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Andreas Geisel, Senator für Inneres und Sport.
© picture alliance / dpa

Polizei in Berlin: Terroristen, Dealer und sinkende Aufklärungsquote

Alte Technik, erkrankte Beamte, kaum Nachwuchs. Und ein Staatsschutz, der Akten manipuliert? Der Zustand der Berliner Polizei setzt Innensenator Geisel unter Druck. Plötzlich wird Rot-Rot-Grün an der Sicherheitspolitik gemessen.

Als Andreas Geisel im gepanzerten Dienstwagen durch die Berliner Dämmerung fährt, am S- und U-Bahnhof Neukölln ankommt, zurückhaltend die Bezirksbürgermeisterin begrüßt, die Junkies und Dealer betrachtet, sich herumliegende Heroinspritzen zeigen lässt, da tun einem die Anwohner leid. Und Andreas Geisel.

„Wer iss’en diss?“, fragt ein Jugendlicher im Trainingsanzug und zeigt auf Geisel, der inmitten des Trosses steht, umringt von drei Personenschützern. „Muss isch den Mann kennen?“

Für Berlin hängt von diesem Mann mehr ab als von den meisten seiner Amtsvorgänger. Vor nicht allzu langer Zeit war Geisel, 51 Jahre, SPD, noch Bausenator. Seit Dezember leitet er das Innenressort und damit Deutschlands größte Polizei.

Dass er an diesem Wochenende Neukölln besucht, liegt daran, dass Bezirksbürgermeisterin Franziska Giffey den Senator seit Wochen drängt, sich das Elend dort anzuschauen. Dabei hat Geisel gerade eine selbst für Innensenatoren strapaziöse Woche hinter sich.

Erst wurde im Volkspark Friedrichshain ein Informatiker erstochen, womöglich weil er homosexuell war. Am Dienstag töteten Maskierte den Statthalter eines arabischen Clans zwischen Britzer Einfamilienhäusern. Am Donnerstag erstach in Reinickendorf ein Mann seine Bekannte. Am Freitag suchte ein Spezialeinsatzkommando einen Bosnier, der seine Frau ermordet haben soll.

Die Bundesregierung verlangt Aufklärung

Am brisantesten jedoch war der Mittwoch: Da zeigte Geisel Ermittler des Landeskriminalamts, also seine Untergebenen, wegen Strafvereitlung im Amt und Urkundenfälschung an. Staatsschützer hätten demnach den späteren Attentäter Anis Amri als gewerbs- und bandenmäßigen Drogenhändler verhaften können, ihn stattdessen jedoch als Kleindealer abgetan. Säße der Asylbewerber in Haft – das Massaker am Breitscheidplatz wäre womöglich verhindert worden. Die Bundesregierung verlangt Aufklärung.

Nun steigt der Druck nicht nur auf Geisel, sondern die rot-rot-grüne Koalition. An diesem Montag muss sich der Senator in einer Sondersitzung des Innenausschusses im Abgeordnetenhaus rechtfertigen. Er muss auch entscheiden, welche seiner Spitzenbeamten – sollte es die politische Lage erfordern – versetzt, gar suspendiert werden. Und er muss sagen, wie er die Polizei für die rasant wachsende Stadt rüstet. Zeigt Geisel nicht, dass er anpacken wird, könnten CDU, AfD, FDP versuchen, den Senat nach dem Abgang des Baustaatssekretärs Andrej Holm ein zweites Mal zu demontieren.

„Ah, krass! Der ist Innensenator“, sagt der Jugendliche im Trainingsanzug. „Der soll was tun. Die Dealer machen Ärger in der ganzen U-Bahn, hoch und runter.“ Eigentlich ist er auf dem Heimweg, aber jetzt hört er nicht mehr auf, sich über diejenigen Araber zu beschweren, die den Drogenhandel kontrollierten und Flüchtlinge für die Straßenarbeit anheuerten. Eine Beobachtung, die Polizisten bestätigen. „Das ist auch blöd für mich“, sagt der Junge. „Ich meine, so als Türke.“ Dann schiebt er nach: „Ich mache ’ne Ausbildung, bei Lidl! Gut, oder?“

Die Dealer in Neukölln bestaunen den Tross um den Innensenator

Senator Geisel wird in den U-Bahnhof geführt, zwei Dealer der einschlägig bekannten Familie E. stehen an der U7 und bestaunen den Tross. Sie bleiben ungerührt. Wobei die beiden wohl keine Drogen mitführen, das überlassen sie anderen – sie sind Zwischenhändler und Aufpasser für die Endverkäufer. Ist ihnen doch egal, wer Innensenator ist.

