Streitgespräch über die Zukunft der Bahn: „Gegen eine Zerschlagung werden wir alles mobilisieren“
EVG-Chef, Klaus-Dieter Hommel, und Anton Hofreiter streiten über eine zweite Bahnreform. Die Grünen wollen die DB AG aufteilen, die Gewerkschaft wehrt sich.
Dass Anton Hofreiter und Klaus-Dieter Hommel gut miteinander können, wird gleich zu Beginn des Video-Interviews deutlich. „Klaus-Dieter, dein Mikrofon ist noch nicht an“, sagt Hofreiter und fügt an: „Entschuldigung, wir sind per Du, weil wir beide in der Gewerkschaft sind.“ Politisch haben der Fraktionsvorsitzende der Grünen und der Chef der Eisenbahnergewerkschaft EVG aber viele Differenzen.
Die Grünen wollen den Bahnverkehr im nächsten Jahrzehnt zwar massiv ausbauen, aber auch die mit über 30 Milliarden Euro verschuldete Deutsche Bahn zerschlagen. In einem Positionspapier fordert die Bundestagsfraktion, dass der Bund die Infrastruktur in eine Anstalt öffentlichen Rechts überführt. Das Fahrgeschäft soll eine bundeseigene GmbH übernehmen. Da machen wir nicht mit, haben Hommel und die EVG rasch klargestellt.
Herr Hommel, die Grünen fordern wesentlich mehr Eisenbahnverkehr. Eigentlich müssten Sie Verbündete sein. Sie sind trotzdem gegen die grüne Bahnstrategie. Warum?
Hommel: Wir sind für eine Mobilität der Zukunft. Die muss umweltfreundlich sein und für die Menschen attraktiv und bezahlbar. Sie muss aus unserer Sicht aber auch sichere, gut bezahlte Arbeit bieten. Bei der Bahnreform 1994 gab es in Deutschland rund 500.000 Beschäftigte im Schienenverkehr in Ost und West, heute ist es die Hälfte. Durch eine gute Tarifpolitik sind diese Arbeitsplätze nun sicher – auch unter komplizierten Bedingungen wie einer Pandemie. Das wird in erster Linie durch Konzern-Tarifverträge und einen konzernweiten Arbeitsmarkt gewährleistet.
Herr Hofreiter, gefährdet Ihr Konzept die Arbeitnehmer:innen bei der Bahn?
Hofreiter: Wir wollen, dass die Bahn das Rückgrat für die Mobilitätswende wird. Unser Ziel ist ein starkes Wachstum der Schiene – für mehr Klimaschutz, aber auch für mehr Gerechtigkeit. Wir wünschen uns mehr Güter- und Personenverkehr und ein europäisches Nachtzug-Netzwerk als echte Alternative zu innereuropäischen Flügen. Dadurch werden sogar zusätzliche Arbeitsplätze entstehen. Ein attraktiver Bahnverkehr braucht gut qualifiziertes und motiviertes Personal. In vielen Sektoren haben wir schon jetzt einen Arbeitskräftemangel etwa bei Lokführern und Planern.
Auch die Bundesregierung will die Fahrgastzahlen im Fernverkehr bis 2030 verdoppeln und ein Viertel der Güter über die Schiene transportieren. Herr Hommel, Sie haben gesagt, dass diese Ziele wegen der Corona-Pandemie nicht mehr zu halten sind. Was ist ihre Alternative zum Ausbau?
Hommel: Wer Ziele formuliert, muss darlegen, wie sie erreicht werden können. Deshalb müssen Bundesregierung und Bahnvorstand ihre Ziele endlich der Realität anpassen. Wir fordern ein Unternehmen, das sich für die Zukunft aufstellt. Wir fordern integrierte Mobilität und Konzepte mit untereinander vernetzten Verkehrsträgern, die den Kunden ermöglichen, ihre Reiseketten über eine Plattform zu planen, zu buchen und zu bezahlen. Darüber hinaus fordern wir bessere Angebote im Güterverkehr – und natürlich den Ausbau der Infrastruktur. Das ist Herausforderung genug, dafür sind neue Schnittstellen nötig und vieles mehr. Ein völliger Umbau des Unternehmens und des Schienenverkehrs, wie ihn Toni Hofreiter wünscht, würde den Prozess lähmen.
Inwiefern?
Hommel: Eine Zerschlagung der Bahn verunsichert Fahrgäste und Mitarbeiter zusätzlich. Erfahrungen anderer Länder zeigen, dass eine Spaltung das System Schiene kaputt macht. In einer Pandemie, von der wir nicht wissen, wie lange sie noch dauert und wie lange wir mit den Folgen kämpfen, können wir uns das nicht erlauben. Das schließt nicht aus, dass die ein oder andere Organisationsveränderung nötig ist. Grundlage muss allerdings der integrierte Konzern bleiben.
