"Sprayer von Zürich": Naegeli: „Besprühte Züge sind großartig“
Vor ihm gab es keine Graffiti im öffentlichen Raum. Harald Naegeli, der berühmte „Sprayer von Zürich“, über Felsenmalerei, Kapitalismus und die Utopie, die in uns allen steckt.
Harald Naegli: Ah, Sie vom Tagesspiegel, Sie wollen mich jetzt verhören, oder? Das ist ein politisches Moment, wenn Sie jetzt mit mir sprechen. Sie kommen ja immer wieder, die Klagen von den Eigentümern. Der Kapitalismus ist ja der innerste Glaube aller Bewohner dieser Erde.
Tagesspiegel: Wir wissen schon, dass Sie wieder mit der Justiz in Zürich über Kreuz liegen. Es geht uns aber gar nicht um die Grundeigentümer und auch nicht um Graffitibeseitigung. Wir hätten es gerne eine Nummer kleiner: Es geht um Kultur.
Dann ist es gut.
Welche Aufgabe wäre für Sie verlockender: Die Arbeit an Ihrer gestrichelten „Urwolke“, die Sie in aller Ruhe in Ihrem Atelier verewigen könnten, oder eine illegale und damit natürlich unbezahlte Sprayaktion bei Dunkelheit in ihrer Geburtsstadt Zürich?
Die Utopie steckt in uns allen. Das ist der geheime Sehnsuchtsort und Nicht-Ort. Beides zusammen. Utopie heißt ja „Nicht-Ort“. Aber wir suchen diesen Nicht-Ort. Weil wir ja eigentlich verortet sind in irgendwelchen gesellschaftlichen Bedingungen, die uns dann letzten Endes wie ein Gefängnis erscheinen. Wo man sich die Freiheit denken kann. Zur Utopie gehört für mich also die Vorbereitung: meine Zeichnungen, meine endlosen Skizzen, oder die Urwolke selbst, das sind politische Meditationen zu dem politischen Knall selbst. Der Knall, der in der Öffentlichkeit stattfinden muss, und der geheimnisvoll ist. Geheimnis. Das heißt also: überraschend. Es gibt eine sehr schöne Aussage von Baudelaire, der sagte: Das Schöne ist das Unerwartete. Die Überraschung. Meine Utopie lebt also davon, dass man nicht weiß, dass sie kommt. Plötzlich ist sie da und erfreut. Oder sie schockiert. Die Utopie ist eben das Gegenteil von all diesen legalisierten und tradierten Möglichkeiten, sich zu manifestieren. Mein Leben oder meine utopische Vorstellung ist latent in allen meinen Arbeiten vorhanden. Sie ist auch in Zeichnungen enthalten. Aber die politische Dimension findet nur im urbanen Raum statt.
Die Street-Art-Künstler berufen sich auf den urbanen Raum. In Berlin sind in den vergangenen Wochen beim ersten Berliner Mural Fest Brandwände mit neuen Motiven bemalt worden. Haben Sie diesen Artisten gedanklich Böden und Wände bereitet? Sind das Ihre künstlerischen Freunde? Oder hat das mit Ihren Zeichnungen wenig gemein?
Doch, doch, es hat schon sehr viel gemein. Ich kann schon sagen, dass ich wohl einer dieser Pioniere bin, die Grundlagen geschaffen haben. Schon als ich Anfang der achtziger Jahre geflohen bin – nach diesem Urteil aus der Schweiz – bin ich direkt nach Hamburg, Berlin, Düsseldorf, Köln und Aachen und habe dort überall gesprüht. Und nirgendwo gab es vorher Graffiti. In der Schweiz gab es auch keine. Ich war ein Vorläufer in einem geistigen Sinne. Figürliche oder bildhafte Graffiti gab es damals eigentlich kaum. Was es in den 1968er Jahren hauptsächlich gab, waren verbale Graffiti. Und wenn ich das jetzt in den deutschen Städten sehe – dann ist ja eigentlich alles knallvoll mit Graffiti.
