Milieuschutz: Berlin wird zum Milieuschutzgebiet
Berlins Bezirke stellen immer mehr Kieze unter Schutz. Kreuzbergs Baustadtrat will die Flächenquote auf sechzig Prozent anheben.
Berlins Projektentwickler, Bauunternehmer und Makler sind aufgeschreckt: Die Dynamik bei der Ausweisung von Milieuschutzgebieten nimmt seit dem Amtsantritt der neuen Landesregierung und nach den Bezirksamtswahlen im September 2016 zu. Könnte bald ganz Berlin zum Milieuschutzgebiet werden? Vielleicht nicht ganz, noch nicht. Doch Friedrichshain-Kreuzberg immerhin könnte zu einem Bezirk der Unbeugsamen werden. Die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) will sich im Mai mit einem Antrag des SPD-Bezirksverordneten John Dahl beschäftigen: „Das Bezirksamt wird beauftragt, unverzüglich weitere soziale Erhaltungsgebiete für den gesamten Bezirk auszuweisen. Die BVV ist über den Fahrplan zur Festsetzung in Kenntnis zu setzen. Nach Auffassung der BVV sind u.a. die Gebiete Mehringplatz, askanisches Viertel, Andreasviertel, Traveplatz und Barnimkiez, usw. zu betrachten.“
Dürfen die das – die Ausnahme zur Regel machen?
„Rechtlich gesehen ist es nicht denkbar, den ganzen Bezirk in einem Rutsch unter Milieuschutz zu stellen“, sagt auf Anfrage Florian Schmidt (Bü90/Die Grünen), Baustadtrat von Friedrichshain-Kreuzberg. Aber er arbeite daran: „Ob dies sukzessiv erfolgen wird, kann nicht vorhergesehen werden.“ Aktuell sei Methodik der Untersuchungen, die der Festsetzung vorausgehe, eine „Insichbetrachtung“ der Verhältnisse im Bezirk. „Ich arbeite nun daran, auch eine berlinweite vergleichende Betrachtung einzuführen“, sagt Schmidt: „Diese wäre auch die Voraussetzung, dass mittelfristig nahezu der gesamte Bezirk unter Milieuschutz steht.“ Es werde aber immer Areale geben, die ausgeschlossen bleiben, wie zum Beispiel große Gewerbekomplexe oder Areale mit Eigentumswohnungen oder Neubauten mit sehr hohen Mieten. „Aktuell prüfen wir die Ausweitung von zirka vierzig Prozent der Fläche des Bezirks auf zirka sechzig Prozent“, kündigt Schmidt an.
In Milieuschutzgebieten ist die Umwandlung von Miet- zu Eigentumswohnungen genehmigungspflichtig
Die sozialen Erhaltungsverordnungen haben gemäß Paragraf 172 Abs.1 Satz 1 Nr. 2 Baugesetzbuch zum Ziel, die Zusammensetzung der Wohnbevölkerung in einem Gebiet aus besonderen städtebaulichen Gründen zu erhalten und einer sozialen Verdrängung entgegenzuwirken bzw. vorzubeugen. In Milieuschutzgebieten ist die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen gemäß Umwandlungsverbotsverordnung genehmigungspflichtig und nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässig. Besonders wichtig: Eigentümer in Milieuschutzgebieten sind verpflichtet, innerhalb von sieben Jahren ab der Begründung von Wohnungseigentum Wohnungen nur an die Mieter zu veräußern. Weil Vermieter die Möglichkeit haben, sich in Milieuschutzgebieten zu verpflichten, umgewandelte Eigentumswohnungen für sieben Jahre nur an Mieter zu veräußern, um die Genehmigung zur Umwandlung zu erhalten, plädiert der Berliner Mieterverein für die Abschaffung dieser Ausnahmegenehmigung.
Vor der Wahl – und ähnlich wie die SPD – wollten die Grünen einen Fonds schaffen, damit die Bezirke in Milieuschutzgebieten bei Immobilien-Transaktionen ihr Vorkaufsrecht einfacher nutzen können. Die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen sollte möglichst stadtweit genehmigungspflichtig werden, finden sie.