An diesem Bahnhof trieb sich auch Anis Amri rum. Nur 500 Meter weiter befindet sich die Spelunke, in der er im Juli 2016 andere Dealer mit einem Hammer schlug.

Damals war Wahlkampf. SPD, Linke und Grüne versprachen nicht mehr Sicherheit, sondern Wohnungen, Kultur und Transparenz. Nach der Wahl musste die SPD dann Andreas Geisel drängen, Innensenator zu werden.

Nun wird ausgerechnet Rot-Rot-Grün nicht an der Kulturförderung gemessen, vielleicht nicht mal an den Mieten, sondern an der Sicherheit. Einige sprachen nach dem Attentat von Staatsversagen. Andere von massiver Überforderung. Und wieder andere von falschen Prioritäten. Bislang sind immer noch genug Beamte da, wenn eine Wohnung geräumt werden soll. Einen Tag nach den Morden am Breitscheidplatz rückten 300 Polizisten in die Skalitzer Straße aus, um die Zwangsräumung einer Mietwohnung durchzusetzen.

Rund 60.000 Menschen zogen 2016 nach Berlin. Es gibt öfter Demonstrationen, Regierungsbesuche, Terroralarm. Doch obwohl die Kassen der Stadt damals leerer waren, arbeiteten 2001 noch 18.000 Vollzugskräfte bei der Polizei, heute sind es 16.700.

Tanja, Polizeiobermeisterin - eine von 16.700 Vollzugskräften der Berliner Polizei. Vor der Streife wird die Waffe überprüft.
Tanja, Polizeiobermeisterin - eine von 16.700 Vollzugskräften der Berliner Polizei. Vor der Streife wird die Waffe überprüft.
© Rückeis

Tanja, 40 Jahre, und Oliver, 32, genannt Olli, sind zwei von ihnen. Ein Freitag im April, 20 Uhr, Abschnitt 41, Schöneberg. Im Neonlicht legen Tanja und Olli Schutzweste, Schusswaffe, Taschenlampe, Pfefferspray, Funkgerät an, setzen sich in den Streifenwagen.

Der Schöneberger Norden, 3,16 Quadratkilometer, 58.000 Einwohner, fast 50 Prozent Einwanderer. Berlin in Miniatur: Strich in der Kurfürstenstraße, KaDeWe, Lokale am Winterfeldtplatz, Park am Gleisdreieck. Für Tanja und Olli - beide tragen drei blaue Sterne auf den Schulterstücken, sind also Polizeiobermeister - geht's nach zwei Minuten schon los: Der Fahrer eines Mittelklassewagens missachtet eine Ampel. Olli fährt hinterher, lässt das Auto anhalten, bittet den Fahrer auszusteigen. Drinnen sitzen zwei weitere Männer. Tanja hält Abstand, hat aber alles im Blick und ihre Hand an der Schusswaffe. Einer der Herren murmelt, dass man „als Araber eben kontrolliert“ werde. Woraufhin sein Kumpel sagt: „Ja, aber Leute wie wir machen auch viel Scheiß.“ Olli funkt die Daten des Fahrers in die Zentrale. Kein offener Haftbefehl, schönen Abend noch!

Gangster oder Gotteskrieger - einigen ist egal, womit sie Ärger machen

Früher diente Olli in einer Hundertschaft. Er weiß, worüber sich viele Kollegen aufregen: massenhaft Überstunden, alte Technik, wenig Sold. Rund 300 Euro brutto mehr im Monat bekommt ein Bundespolizist, der eine Ecke weiter am nächsten S-Bahnhof arbeitet. Der Senat will die Tarife dem Bundesschnitt angleichen. Das dauert vielen zu lange, sie klagen vor Gericht. Andere bewerben sich weg, zur Bundespolizei, nach Hamburg oder zum Bundesnachrichtendienst. Für Fachleute für Waffenschmuggel und Islamismus ist das interessant. Der Berliner Polizei fehlen sie dann.