Allerdings gibt es einen ganz erheblichen Unterschied zu den jugendlichen Nachfolgern, die meist gar nicht meinen Namen kennen: Meine Graffiti, also die Bildkunst in der Öffentlichkeit, gehen zurück auf die Felsenmalerei. Und dort waren die Wände eigentlich eingerissen, graffitare heißt ja kratzen. Und da kommt auch das Wort Graffiti her. Meine Figuren sind an den Ort gebunden. Wie auch diese ursprünglichen genialen Zeichnungen an den Felsenwänden. Gegenwärtige Graffiti sind dagegen farbig. Sehr groß, sehr monumental. Es gehören sehr viele sportliche Leistungen dazu.
Der fundamentale Unterschied ist eigentlich der, dass der Träger, also die Mauer, von Jugendlichen wie eine Leinwand benutzt wird. Während bei mir entscheidend ist, dass da jedes kleine Moment einbezogen wird. Ich komme ja ursprünglich von der Collage her. Ich habe als 17-Jähriger stundenlang Papierstücke hin- und hergeschoben. Aus dieser Sicherheit in der Fläche ist dann eine Sicherheit im Raum geworden. Wonach ich eben für die Linie – ich bin ein geborener Linienmensch – immer irgendwie einen Griff zum Träger haben muss, also zur Architektur. Diese Graffiti sind übrigens eine Art Kalligraphie. Von meinen Graffiti ausgehend kann man sagen, dass diese Graffiti eine kollektive Kunst sind, eine kollektive Volkskunst. Die meisten sind anonym.
„Ich bin nicht gegen Kapitalismus“
Inzwischen stellen Immobilienentwickler Sprayern Abbruchhäuser zur Verfügung, um sie zum Teil der PR-Aktivitäten zu machen. Werden hier die Kinder der Revolution vom Establishment vereinnahmt? Sie haben eben von dem großen Knall gesprochen. Wie wichtig ist Ihnen das Subversive Ihrer Kunst?
Ja, sehr wichtig. Ich verkaufe ja nicht. Eine Non-Monetäre-Kunst ist eine Alternative zu dieser hochkapitalistischen Kunst, die auf dem Markte erhältlich ist. Das ist ja die Provokation! Die Utopie, dass man nichts bezahlt. Dass man nichts bezahlen muss. Die Utopie ist ein Geschenk. Man muss sie nur verstehen. Oder sie wird eben zerstört, weil man sie nicht wahrnehmen darf oder kann oder muss. Die Graffitiszene ist ja sehr vielfältig. Es gibt sehr viele kommerzielle Stränge mittlerweile, in Düsseldorf gibt es zum Beispiel ein oder zwei Graffitisprayer, die gegen Bezahlung arbeiten, aber das ist dann praktisch ein Rückfall. Das hat nichts mit Utopie zu tun. Das ist eine tradierte Kommerzialisierung der künstlerischen Arbeit. Ich will nicht sagen, dass das deswegen schlecht ist, allein weil es nicht subversiv ist. Alle Graffiti, ob bezahlt oder nicht, sind eine Reaktion auf die Banalisierung des öffentlichen Raumes. Alle diese Leute haben ein Bedürfnis, sich zu manifestieren, das Ego zu befriedigen, aber nicht nur. Es ist auch ein Gestaltungswille dahinter. Zum Beispiel, wenn Züge besprüht werden. Das ist eine enorme Provokation. Aber es ist auch eine gestalterische Herausforderung. Zum Beispiel auf den Bahnarealen finde ich die besprayten Züge großartig.
Gibt es auch Dinge, die Sie verabscheuen würden? Wenn zum Beispiel mit Feuerlöschern, die mit Farbe gefüllt werden, ein Smiley an die Wände eines U-Bahnhofes gesprüht wird?
Das ist eben eine neue Spritztechnik. Ich find’ das großartig.