Dass mehr und mehr Milieuschutzgebiete ausgewiesen werden, liegt also insgesamt im Plan. Im Koalitionsvertrag der rot-rot-grünen Landesregierung heißt es: „Mieter*innen sollen besser vor den Folgen von Immobilienspekulation, Luxussanierung und Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen geschützt werden. Die Koalition unterstützt stadtweit die Ausweisung von sozialen Erhaltungsgebieten. Mit dem Monitoring Soziale Stadt sollen Empfehlungen für Gebietsausweisungen gegeben werden.“
Grundrissänderungen könnten in Pankow unerwünscht sein
Die Immobilienwirtschaft ist wenig amüsiert. In einem Hintergrundpapier beklagt ein Berliner Makler: „Das Baugesetzbuch ist kein Instrument zum Mieterschutz, sondern dient dem Erhalt der jeweiligen städtebaulichen Eigenheiten. In Berlin wird aktuell mehr oder weniger offen eine Zweckentfremdung des sozialen Erhaltungsrechts betrieben, um Mieter zu schützen – die städtebaulichen Gründe, die für den Erlass einer Erhaltungssatzung notwendig sind, werden nur pro forma nachgewiesen.“ In Ermangelung von belastbaren Voruntersuchungen würden Gebiete innerhalb weniger Tage von einer unkritischen „Go-Area“ zu einer absoluten „No-Go-Area“ für Modernisierung und Umwandlungen.
Milieuschutzgebiete gibt es in Berlin bereits seit rund 15 Jahren, vor allem in Pankow. Ihr tatsächlicher Nutzen ist nicht eindeutig auszumachen und dürfte wissenschaftlich kaum nachweisbar sein. In einem seit längerem bestehenden Milieuschutzgebiet wie dem Helmholtzplatz in Prenzlauer Berg zum Beispiel gibt es überwiegend einkommensstarke Haushalte. Die Angebotsmieten liegen hier deutlich über dem Berliner Durchschnitt.
Rund vierzig derartige Gebiete sind laut Erhebungen der Industrie- und Handelskammer zu Berlin (IHK) inzwischen berlinweit ausgewiesen. Pankow treibt die Zahl aktuell weiter nach oben. „Meines Erachtens liegen wir mit den Gebieten, die wir derzeit untersuchen, also hauptsächlich Weißensee und Pankow-Süd, richtig“, sagt Pankows Baustadtrat Vollrad Kuhn (Bü90/Die Grünen) auf Anfrage. In Pankow könnte es sogar so weit kommen, dass nur noch „Modernisierungen light“ im Altbestand vorgenommen werden dürfen.
Die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen, Linke und SPD möchten Sozialplanverfahren für Modernisierungsmaßnahmen zur Anpassung an den allgemeinen Standard einführen. Veränderungen der Wohnungsgrundrisse sollen nur erlaubt werden, „wenn über ein Sozialplanverfahren geregelt ist, wie die in dem Gebäude mit Erstwohnsitz vorhandenen Mietparteien in der von ihnen bewohnten Wohnung, dem Wohngebäude oder in unmittelbarerer Umgebung zu auf ihre sozialen und finanziellen Belange abgestimmten Konditionen verbleiben können“.
Jürgen Michael Schick, Präsident des Immobilienverbandes IVD, hält solche Regelungen für absurd. „In Milieuschutzgebieten kann es Wohneigentümern beispielsweise verboten werden, eine Trennwand zwischen Bad und Toilette zu entfernen, um ihr Badezimmer zu vergrößern. Solch eine Bevormundung trägt nicht zum sozialen Zusammenhalt in Quartieren bei, sondern fördert nur das Denunziantentum.“ Die ständige Ausweitung neuer Milieuschutzgebiete sei „nicht förderlich für den Berliner Wohnungsmarkt“. Dringend benötigte Investitionen in die Instandhaltung und den Wohnungsneubau blieben durch diese einseitige Politik aus.
Auch Marion Haß, Geschäftsführerin Wirtschaft & Politik in der IHK Berlin, hält wenig von dem Treiben auf Bezirksebene. „Milieuschutzgebiete, die in die Eigentumsverhältnisse von Unternehmen und Eigentümern eingreifen, sind kein sinnvolles Instrument der Stadtentwicklung“, sagte sie auf Anfrage. Die Maßnahme ziele lediglich auf die Erhaltung des Status Quo ab und verhindere die Sanierung von Gebäuden und die nachhaltige Entwicklung von ganzen Stadtquartieren. „Die Bezirksverwaltungen in Berlin müssen die Rahmenbedingungen dafür schaffen, zeitgemäßes Bauen und Sanieren zu ermöglichen und nicht zu behindern.“