Zwar soll es bald mehr Stellen geben, doch allein in den kommenden Monaten werden 500 Polizisten pensioniert. Und der Nachwuchs fehlt. Den Aufnahmetest schaffen die allermeisten Interessenten nicht. Gleichzeitig wächst eine neue Gangstergeneration heran. Vor zwei Wochen feuerten halbwüchsige Tschetschenen mit einer automatischen Waffe auf eine Weddinger Bar. Deren arabische Gäste schossen zurück.

Polizeiobermeister Olli - einer von 16.7000 Vollzugbeamten - kurz vor der Nachtschicht in Schöneberg.
Polizeiobermeister Olli - einer von 16.7000 Vollzugbeamten - kurz vor der Nachtschicht in Schöneberg.
© Thilo Rückeis

Die Hauptstadt beherbergt Milieus, die so massiv sonst allenfalls im Ruhrgebiet zu finden sind. Es gibt, so schätzen Staatsanwälte, 1000 einschlägig aktive Männer arabischer Clans, 1000 militante Rocker, bald 1000 Salafisten. Die Ermittler kennen Biografien junger Neuköllner, die sich ein paar Jahre lang eine Kutte überziehen, als motorradlose Nachwuchsrocker versuchen, Schutzgeld zu erpressen, dann die Religion für sich entdecken, klerikalfaschistischen Imamen lauschen und nun polizeilich als, tja, als was eigentlich eingestuft werden? „Im Prinzip ist einigen egal, womit sie für Ärger sorgen“, sagte ein hoher Beamter lange vor dem Anschlag am Breitscheidplatz. „Die wollen Eindruck schinden, ob als Gangster oder Gotteskrieger.“

Seit Geisel die Staatsschützer am Mittwoch anzeigte, ärgern sich Beamte über den Senator. Jahrelang werden Stellen gestrichen, so der Tenor, und trotzdem sollen die Behörden mit allem klar kommen: neuen Dealern an Kotti, Hermannplatz, Zoo, massenhaftem Taschendiebstahl, Betrunkenen in den Feierkiezen.

Senator Geisel vermutet, dass sich die Terrorfahnder bei der Observation Amris nicht für Drogen zuständig fühlten. Was Geisel nicht sagt: In der Praxis fragen sich Beamte dauernd, ob sich der Papierkram lohnt. Soll knappe Zeit für einen der ungezählten dealenden Mittzwanziger eingesetzt werden? Werden solche Typen nicht ohnehin schnell entlassen?

Über Funk kommt: "Raub am Gleisdreieck" - der Streifenwagen rast los

Vergangenes Jahr wurden in Berlin nicht mehr Straftaten registriert als 2015. Allerdings sank die Aufklärungsquote von 44 auf 42 Prozent - 2007 lag sie bei 50 Prozent. Und „aufgeklärt“ bedeutet nur, dass es einen Verdächtigen gibt. Den die Justiz allerdings immer seltener verurteilt. Bei den Verfahren, bei denen eine Verfolgung wegen Geringfügigkeit nicht zwingend erscheint, stieg die Zahl von 6890 im Jahr 2012 auf zuletzt 14.779. Das werten viele als Indiz für Überlastung der Justiz. Ein Staatsanwalt bekommt vier bis fünf neue Fälle pro Tag. Und am Landgericht werden extra Beamte benötigt, weil Hochrisikoprozesse bewacht werden müssen. Mordversuch im Umfeld eines arabischen Clans, Mord bei den Hells Angels ...

Im Schöneberger Streifenwagen kommt über Funk: Anwohner sieht Jugendliche auf Dach, vielleicht trinkend, Absturzgefahr. Olli und Tanja beschleunigen. Vor Ort ist niemand. „Wir versuchen, alles zu checken“, sagt Tanja. Um 21.30 Uhr der nächste Funkspruch. Unter 110 wurde ein Raub gemeldet. Olli wendet den Streifenwagen, ab zum Park am Gleisdreieck. Ein Mädchen sagt, ihre Freunde seien beraubt worden. Drei Männer sprachen die zwei Schüler an, gaben sich als Polizisten aus, nahmen Handys, Geld und EC-Karten ab. Anschließend bedrohten sie ihre Opfer dann doch noch mit einem Messer und forderten die Pin-Codes der Telefone. „Nicht, dass jetzt jemand denkt ...“, beginnt einer der Schüler. „Das soll nicht rassistisch klingen, aber die hatten so n Akzent.“

Unter den Berliner Landesbediensteten sind Polizisten am häufigsten krank. 47 Tage im Schnitt pro Jahr. Zur Überlastung in den Wachen kommt, dass es auch an Spitzenpersonal mangelt. Der Senat sucht seit Monaten einen Oberstrafverfolger, also einen neuen Generalstaatsanwalt. Zuständig dafür ist Justizsenator Dirk Behrendt. Der galt als guter Jurist, origineller Solitär, linker Grüner.

