Übergriffe bei der Arbeit: Gewalt gegen Beschäftigte im Öffentlichen Dienst nimmt zu
Im vergangenen Jahr wurden rund 72.000 Polizisten Opfer von Gewalttaten im Dienst, elf Prozent mehr als im Jahr zuvor. Auch bei der Bahn stieg die Zahl der Übergriffe. Gewerkschaften fordern nun mehr Personal.
Ein Außendienstmitarbeiter des Ordnungsamtes wurde, als er ein Auto aus dem Verkehr ziehen wollte, von der schwangeren Halterin und deren Ehemann geschlagen und gewürgt. Im Jobcenter rastete ein Mann aus, schmiss Teile der Büroeinrichtung aus dem Fenster im dritten Stock und traf den Arbeitsvermittler mit einem Karate-Tritt am linken Oberarm. Ein Lokomotivführer der Deutschen Bahn bekam es mit der Angst, als ein Kunde sich über eine Zugverspätung aufregte, am Gleis schrie: „Drecksbundesbahn, wo seid ihr? Ich bring euch alle um! Euch müsste man alle abschlachten und ausbluten lassen!“ Dabei fuchtelte er mit einem Klappmesser herum.
Das sind drei Berichte, die auf der Internetseite der Kampagne „Gefahrenzone Öffentlicher Dienst“ gesammelt werden. „Beschimpft, geschlagen und mit Fäkalien beworfen – was Beschäftigte im Öffentlichen Dienst über sich ergehen lassen müssen, nur weil sie ihren Job machen, ist schockierend“, heißt es dort. Und: Die Hemmschwelle, übergriffig zu werden, sinke immer mehr.
72.000 Polizisten Opfer von Gewalttaten im Dienst
Im vergangenen Jahr wurden rund 72.000 Polizisten in Deutschland Opfer von Gewalttaten im Dienst, das waren elf Prozent mehr als im Jahr zuvor. Bei der Deutschen Bahn stieg die Zahl der Übergriffe im Vergleich zum Vorjahr sogar um fast 30 Prozent auf 2300. Nahezu jeder zweite Lehrer berichtete in einer Forsa-Umfrage über verbale Attacken von Eltern und Schülern, etwa ein Fünftel sogar über physische Gewalt.
Zwar kommen mehrere Studien zu dem Schluss, dass die Respektlosigkeit und Aggression gegenüber Beschäftigten im öffentlichen Dienst zunimmt. Erklärungen dafür gibt es aber kaum. Deswegen sind Experten für eine intensive Ursachenforschung. In Berlin hat der rot-rot- grüne Senat im Koalitionsvertrag zumindest vereinbart, ein „Lagebild Gewalt gegen Polizisten“ zu erstellen. Neben statistischen Zahlen soll es Erkenntnisse zu den Motiven der Täter liefern und die Situationen beschreiben, in denen Polizisten angegriffen werden.
Soziologe warnt vor Normalisierungsprozessen
„Gewalt ist immer eine Machtdemonstration“, sagt der Soziologe Wilhelm Heitmeyer. Gegenüber Polizisten, die jemanden maßregeln; gegenüber Jobcenter-Mitarbeitern, die eine als ungerecht empfundene Sanktion verhängen. Gefährlich werde es, wenn sich Bürger als Opfer sähen. Damit schaffe sich jemand „eine moralische Überlegenheit, um daraus eine Selbstermächtigung zu ziehen, Normen zu überschreiten“, erklärt der Soziologe. Was ihn besorgt, seien die schleichenden Normalisierungsprozesse. „Wenn etwas als normal angesehen wird, dann wird es in der Gesellschaft nicht mehr problematisiert.“
Wer das Thema immer wieder öffentlich macht, um eben das zu verhindern, sind die Gewerkschaften. „Jeder Übergriff ist einer zu viel und muss verhindert werden“, sagte Reiner Hoffmann, Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB), Ende vergangene Woche bei einer Fachtagung in Berlin. Die Dienstherren dürften das Thema nicht länger tabuisieren und die Mitarbeiter alleinlassen. „Die Grenzen des Erträglichen sind weit überschritten.“
In diesem Zusammenhang kritisierte Hoffmann die Sparpolitik der vergangenen Jahre – und den damit verbundenen Stellenabbau. 2016 arbeiteten laut dem DGB-Personalreport 4,65 Millionen Personen im öffentlichen Dienst – mehr als zwei Millionen weniger als 1991. Aktuelle Schätzungen gehen davon aus, dass dem Staat 110 000 Bedienstete fehlen. Und das spüren die Menschen, wenn sie beim Amt ewig auf einen Termin warten oder wenn Strafverfahren eingestellt werden, weil die Staatsanwaltschaft überlastet ist.