Sie beklagen, dass man immer nur den kriminalistischen und juristischen Aspekt Ihrer Spray-Kunst ins Auge gefasst, das eigentlich Revolutionäre aber gar nicht gesehen hat. Kunst kann man nicht enträtseln. Aber klären Sie uns bitte dennoch über einen Punkt auf: Ihre Strichmännchen sind immer auch Kinder ihrer Zeit, wie jede Kunst. Was haben Ihre Spraymännchen mit 1968 und den Folgejahren zu tun – würden sie vor diesem Jahr einfach davonlaufen oder würden sich Ihre Strichmännchen im doppelten Wortsinne in einer antiautoritären Bewegung sehen?
Ja, wahrscheinlich schon in diesem Sinn. Heute interessiert mich der künstlerische oder utopische Moment am meisten. Damals war die Revolution oder Opposition bedeutender. Aber ich wollte provozieren. Da hat man zum Beispiel in Zürich wunderbare Architektur niedergerissen, um neue Architektur hinzuhauen. Die Künstler haben protestiert, Max Frisch und andere. Das war ein Protest im intellektuellen Sinne. Aber dieser Protest war nicht greifbar. Es gab kein visuelles Element. Der Zusammenschlag der Utopie mit dem Beton durch ein Graffiti deckte gleich zwei Elemente ab. Der Beton wurde praktisch enthüllt und die menschliche Geste aus der Brutalität wurde ebenfalls sichtbar. Es waren zwei Komponenten, die zusammengingen und das war ein gesellschaftliches Element: Der öffentliche Raum und seine Gestaltung (oder Umgestaltung) und andererseits eine menschliche Geste.
Also hier ist der Zusammenhang mit 1968 zu sehen.
Ja, jetzt haben Gesten in meinem Werk abgenommen, weil es durch die Graffiti der Jugendlichen schon eine ungeheuerliche Parallelität gibt. Dass in Zürich Leute in Trauben vor meinen neuen Figuren standen, das kommt heute nie mehr vor. Obwohl ich heute vielleicht ein sehr viel größerer Künstler bin als zu Beginn. Doch das ästhetische Element wirkt heute nicht mehr.
Sie haben sicher viele Adepten. Woran erkennt man einen „echten Naegeli“? Eher an der Zeichensprache oder eher am Ort des Geschehens?
Das ist gar nicht so wichtig. Wenn man im Internet nachschaut, dann gibt es auch Nachahmer. Die werden auch von Fachleuten sehr leicht erkannt. Der allgemeine Betrachter wirft alles in einen Topf hinein. Diese mangelnde ästhetische Fähigkeit ist aber nicht ausschlaggebend, ob das mir zugeordnet werden kann oder nicht...
...Sie sagten aber, dass Ihnen das Ästhetische wichtiger wird.
Mir persönlich ist es das Wichtigste. Ich habe den Ehrgeiz, sehr, sehr starke Bearbeitungen zu machen. Die Museumsdirektorin des Kunsthauses Düsseldorf hat damals die Polizeifotos von Zürich aufgekauft, für 30 000 Euro. Verrückt, nicht wahr? Die Polizei hat das verkauft und die Bilder wurden ausgestellt. Diese ersten Fotos sind ein Kaufartikel geworden, was früher einfach Utopie war. Ich bin übrigens nicht gegen Kapitalismus. Ohne Kapitalismus könnte ich meine Utopie nicht verwirklichen.
Ihre Figuren haben auch etwas Verspieltes. Sicher haben Sie im Stillen Namen für die weiblichen und männlichen Strichfiguren parat. Würden Sie uns die verraten?
Das Archetypische aus der Frühzeit, die Blitzfiguren, die Zackenfiguren, die Frauenfiguren, die kann man schon so benennen. Sie sind nicht gegenstandslos. Es gibt Mischungen von Fisch und Mensch, manchmal gibt es aber auch nur eine Linie. Das Figürliche ist das Attraktive. Die Blitzfiguren sind für mich die besten. Für das allgemeine Publikum sind die Flamingos natürlich die attraktivsten, weil sie erkennbar sind.
Das Interview führte Reinhart Bünger.