In Berlin ermitteln Polizisten öfter gegen Polizisten

Nun ist er Senator, und einige sagen, Behrendt sei vor allem abgehoben. Der Senator wünscht sich Polizei-Vizepräsidentin Margarete Koppers als Generalstaatsanwältin, sie gilt als vergleichsweise liberal - es wäre ein rot-rot-grünes Signal. Doch eine ebenfalls hochqualifizierte, konservative Mitbewerberin möchte den Posten auch. Ob sich Koppers durchsetzen wird, ist nun noch ungewisser. Ein Beamter hat sie angezeigt, weil er durch die Schadstoffe in den maroden Schießständen krank geworden sei. Inzwischen ermitteln in Berlin ziemlich oft Polizisten gegen Polizisten.

Offenkundiger sind andere Pannen. Bei Paraden und Massenfeiern sollen seit dem Breitscheidplatz-Attentat nun Poller die Besucher schützen. Zu Silvester wurden tonnenschwere Klötze an das Brandenburger Tor gefahren. Dabei ging der Polizeikran kaputt, die Poller waren zu schwer. Das Technische Hilfswerk griff ein. Die Panzerwagen der Polizei können, heißt es intern, Kugeln schwerer Maschinenpistolen nicht abhalten. In einigen Wachen holen Beamte alte Möbel für die leeren Teeküchen.

Die Schutzwesten, die das Land seinen Beamten stellt, stören beim Rennen, weil sie schlecht anliegen. Weshalb sich nicht nur Olli für 80 Euro Zusatzhalterungen für die Weste gekauft hat. Manchmal fällt der Funk aus. Im Juli 2016 erschoss in Steglitz ein Patient erst seinen Arzt, dann sich selbst - nur wussten das die Beamten vor Ort noch nicht. In der Klinik suchten sie den Täter, konnten aber nicht mit ihren Kollegen vor dem Haus sprechen. Der Empfang war blockiert. Olli sagt: „Manchmal reicht's, einen Schritt vor- oder zurückzugehen, dann klappt's.“

"Leider Alltag": Zwei Freunde streiten - einer schlägt mit dem Hammer zu

Wieder im Streifenwagen. Die Feuerwehr meldet, ein 27 Jahre alter Mann soll sich mit einem Freund gestritten haben - bis dieser mit einem Hammer zuschlug. Als Tanja und Olli ankommen, liegt das Opfer im Krankenwagen. „Ist leider normal“, sagt Tanja. „Wir haben schon das Gefühl, dass es mehr Irrsinn auf der Straße gibt.“ Auch Sanitäter, Sozialarbeiter, Bahnangestellte berichten davon, klagen über mehr Armut, Obdachlose, psychiatrisch Auffällige.

„Manchmal bin ich überrascht“, sagt Tanja. „Da sitzt einer völlig fertig rum, erzählt dann aber höflich von seiner Doktorarbeit.“ Über Politik wird in dieser Nachtschicht nicht gesprochen. Doch es wird deutlich: Die Befürchtung, Berliner Polizisten könnten massenhaft zu Rechtspopulisten werden, scheint unbegründet. Ein hoher Beamter sagt, er beobachte in seinem Abschnitt penibel, ob AfD-Flyer auftauchen. Die würde er sofort wieder einsammeln.

Uniformiert gehen Olli und Tanja nicht nach Hause. „Ständig Pöbeleien, ständig Leute, die was wollen“, sagt Olli. Er wirkt nicht wütend, nur abgeklärt.

In Neukölln soll Andreas Geisel noch auf den S-Bahnsteig geführt werden. Dort oben lassen sich die Dealer seltener blicken, dafür Grabscher und Taschendiebe. Und so marschieren die Polizisten des lokalen Abschnitts, die Bezirksbürgermeisterin, die Personenschützer und der Senator zur Rolltreppe. Doch sie rollt nicht, steht einfach still. Der Weg wird beschwerlicher als geplant.

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