Man wisse, dass die Beschäftigten oft am Rande ihrer Kapazitäten arbeiten. „Allein bei der Polizei gehen die angesammelten Überstunden in die Millionenhöhe“, sagte Hoffmann. „Aber nicht nur die personelle Ausstattung, sondern auch die technische Ausstattung ist katastrophal.“ Die Schutzkleidung sei „vollkommen überaltert“. Und das in Zeiten zunehmender Gewalt und einer hohen terroristischen Anschlagsgefahr.
Gesetz ahndet Gewalt gegen Polizisten künftig härter
Wie gestresst die Beschäftigten im öffentlichen Dienst sind, zeigt eine Sonderauswertung des DGB-Index „Gute Arbeit“. Die Mehrheit der Befragten fühlt sich oft gehetzt, was vor allem am Personalmangel liege. Fast neun von zehn sehen sich oft bis sehr oft psychisch oder emotional belastet. Diese Quote sei höher als bei Arbeitnehmern im nicht-öffentlichen Bereich, heißt es beim DGB. Mit der Folge, dass die Hälfte der Beschäftigten sich häufig erschöpft fühlt. Vier von zehn können in ihrer Freizeit nicht abschalten. Fast ebenso viele vernachlässigen Familie und Freunde. Und während Beschäftigte in Deutschland im Schnitt 15,2 Tage im Jahr fehlen, fallen Mitarbeiter im öffentlichen Dienst an 20,25 Tagen krankheitsbedingt aus.
Wenn die Anforderungen so bleiben, wie sie jetzt sind, kann sich nur jeder Zweite vorstellen, bis zum Rentenalter durchzuhalten. Von den Über-55-Jährigen sagen das in der DGB-Umfrage 42 Prozent.
DGB: Mehr Personal, weniger Befristungen
Für Hoffmann gehört das Thema deswegen auf die politische Agenda. Er fordert mehr Personal und das Ende der sachgrundlosen Befristungen von Arbeitsverträgen. Auch der Bundesvorsitzende des Beamtenbundes (dbb), Klaus Dauderstädt meint, der Staat solle sich personell stärken. Es gebe Aufgabengebiete, in denen der Umgang mit Kriminalität zum Job gehöre: Polizei, Justiz, Strafvollzug. Aber mittlerweile seien auch Schule und Finanzamt „keine heile Welt mehr“. „Wir wollen nicht alle Verwaltungen zu Festungen ausbauen“, sagte Dauderstädt. Mit roten Alarmknöpfen unter dem Schreibtisch. „Aber wenn jemand morgens mit Angst zur Arbeit geht, ist etwas nicht mehr in Ordnung in diesem Land“, meinte der dbb-Vorsitzende.
Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) entgegnete den Vorwürfen der Gewerkschaften bei der Fachtagung mit dem Hinweis, dass zusätzliche Stellen im Polizeidienst geschaffen würden. Zum Thema Gewalt meinte er, dass es dafür keine Entschuldigung gebe – und zitierte einen Polizisten: „Dann ist es normal, dass man als Nazi bezeichnet wird, selbst wenn man eine normale Verkehrskontrolle macht.“ Über solche Beleidigungen sehe er schon längst hinweg, habe der Mann berichtet. De Maizière versprach: „Ich werde als Bundesinnenminister darüber nicht hinwegsehen. Übergriffe gegen Beschäftigte des öffentlichen Dienstes dürften nicht zum Alltag gehören.“
Härtere Strafen bei Angriffen von Polizisten
Aus diesem Grund habe die Bundesregierung kürzlich auch ein Gesetz beschlossen, das Gewalt gegen Polizisten härter ahndet. So sollen Angriffe in Zukunft auch bei einfachen „Diensthandlungen“ wie Streifenfahrten oder Unfallaufnahmen mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden können. Bisher galt ein Angriff nur als solcher, wenn er bei sogenannten Vollstreckungshandlungen geschah, zum Beispiel bei einer Festnahme. Als Mindeststrafe sind drei Monate vorgesehen. Die Neuerung gilt ebenso für Helfer von Feuerwehr, Katastrophenschutz und Rettungsdiensten. In diesem Frühjahr wurde außerdem gesetzlich festgelegt, dass Bundespolizisten Bodycams tragen dürfen.
Die Deutsche Bahn testet die kleinen Körperkameras ebenfalls – sowie eine spezielle Notfall-App für die Mitarbeiter. Das Unternehmen bietet ihnen Deeskalationstrainings und Selbstverteidigungskurse an. Außerdem will die Bahn 500 neue Sicherheitsmitarbeiter einstellen, die in Zügen und an Bahnhöfen arbeiten. Bei allen Bemühungen meint der Wissenschaftler Heitmeyer allerdings: „Eine gewaltfreie Gesellschaft hat es noch nie gegeben und wird es auch nicht geben.“
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