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Akkordeonspieler, Architekt, Stadtplaner. Daniel Libeskind lebte von 1989 bis 2003 in Berlin. Heute ist er wieder in New York zu Hause.
©  Urs Kuckertz

Daniel Libeskind über Berlin: "Das neue Areal rund um den Hauptbahnhof ist schrecklich"

Eckig, kantig, herausfordernd: So sind die markanten Gebäude des amerikanischen Architekten und Stadtplaners Daniel Libeskind. In Berlin vermisst er heute Fantasie, Kreativität und Hochhäuser bei der Stadtplanung. Ein Interview

Nachhaltige Stadtentwicklung ist zu einem Trendthema geworden. Was bedeutet Nachhaltigkeit für Sie?

Traditionell ist ein nachhaltiges Gebäude ein Bau, der aus guten Materialien errichtet wurde, gut ausgerichtet war und dessen Flächen sich in der Zukunft umnutzen ließen und der schließlich auch erinnerungswert war, dessen Erhalt wichtig war. Aber ich würde sagen, dass heute Nachhaltigkeit komplett anders gedacht werden muss. Sie sollte als bezahlbarer Wohnraum begriffen werden. Denn was ist Nachhaltigkeit? Eine Stadt, die funktioniert.

Und wenn man nicht in der Lage ist, eine Gesellschaft hervorzubringen, in der Reiche und Arme nicht in Ghettos getrennt voneinander leben, dann muss man ausreichend bezahlbaren Wohnraum schaffen, um die Stadt selbst nachhaltig zu machen. Anderenfalls wird die Stadt künftig nicht erhalten bleiben. Wir sehen den Zusammenbruch von Städten in vielen Teilen der Welt, weil es nicht genügend Wohnraum gibt, den sich die Menschen leisten können. Ich würde also sagen, dass sich im 21. Jahrhundert die Bedeutung von Nachhaltigkeit in der Stadtentwicklung gewandelt hat und dass es heute um bezahlbaren Wohnraum geht.

Welche Rolle spielen dabei Architekten?

Architekten allein können das nicht. Wir brauchen in erster Linie aufgeklärte Politiker. Wir brauchen eine Zivilgesellschaft, die soziale Gerechtigkeit fordert. Wir brauchen eine Führung, die nicht nur über Chancen spricht, sondern Menschen in der Stadt wirklich die Möglichkeit gibt, zur Stadt beizutragen. Menschen wollen in Städten leben, weil sie ihrem Wesen nach kreative Orte sind. Und Architekten können dazu beitragen, wenn man Wohnraum genauso viel Aufmerksamkeit schenkt wie öffentlichen Gebäuden oder Museen. Dabei sind Wohnhäuser vom Typus her sehr viel schwieriger, weil sie für jeden bezahlbar sein müssen, jeden Wohnstil ermöglichen und gleichzeitig die Lebensqualität erhöhen und schön sein müssen.

Dabei folgt nachhaltiger Wohnungsbau nicht überall auf der Welt einem universellen Schema. Man muss einen Bezug zum Ort haben, wo man baut. Wenn man in China baut, in Berlin, New York oder Mumbai, muss man die lokalen Traditionen bedenken, lokale Technologien und vor allem die lokale Kultur, um architektonische Ideen zu entwickeln, die tatsächlich implementiert werden können und keine Gimmicks sind.

Sie sagten einmal, dass eine demokratische Gesellschaft eine pluralistische Architektur braucht. Was meinen Sie damit?

Pluralistische Architektur meint Meinungsfreiheit. Wir brauchen Toleranz. Wir haben ja gerade gesehen, was in Paris mit den Karikaturisten passiert ist. Ich mag Vielfalt. Nicht so wie Ludwig Hilberseimer (Der Architekt und Stadtplaner lehrte u.a. am Bauhaus, Anm. d. Red.), der meinte, dass eine Stadt aus einheitlichen Blöcken bestehen sollte. Das ist tödlich. Er und auch andere Architekten wie Le Corbusier dachten, dass die beste Architektur funktional ist, wo jeder in einer kleinen Box lebt. Aber das ist keine vielfältige Stadt. Das ist ein Albtraum. Um Pluralität zu erzeugen, muss man Vielfalt und Unterschiede zulassen. Etwas, das für uns normal ist, ist es für andere nicht. Ich glaube, das ist es, was großartige Städte in der Vergangenheit gemacht haben. Sie haben diese Vielfalt zugelassen, diesen Reichtum an Platz, diesen Charakter von vielfältigem Leben in schönen Straßen.