Herr Hofreiter, warum gelingt es ihnen nicht. Die Eisenbahner:innen zu überzeugen?
Hofreiter: Wir sind im intensiven Gespräch und stimmen in sehr vielen Feldern wie etwa beim Klimaschutz überein und ziehen an einem Strang. Die Bahn nach vorne zu bringen, das wird eine Mammutaufgabe und das geht weit über die Strukturfragen hinaus. Nach meiner Beobachtung interessiert die meisten Eisenbahnerinnen und Eisenbahner vor allem, wie ein Wachstumskurs für die Schiene gelingt – nicht die Konzernstrukturen. Die Lokführergewerkschaft GDL konnten wir auf diese Weise bereits von unserem Konzept überzeugen.
Warum braucht es für die Infrastruktur und das Transportgeschäft zwei verschiedene Gesellschaften?
Hofreiter: Das ordnet den Konzern. In der jetzigen Struktur ist die Infrastruktur völlig zersplittert. Wenn in einem Bahnhof etwas kaputt ist, rücken Mitarbeiter von mehreren DB-Gesellschaften an. Noch immer arbeiten Konzernsparten zudem gegen- statt miteinander. Deswegen wollen wir eine starke DB-Infrastrukturgesellschaft, die dann auch stärker regional zuständig ist. Diese Gesellschaft ist zudem stärker am Gemeinwohl orientiert.
Außerdem wollen wir eine DB-Transport gründen, in der die Transporttöchter zusammengefasst sind. Die Zersplitterung, bei der sich DB Cargo und DB Regio im Störfall nicht einmal mit Loks aushelfen können, hätte ein Ende. Eine starke DB Transport hätte also viele Vorteile.
Welche Vorteile hätten die Trennung zwischen Fahrgeschäft und Infrastruktur?
In der gegenwärtigen Struktur gibt es immer wieder Ärger mit der EU-Kommission, wenn der Staat Geld zuschießt. Eine Infrastrukturgesellschaft des Bundes wäre viel freier. Man könnte die Fahrten auf den Gleisen zum Teil sehr günstig zu den Grenzkosten anbieten und die Bahn so richtig auf Wachstumskurs bringen. Das ist aber nur ein Teil, für Wachstum braucht es vieles mehr: etwa eine Ausbau-Offensive, eine Unterhaltsoffensive und den Deutschlandtakt.
Überzeugt Sie das, Herr Hommel?
Hommel: Überhaupt nicht. Das ist ein Wunschtraum. Dass die DB AG nicht auf Wachstumskurs ist, liegt an der Unterfinanzierung der Infrastruktur. Man kann auf einer verschlissenen alten Infrastruktur nicht die Leistung erbringen, die man gerne erbringen möchte und die man für Toni Hofreiters Wünsche braucht. Bei Bahnreform war das oberste Ziel, mit der Privatisierung mehr Verkehr auf der Schiene zu erreichen. Aber die Politik hat vergessen, dass man dafür mehr Geld für die Gleise in die Hand nehmen muss.
Hofreiter: Mit uns in der Regierung wird es mehr Geld geben. Wir wollen einen Infrastrukturfonds wie in der Schweiz auflegen und die Bundesmittel für das Schienennetz um rund 175 Milliarden Euro bis 2040 erhöhen. Dieses Geld sollte dann aber auch effizient ausgegeben werden und deshalb sollten die Strukturen geordnet werden. Ich sehe viele mögliche Innovationen im Eisenbahnbereich: die Digitale Automatische Kupplung im Güterverkehr, der Deutschlandtakt, ein gezielter Infrastrukturausbau. Darin liegt viel Potenzial.
Herr Hommel, jetzt haben Sie eben zweimal gezuckt. Was stört Sie an den Aussagen?
Hommel: Gerade bei Innovationen wie der digitalen Zugsicherung ETCS wäre es eine Katastrophe, wenn die größten Verkehrsunternehmen des DB-Konzerns sie unabhängig von einem abgetrennten Netz einführen müssten. Denn Innovationen sind in der Vergangenheit auch immer wieder an den vielen Schnittstellen gescheitert. Wer Innovationen will, darf das solide Fundament nicht zerstören!
Herr Hofreiter, die von Ihnen vorgeschlagene Reform würde wieder viel Energie und Zeit fressen. Verzögert das nicht den Ausbau?
