Unterkünfte für Flüchtlinge: Flucht nach vorne
Unterbringung und Zuhause sind zweierlei. Nach und nach werden Strategien für mittel- und langfristige Integration und Unterbringung entwickelt. Ein Plädoyer in sechs Thesen.
Die Lösung der Flüchtlingsfrage stellt Bund, Land und Kommunen vor gleichermaßen große Herausforderungen. Enorme Anstrengungen wurden unternommen, um die Erstunterbringung zu sichern. Angesichts weiterhin zu erwartender Zuwanderungsströme bilden die Erfahrungen des letzten Jahres eine gute Basis für zukünftiges Handeln. Doch wo und wie können Flüchtlinge dauerhaft ein Zuhause finden, wenn auf dem Wohnungsmarkt bereits ohne diese Zuwanderung kaum bezahlbarer Wohnraum vorhanden ist?
Erfreulicherweise gelingt es immer mehr, den Blick auf mittel- und langfristige Integration zu werfen und Strategien zur gleichzeitigen Mobilisierung von Baulandreserven für den dringend benötigten Wohnungsneubau zu entwickeln. In Berlin wurde ein Sofortprogramm „Pionier-Wohnungsbau für Flüchtlinge“ aufgelegt. Danach sollen 2016 an etwa 10 Standorten insgesamt zirka 3000 Wohnungen entstehen. Mit dieser Idee betritt Berlin Neuland. Es ist das Ziel, mit dem Pionier-Wohnungsbau für Flüchtlinge den Nukleus für die weitere Entwicklung von Quartieren zu legen. Ein hehres Ziel, das der planerischen Flankierung bedarf. Hierzu sechs Thesen:
1. Integrierte Wohnungsangebote sind der Schlüssel für soziale Integration
Die Krawalle in den französischen Trabantenstädten vor zirka zehn Jahren machen deutlich, dass man es dringend vermeiden muss, Einwanderer in Quartieren zu konzentrieren und abzukapseln. Das französische Beispiel zeigt auch, wie schwer es ist, nachträglich eine gemischte Bevölkerungsstruktur und ein integriertes Zusammenleben zu erreichen. Funktionierende Nachbarschaften mit einer guten Anbindung an Infrastrukturangebote sind eine wichtige Voraussetzung für sozialen Frieden. Das bewährte Ziel der sozialen und funktionalen Mischung muss daher in der notwendigen Feinkörnigkeit von Anfang an Berücksichtigung finden. Bei der Unterbringung von Geflüchteten sollte es weder zur Konzentration in einzelnen Quartieren noch in einzelnen Gebäuden kommen. Dies ist insbesondere bei hochgeschossigen Wohnhäusern zu berücksichtigen.
2. Die Bedeutung qualitätvoller Freiflächen steigt
Bei allen guten Gründen, die für eine bauliche Verdichtung vorhandener Siedlungsstrukturen sprechen, darf die notwendige Erhaltung, Weiterentwicklung und Neuschaffung von qualitätvollen Freiflächen in den Quartieren nicht vernachlässigt werden. Sie übernehmen nicht nur wichtige stadtklimatische Funktionen, sondern sind als „Wohnergänzungsraum“ ausgestattet mit einem vielfältigen Nutzungsangebot, das für das Entstehen einer lebendigen Nachbarschaft von Belang ist. Differenziert gestaltet bieten sie Raum für Spiel, Sport und Erholung, aber auch die Möglichkeit des Austausches und der Kommunikation zwischen Generationen und Kulturen.