"Berlin scheint heute Malmö nachzueifern"

Akkordeonspieler, Architekt, Stadtplaner. Daniel Libeskind lebte von 1989 bis 2003 in Berlin. Heute ist er wieder in New York zu Hause.
Akkordeonspieler, Architekt, Stadtplaner. Daniel Libeskind lebte von 1989 bis 2003 in Berlin. Heute ist er wieder in New York zu Hause.
©  Urs Kuckertz

Wie bewerten Sie in diesem Zusammenhang die Neubauprojekte in Berlin?
Wissen Sie, mit ein paar Ausnahmen, sind Projektentwickler nur daran interessiert, Geld zu verdienen. Aber das ist eben nicht genug für eine kulturelle Idee von Stadt. Ich möchte aber genauso wenig, dass Städtebau nur von Regierungen bezahlt wird. Was wir brauchen sind öffentlich-private Partnerschaften, die den Sinn und den Nutzen einer guten und schönen Stadt für alle erkennen.

Schönheit ist etwas, worüber heute keiner mehr spricht. Schönheit verschwindet. Aber es gibt sie tatsächlich, die schöne Stadt, das schöne Gebäude, das schöne Fenster, einen wunderschönen Sinn für Fantasie. Städte müssen keine uniformen, formalistischen Orte sein, denn egal wie detailliert sie geplant werden, am Ende saugen sie einem die Seele aus dem Leib, weil es keinen Raum gibt, um etwas Neues zu kreieren.

Öffentlicher Raum ist ein Schlüssel. Schon in der Vergangenheit war öffentlicher Raum wichtiger als privater Raum. Leider werden öffentliche Räume aber von Bürokraten bestimmt. Das war mal anders. In der Renaissance haben Künstler wie Michelangelo oder Raffael öffentliche Plätze gestaltet. Heute entwerfen vielleicht Architekten Gebäude, aber die echten Masterpläne werden von Technokraten und Bürokraten entwickelt.

Berlin ist ein gutes Beispiel dafür. Ich meine, Berlin hat eine großartige Bevölkerung. Aber wenn man sich die Architektur anschaut, frage ich mich: Soll mich das inspirieren? Immer die gleichen Gebäude, immer die gleichen vertikalen Fenster. Diese Stadt wird von ihrer eigenen Entwicklung erstickt, wenn sie nicht aufhört und merkt ,Hey, wir sind Berlin! Wir sollen doch eine kreative Stadt sein.’ Ob also am Spittelmarkt, rund um den Hausvogteiplatz oder auf der Stralauer Insel, diesen neuen Quartieren fehlt es an Leben.

Warum?
Die meiste Architektur entsteht heute am Computer. Sie wird in einer virtuellen Realität entwickelt und sehr bald wird sie eine vollkommen robotische Erfahrung sein, wo man am Bildschirm Figuren einsetzt, wo Dinge nur noch am Bildschirm gemessen werden. Wir laufen also Gefahr, wenn wir das Bewusstsein für Architektur als Kunst, als öffentliche Kunst, nicht zurückbringen, dass wir nur noch Städte haben, die in Renderings perfekt aussehen, aber schrecklich sind, um darin zu leben.

Daniel Libeskind beklagt fehlende Kreativität in der Entwicklung Berlins: "Immer die gleichen Gebäude, immer die gleichen Fenster."
Daniel Libeskind beklagt fehlende Kreativität in der Entwicklung Berlins: "Immer die gleichen Gebäude, immer die gleichen Fenster."
© Urs Kuckertz

Der Potsdamer Platz ist auch so ein Beispiel. Wo ist die Betriebsamkeit und Lebenslust, die man wiedererwecken wollte? Der Platz ist steril. Wir brauchen also einen anderen Sinn dafür, was den Wert einer Stadt ausmacht. Man muss offene, partizipatorische Diskussionen mit den Bürgern führen, anstatt zu versuchen, sie auszusperren. Man muss die Menschen einladen, die Planer zu fragen, warum sie dies oder das entwickeln. Auch Menschen von anderswo, aus dem Sudan, aus China, aus Indien sollen an der Diskussion teilhaben. Demokratie ist hier der Schlüssel.

Berlin verbietet zum Beispiel Hochhäuser. Aber ich glaube, dass das ein schrecklicher Fehler ist, denn Berlin hat ja in den 20er Jahren mit New York konkurriert. Berlin war eine innovative Stadt, aber heute scheint sie eher Malmö nachzueifern. Das ist okay. Ich habe nichts gegen Malmö. Aber das ist nicht die Ambition einer Hauptstadt, die eine führende Rolle als kreative Stadt hat. Berlin sollte verstehen, dass man, wenn man Nachhaltigkeit schaffen will, eine hohe Verdichtung im Zentrum braucht. Das ist ganz fundamental.

