonzept für das weitere Wachstum der Großstadtregion, mit dem Wohnen draußen und dem Arbeiten drinnen, gemildert durch die zunehmende Telearbeit. Ein solches Konzept müsste die Unterschiedlichkeit von Stadt und Land kultivieren und würde zugleich zu einer weiteren West-Ost-Annäherung führen und Kultur, Schule und neue Geschäfte in den Mittelzentren Brandenburgs befruchten. Viele Kleinstädte um Berlin profitieren schon heute massiv vom Zuzug aus der Metropole.
An den Städten ohne Direktverbindung nach Berlin geht dieser Impuls noch vorbei. Guben (Fahrzeit nach Berlin 120 min) schrumpft am stärksten, Bad Freienwalde (90 min) und Rheinsberg (132 min) ebenfalls. Dagegen wachsen deutlich: Werder (38 min), Falkensee (26 min) und Eberswalde (52 min). Auch Brandenburg (51 min) und Luckenwalde (43 min) profitieren vom Berliner Zuzug.
Vor 1945 gab es bereits eine funktionierende Raumpartnerschaft. Bürgerliche und großbürgerliche Schichten wanderten ins Umland ab, verbanden das Leben in der Natur mit der Großstadt. Und die Stadt reagierte darauf. Die raumpartnerschaftlichen Stadt-Umland-Beziehungen reichten bis nach Usedom (Schnellzüge nach Swinemünde in zwei Stunden und 20 Minuten).
Bay Area um San Francisco als Vorbild
Was wir heute brauchen, ist eine verkehrliche Antwort auf die neue Nähe von Berlin und Brandenburg. Doch die beiden Bundesländer sind sich fremd und nicht einmal einig, über welchen Raum wir reden. Das zeigen die Planungsbegriffe Ballungsraum (4,3 Mio), der engere Verflechtungsraum (4,5 Mio), die Großstadtregion (5 Mio), der Agglomerationsraum (5,1 Mio) oder die Metropolregion (6 Mio). Die gemeinsame Landesplanung wartet mit dem sperrigsten Begriff auf, dem „Stadt-Umland-Zusammenhang-Berlin-Potsdam“.
Wenn wir in andere Ballungsräume mit erheblich größeren Randwanderungen schauen, etwa die aus allen Nähten platzende Bay Area um San Francisco, sehen wir, was möglich ist: Die Autobahnen Richtung City haben eigene Spuren für Car-Pooling Pkw, die BART (die S-Bahn) wird ständig weiter ausgebaut, ebenso die P&R Plätze, die oft moderate Parkgebühren kosten, aber dafür etwa dem Autofahrer per App visualisieren, welche Plätze noch frei sind. Das hat inzwischen auch München. Für Umsteigewillige aufs Rad vermittelt die Metropolitan Transport Commission sogenannte Bike-Buddies: Menschen, die schon auf's Rad umgestiegen sind und Tipps geben, wie man das macht.
Inzwischen werden trotz der vielen Mautbrücken über die Bay auch die Fähren wieder stark ausgebaut. Vom Facebook-Hauptquartier fahren im Minutentakt die Firmenbusse direkt in Dutzende Orte in der Bay. Mehr als die Hälfte der Angestellten kommt mit dem Bus. Wer hätte gedacht, dass San Francisco und die Bay mal zu einem Modell für die Verkehrswende in Berlin-Brandenburg werden können.
Der Autor Hans-Liudger Dienel war von 2008-14 Präsident der International Association for the History of Transport, Traffic and Mobility.
Hans-Liudger Dienel