Gastbeitrag zu Ladenöffnungen in der Coronakrise: Flächenbrand im Einzelhandel
Die 800 qm-Regel ist ungerecht und demokratisch nicht legitimiert
Die Corona-Eindämmungsmaßnahmen haben zu einem Shutdown des Öffentlichen Lebens und der Wirtschaft in einem bisher unbekannten Ausmaß geführt. Die Landesregierungen in Deutschland mussten harte Maßnahmen treffen, um die Ausbreitung des neuartigen Virus einzudämmen.
Diese Maßnahmen waren notwendig. Und sie waren – bisher jedenfalls – in weiten Teilen juristisch gerechtfertigt. Denn um Gesundheit und Leben der Bevölkerung zu schützen, hat die Regierung einen großen Einschätzungsspielraum. Zumal diese Entscheidungen unter erheblichem Zeitdruck und in Anbetracht einer neuartigen Viruspandemie getroffen werden mussten.
Von diesem weiten Prognosespielraum kann daher auch umfasst sein, den Einzelhandel wochenlang zu schließen. Intensivstationen mit freien Kapazitäten, ein Rückgang der Neuinfektionen und ein Blick in die europäischen Nachbarländer zeigen, dass die Landesregierungen wohl überwiegend gute Entscheidungen gefällt haben. Da überrascht es nicht, dass die zahlreichen Eilrechtsverfahren gegen Corona-Maßnahmen fast ausnahmslos erfolglos geblieben sind.
Eine rechtliche Bewertung der Maßnahmen darf sich aber nicht nur auf den Gesundheitsschutz beschränken. Zugleich sind die gravierenden Auswirkungen auf das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben in Deutschland in den Blick zu nehmen. Aus rechtlicher Sicht gilt: Die Corona-Verordnung dient zwar der staatlichen Pflicht, Leben und Gesundheit der Bevölkerung zu schützen. Die Maßnahmen müssen aber geeignet und geboten sein sowie in einem angemessenen Verhältnis zu den Grundrechtseingriffen, insbesondere auch der Eigentums- und Berufsfreiheit von Geschäftsinhabern, stehen.
Je länger die Maßnahmen in Kraft sind, desto geringer wird der Prognosespielraum der Verwaltung und desto strenger ist die gerichtliche Prüfung der Verhältnismäßigkeit. Ab wann die Verhältnismäßigkeit der Corona-Maßnahmen endet und die Corona-Verordnung rechtswidrig wird, ist nicht mit Sicherheit zu beantworten. Aber spätestens, wenn wissenschaftlich fundierte Exit-Strategien vorliegen, verringert sich der weite Beurteilungsspielraum der Regierung. Anderenfalls handelt der Staat nicht nur rechtswidrig, sondern er verursacht unnötige wirtschaftliche und gesellschaftliche Schäden. Daher betonen die Gerichte die staatliche Pflicht zur kontinuierlichen Überwachung der Notwendigkeit der Maßnahmen.
In den letzten Wochen wurden ökonomische und gesellschaftliche, aber auch wissenschaftliche Stimmen lauter, die eine schrittweise Anpassung der Maßnahmen fordern. Dementsprechend gelten in Berlin seit Mitte dieser Woche gelockerte Regeln. Geschäfte und Läden dürfen wieder öffnen, wenn die Verkaufsfläche auf 800 qm begrenzt ist. Hygienevorschriften sowie verpflichtende Abstände und Zugangsbeschränkungen müssen dabei eingehalten werden. Das scheint ein Schritt in die richtige Richtung und im Verhältnis zum Gesundheitsschutz ein sinnvoller Kompromiss zu sein: Die Geschäfte und Einkaufszentren in den Innenstädten, die häufig schon vor Covid-19 in einer prekären Situation waren, dürfen endlich wieder öffnen, ohne dass die Gesundheit auf der Strecke bleibt.