Aber der allgemeine Diskurs hier dreht sich um das Schloss. Wie enttäuschend für eine Gesellschaft, die Goethe, Schiller, von Humboldt und Scharoun hervorgebracht hat. Was ist aus Berlin geworden? (lacht). Nein, Berlin ist eine großartige Stadt. Verstehen Sie mich nicht falsch. Aber ich glaube, die Menschen in der Welt erwarten einfach mehr von Berlin. Das gilt auch für die Altstadt am Roten Rathaus. Ich kann verstehen, dass Menschen nostalgisch sind und dass sie der Vergangenheit mehr trauen als der Zukunft. Aber das sollten sie in Berlin nicht.

Akkordeonspieler, Architekt, Stadtplaner. Daniel Libeskind lebte von 1989 bis 2003 in Berlin. Heute ist er wieder in New York zu Hause.
Akkordeonspieler, Architekt, Stadtplaner. Daniel Libeskind lebte von 1989 bis 2003 in Berlin. Heute ist er wieder in New York zu Hause.
©  Urs Kuckertz

Gehören Hochhäuser zur Berliner Baukultur?
Wir sprechen hier ja nicht über Höhe oder darüber, das höchste Gebäude der Welt zu bauen. Es geht um Balance, die eine Stadt braucht. Und eine Stadt muss ein starkes Zentrum entwickeln. Ich denke, darin liegt auch das Versagen von Paris, als man hohe Verdichtung nach La Défense (ein modernes Hochhausviertel westlich des Stadtzentrums, Anm. d. Red.) ins Exil schickte. Damit hörte Paris auf, die Stadt zu sein, zu der wir geschaut haben.

London ist interessant. London hatte nichts dagegen, in der Nähe von St. Pauls zu bauen. Die Stadt entwickelt sich wirtschaftlich, sie entwickelt sich kulturell und zieht ganz viele Ausländer an. Das ist eine Stadt, die nicht abstrakte Gesetze erlässt, sondern der Stadt ermöglicht, sich zu entwickeln. Verstehen Sie mich nicht falsch. Paris ist eine wunderschöne Stadt, aber eher so wie Venedig, eine Stadt der Vergangenheit, eine museale Stadt. Und versuchen Sie mal nach La Défense zur Arbeit zu fahren. Was für ein fehlgeschlagenes Experiment. Wer will denn überhaupt so etwas wie La Défense haben?

"Tempelhof ist ein Beispiel dafür, dass Menschen Politiker ablehnen"

Besteht die Gefahr, dass etwas Ähnliches in Berlin passiert?
Nein. Berlin ist eine sehr, sehr flächige Stadt, sehr dezentralisiert, was gut ist, weil sie viele Grünflächen hat. Als polyzentrische Stadt muss man aber diese Zentren entwickeln. Man muss ein ökologisches Verständnis für die Stadt entwickeln, anstatt darüber zu streiten, ob ein Gebäude zu hoch ist oder nicht. Das erscheint mir einfach als Zeitverschwendung.

Und wie sehen Sie die Situation am Tempelhofer Feld?
Ich glaube, Tempelhof ist ein sehr gutes Beispiel dafür, dass Menschen Politiker ablehnen. Ich glaube, sie vertrauen ihnen einfach nicht mehr. Sie kennen die Fiaskos, sie kennen die Situation am Flughafen und sie glauben Politikern einfach nicht mehr.

Würden Sie das Feld bebauen?
Natürlich. Nicht, dass ich das jetzt in genaue Worte fassen kann, aber man kann diese unglaubliche Fläche nutzen. Ich bin kein Fan davon, ein Nazi-Gebäude zum Denkmal zu machen. Ich würde sagen, es ist interessant, aber es steht nicht im Mittelpunkt meiner Aufmerksamkeit. Man könnte also eine Art Verbindung herstellen und etwas Interessantes, das es in dieser Form in Berlin noch nicht gibt. Ein Dialog an einem großartigen Ort in Berlin. Städte müssen für so etwas bereit sein, sonst verpassen sie ihre Chance.

Chance ist ein gutes Stichwort. Wie beurteilen Sie die Entwicklung rund um den Hauptbahnhof?
Das ist ein schreckliches Areal. Wirklich schrecklich. Und es ist auch schon so spät in der Entwicklung, nachdem diese ganzen lächerlichen Inseln gebaut wurden. Gebäude ohne Charakter, ohne Ideenreichtum. Das ist das Ergebnis, das typisch ist für instrumentalisierte Bürokratie in der Planung, wo alles auf dem Papier logisch erscheint, aber wo keiner über die Stadt als Kunstwerk nachdenkt. Wir müssen Schönheit haben, Proportionen und Aktivitäten, die Entwicklung fördern, nicht nur ökonomisch, sondern auch mental. Das ist der Grund, warum Menschen noch heute in Scharen nach Florenz oder in andere alte Städte fahren. Sie finden dort etwas, was ihnen zu Hause fehlt. Sie finden dort diese humanistische Idee von Architektur, wo es um die Sterne geht, um Seesterne, um Musik, um Geometrie und Literatur. Es geht eben nicht um Menschen am Computer. (lacht)

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