Hofreiter: Dass etwas passieren muss, das zeigen die Verspätungszahlen und die Kapazitätsengpässe. Wir wollen für den Deutschlandtakt eine gezielte Beseitigung der Engpässe. Dafür brauchen wir eine starke Infrastrukturgesellschaft, die das stemmt. Und wir brauchen auf Bundesebene ein Fernverkehrsgesetz, um den Fahrplan festlegen zu können. Im Moment regelt das überhaupt niemand. Das führt dazu, dass die Bahn eine Stadt wie Chemnitz einfach vom Fernverkehr abgehängt hat.
Herr Hommel, wir haben darüber gesprochen, wie schwierig der Turnaround bei der Deutschen Bahn wird. Sollte sich der DB-Konzern da nicht wenigstens von der Auslandstochter Arriva und dem weltweit tätigen Logistiker Schenker trennen?
Hommel: Mobilität endet nicht an der Grenze. Deshalb ist es richtig, europäisch zu denken und zu handeln. Man kann hinterfragen, ob mit Arriva in London Nahverkehr unterhalten werden muss. Grundsätzlich sollte die Bahn jedoch in vielen europäischen und internationalen Märkten präsent sein. Mit welcher Rechtsform und mit welchen Verkehren, müssen die Aufsichtsräte entscheiden. In einem Punkt bin ich jedoch überzeugt: All das kann man mit der DB AG in ihrer jetzigen Form erreichen.
Hofreiter: Die Idee des europäischen Engagements unterstütze ich. Es wäre großartig, wenn die DB sich wieder bei einem europäischen Nachtzugnetz als echte Alternative zum Flugverkehr engagiert. Stattdessen aber übernimmt sie mit ihrer Tochter Schenker Logistikaufträge für den Kohletransport in Australien. Das ist nicht die Aufgabe eines öffentlich finanzierten Unternehmens, wie auch der Bundesrechnungshof kritisiert.
Die Bahn hat insgesamt 700 Tochterunternehmen, 500 davon im Ausland. Liest man die Bilanzen nüchtern, wird damit kein Geld verdient, sondern eine Menge Geld verbrannt, das ist nicht okay, es geht immerhin um Steuergeld. Um Gelder für die Stärkung der Infrastruktur zu mobilisieren, müssen Beteiligungen verkauft werden.
Herr Hommel, die Union hat sich für einen Umbau der DB offen gezeigt, kämpfen Sie nicht auf verlorenem Posten?
Hommel: Auf verlorenem Posten kämpfen jene, die eine Trennung wollen, um das mal ganz deutlich zu sagen. Wir werden alles mobilisieren, um das zu verhindern, weil wir es für das System Schiene für falsch halten. Die Wunschvorstellungen der Grünen müssen erst einmal bezahlt werden. Die Deutsche Bahn AG hat seit ihrer Gründung rund 40 Milliarden Euro an Eigenmitteln in die Infrastruktur investiert.
Es glaubt doch niemand, dass die Politik in der Lage wäre, diese enormen Mittel in die Infrastruktur zu stecken, wenn damit am Ende kein Geld verdient wird. Wer Daseinsvorsorge organisieren will, muss sagen, woher das Geld kommt. Mir fehlt die Perspektive, wie das in absehbarer Zeit gelingen könnte.
Hofreiter: Wir sind optimistisch, dass die Mobilisierung dieser Gelder gelingt, angesichts der Tiefe der Klimakrise, angesichts der Bedeutung einer gut funktionierenden Bahn für den Verkehrssektor. Wir wollen sofort drei Milliarden Euro jährlich allein in den Aus- und Neubau der Bahn stecken und diese Summe kontinuierlich erhöhen. Das kriegen wir hin.
Herr Hofreiter, nach der Wahl im Herbst könnten Sie Verkehrsminister sein und Sie, Herr Hommel, sind dann voraussichtlich immer noch stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der Bahn. Finden Sie dann eine gemeinsame Linie?
Hofreiter: Ich halte von Personalspekulationen rein gar nichts. Aber meine Haltung ist: Die ökologische Transformation gelingt nur mit den Beschäftigten. Das gilt auch für die Bahn. Also werden wir miteinander ringen und dann einen Weg finden.
Hommel: Losgelöst von uns persönlich: Wir als EVG bieten weiterhin den Dialog an. Es geht uns darum, dass im Hinblick auf den Klimawandel mehr Mittel für die Schiene zur Verfügung gestellt werden. Wir wollen die Schiene stärken, beim Ziel sind wir uns einig – aber beim Weg unterscheiden wir uns.