3. Eine gute Gestaltung der Wohngebäude ist ein Zeichen der Willkommenskultur
Eine rein auf Kostenminimierung und Wirtschaftlichkeit ausgerichtete Errichtung von Asylbewerber- und Flüchtlingsunterkünften führt leider oftmals zu Lösungen, die einer humanitären Unterbringung sowohl in der Wahrnehmung der Bewohner als auch in der Wahrnehmung von außen widersprechen. Eine unprätentiöse, angemessene architektonische Gestaltung ist daher kein verzichtbarer Luxus, sondern wesentliche Voraussetzung, um einerseits das Gefühl eines heimatlichen Aufgehobenseins entwickeln zu können, andererseits nachbarschaftliche Akzeptanz zu fördern und Vandalismus einzudämmen. Dass eine gute Gestaltung und die Forderung nach bezahlbarem Wohnraum sich nicht ausschließen, zeigen bundesweit zahlreiche Beispiele. Hier gilt es die Erfahrungen der Architekten zu nutzen.
4. Andere Lebensformen erfordern andere Wohnungszuschnitte
Die demografische Entwicklung in Deutschland führte zu einer Konzentration des Wohnungsbaus auf Angebote für kleine Familien, Singles und alte Menschen. Die Neu-Zugezogenen bringen jedoch eine Tradition anderer Lebensformen, das Leben in größeren Gemeinschaften mit. Die Wohnungszuschnitte von Neubauten sollten darauf Bezug nehmen. Darüber hinaus steigt der Wohnflächenbedarf pro Kopf stetig. Bezahlbarer Wohnungsbau zielt auch auf Flächenersparnis. Schon lange setzt der soziale Wohnungsbau auf Gemeinschaftsräume. Sharing-Modelle sind aber auch in der gemeinschaftlichen Nutzung von Erschließungsflächen, Außenanlagen, Hobbyräumen oder Arbeitszimmern denkbar.
5. Typisierung als Chance, Wohnimmobilien zukunftssicher zu planen
Wohnungen sind ein langfristiges Wirtschaftsgut mit einer Lebensdauer von achtzig Jahren und mehr. Welche Bauweisen sind flexibel und ermöglichen auch langfristig gesehen verschiedene Wohnnutzungen? Welche Bauformen sind variabel und können nicht nur bei unterschiedlichen Grundstückszuschnitten zur Anwendung kommen, sondern auch städtebauliche Ensemble unterschiedlicher Größe bilden? Welche Chancen ergeben sich aus einer modularisierten oder elementierten Bauweise nicht nur in Hinblick auf eine zügige Errichtung von Gebäuden, sondern auch in Bezug auf die Förderung regionaler Wertschöpfungsketten?
All diese Fragen beschäftigen uns als Planer, wenn wir uns mit zukunftsfähigen Wohnformen auseinandersetzen. Die besten Antworten hierauf geben Architektenwettbewerbe.
6. Transparenz schafft Vertrauen
Der Zuzug anderer Kulturen ist bei der bereits ansässigen Bevölkerung vielfach mit Angst besetzt. Eine umfassende Öffentlichkeitsarbeit zur Stadtteilentwicklung, zu geplanten Maßnahmen an einzelnen Standorten sowie geeigneten Möglichkeiten der Partizipation fördert die Akzeptanz und die Identifikation mit Veränderungen in der unmittelbaren Nachbarschaft. Stadtplaner können hier mit ihrer Erfahrung in der Moderation komplexer Stadtentwicklungsprozesse sowie im Stadtteil- und Quartiersmanagement umfangreiche Unterstützung bieten. Die Hebel, um der sozialen Wohnungsfrage zu begegnen, sind vielfältiger Art.
Mit dem Pionier-Wohnungsbau für Flüchtlinge kann unter den oben genannten Voraussetzungen die Initialzündung für eine lebendige Quartiersentwicklung und die Initiierung von neuen Nachbarschaften verbunden sein. Aus den Fehlern der Vergangenheit lernend, wäre er auch eine Chance, das Image von Großwohnsiedlungen wie des typisierten und modularen Bauens zu reformieren.
Hinweise hierzu gibt ein Positionspapier der Architektenkammern:
Die Autorin ist Präsidentin der Architekten- und Stadtplanerkammer Hessen.
Brigitte Holz