Die Begrenzung auf 800 Quadratmeter ist willkürlich
Mit Blick auf die 800 qm-Regel täuscht das: Diese Begrenzung der Verkaufsfläche ist willkürlich, führt zu einer Wettbewerbsverzerrung und wird das Sterben in den Innenstädten unnötig befeuern. Dass diese Abgrenzung rein politisch motiviert ist, wird von den Entscheidungsträgern nicht einmal verheimlicht. Und die Regelung verstößt wohl auch gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz: Behandelt der Staat vergleichbare Sachverhalte – hier den Einzelhandel – unterschiedlich, muss es nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hierfür eine Rechtfertigung geben. Wirkt sich eine Ungleichbehandlung nachteilig auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten aus, müssen die rechtfertigenden Gründe besonders gewichtig sein.
Die 800 qm-Regel scheitert an dieser Hürde: Bei Festlegung der Verkaufsflächenbegrenzung orientierte sich die Politik an der Abgrenzung zwischen großflächigen und sonstigen Einzelhandelsbetrieben aus der Baunutzungsverordnung. Der Ursprung dieses Regelungsgedankens ist aber rein stadtplanerischer Natur und kann nicht auf den Gesundheitsschutz übertragen werden: Städtebauliche Auswirkungen sagen nichts über das Infektionsrisiko aus. Im Gegenteil besteht gerade in größeren Einzelhandelsbetrieben die Möglichkeit, den vorgeschriebenen Abstand zwischen den Besuchern einzuhalten. Große Einzelhandelsbetriebe und Einkaufszentren haben auch den Vorteil größerer Verkehrsflächen für Wartende. Außerdem weisen die stadtplanerischen Vorschriften den großflächigen Einzelhandel gerade den Stadtzentren zu. Die gegenwärtige Beschränkung der Verkaufsfläche auf 800 qm widerspricht dem offensichtlich. Der Versuch, die willkürliche Differenzierung anhand der Verkaufsfläche mit der Schutzpflicht des Staates zu begründen, muss daher scheitern. Dem stimmt das Verwaltungsgericht Hamburg mit Beschluss vom 21. April 2020 ausdrücklich zu, wobei die Entscheidung nicht rechtskräftig ist und vom Oberverwaltungsgericht Hamburg suspendiert wurde; mit einer Entscheidung in der zweiten Instanz wird kommende Woche gerechnet.
Die Maßnahmen begegnen noch weiteren rechtlichen Bedenken: Gute Gründe sprechen dafür, dass die gesetzliche Grundlage für die Corona-Maßnahmen der Gewaltenteilung widerspricht. Die Verordnungen der letzten Wochen stützen sich auf eine allgemein lautende Generalklausel im Infektionsschutzgesetz. Wird in Grundrechte eingegriffen, muss aber der demokratisch legitimierte Gesetzgeber alle wesentlichen Entscheidungen selbst treffen. Nicht nur der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat vor diesem Hintergrund ausdrücklich Bedenken angemeldet.
Die Betreiber von Einkaufszentren stehen vor einer weiteren Herausforderung: Dass sich pro 20 Quadratmeter nur eine Person aufhalten darf, ist sinnvoll. Dass die Betreiber zusätzlich dafür sorgen müssen, dass sich nicht mehr als 10 Personen in Wartebereichen aufhalten, ist hingegen praktisch kaum durchführbar und gerade in größeren Malls nicht einzusehen.
Der stationäre Einzelhandel wird geschwächt, der Online-Handel gestärkt
Mögen die bisherigen Maßnahmen grundsätzlich Zustimmung verdienen, so ist spätestens die nunmehr eingeführten Verkaufsflächenbegrenzung kritisch zu beurteilen. Das stadtplanerische Ziel wird geradezu in sein Gegenteil verkehrt: statt den stationären Einzelhandel und die Innenstädte zu stärken, befördern die Restriktionen den Onlinehandel und führen zu einem Aussterben der Innenstädte. Zugleich setzt sich der Staat einem erheblichen finanziellen Risiko aus: Erweisen sich die Maßnahmen nachträglich als rechtswidrig, ist der Staat schadensersatzpflichtig. Die Maßnahmen verzerren daher nicht nur rechtswidrig den Wettbewerb, sondern könnten bei unveränderter Fortgeltung zu erheblichen finanziellen Einbußen für das Land Berlin führen.
Dr. Mathias Hellriegel ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verwaltungsrecht in Berlin. Er betreut zahlreiche Immobilienprojekte in Berlin, insbesondere auch die HGHI mit der „Mall of Berlin“ und dem „Schultheiß Quartier“.
Mathias Hellriegel
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