Verspätungen und Annullierungen: Flugpassagiere verschenken Millionen
Ist der Flieger verspätet oder fällt ganz aus, kann man zwischen 250 und 600 Euro von der Airline verlangen. Viele wissen das aber nicht.
Wohl dem, der an diesem Wochenende reibungslos in die Ferien gestartet ist. Denn selbstverständlich ist das nicht. Nach Berechnungen des Internet-Verbraucherportals Flightright, die dem Tagesspiegel vorliegen, fallen in Deutschland nämlich immer mehr Flüge aus. Seit Jahresbeginn sind deutlich mehr Verbindungen gestrichen worden als im Vorjahreszeitraum. So wurden in den ersten sechs Monaten dieses Jahres 5106 Flüge zu Zielen innerhalb Deutschlands und der Europäischen Union annulliert, im ersten Halbjahr 2014 waren es nur 2831 innerdeutsche und innereuropäische Verbindungen. Die Quote der annullierten Flüge ist damit Flightright-Berechnungen zufolge innerhalb eines Jahres von 0,8 auf 1,4 Prozent gestiegen.
Annullierungen können zahlreiche Gründe haben. Schlechtes Wetter, Streiks wie sie etwa bei der Lufthansa auch jetzt wieder drohen, aber auch technische Probleme oder eine mangelnde Auslastung der Maschinen können dazu führen, dass Verbindungen gestrichen werden. Während Fluggäste Ausfälle durch Streiks oder schlechte Witterungsverhältnisse hinnehmen müssen, können sie die Airlines bei hausgemachten Problemen zur Kasse bitten. Gleiches gilt bei Verspätungen von drei Stunden und mehr. Doch viele Kunden machen von diesen Möglichkeiten keinen Gebrauch. „Mindestens 80 Prozent der Reisenden kennen ihre Ansprüche aber überhaupt nicht“, sagte Ronald Schmid dem Tagesspiegel.
Der 66-Jährige ist Professor für Luftverkehrsrecht und betreibt mit zwei Kollegen eine auf Flugrecht spezialisierte Anwaltskanzlei in Wiesbaden. Zudem ist er Sprecher des Internetportals Fairplane, das Reisenden hilft, Fluggesellschaften in die Haftung zu nehmen, wenn sich Flüge verspäten, ausfallen oder überbucht sind. „Die meisten Kunden verschenken bares Geld“, weiß Schmid. Dabei ist die Sache eigentlich recht einfach: Verspätet sich ein Flug oder fällt er ganz aus und können sich die Airlines nicht auf außergewöhnliche Umstände berufen, müssen sie zahlen. Nach der Europäischen Fluggastverordnung ist eine Entschädigung schon dann fällig, wenn der Flieger drei Stunden verspätet am Zielort ankommt. Je nach Entfernung können Passagiere dann zwischen 250 und 600 Euro verlangen. In Berlin ist Schönefeld von solchen entschädigungspflichtigen Verspätungen stärker betroffen als Tegel, haben Recherchen des Internetportals Flightright ergeben. Ein Prozent der innerdeutschen Flüge sowie der Flüge zu Zielen innerhalb der EU sind ab Schönefeld mindestens drei Stunden verspätet, in Tegel sind es dagegen nur 0,1 Prozent, deutschlandweit liegt die Quote bei 0,2 Prozent.
Verspätungen: Schönefeld ist stärker betroffen als Tegel
Nach Berechnungen des Internetportals EU-Claim hätten im vergangenen Jahr rund 400.000 Passagiere allein von den deutschen Fluggesellschaften Lufthansa, Condor, Air Berlin, Tuifly und Germanwings Entschädigungen verlangen können. Auf EU-Ebene gehen die nicht genutzten Entschädigungen sogar in die Milliardenhöhe. 2,5 Milliarden Euro verschenken Fluggäste jedes Jahr, heißt es Schätzungen zufolge. Wie viele Bürger sich jedes Jahr tatsächlich an die Fluggesellschaften wenden, ist nicht bekannt. Die Airlines würden diese Zahlen nicht veröffentlichen, heißt es beim Bundesverband der deutschen Luftverkehrswirtschaft (BDL). Dass es viel weniger sind, als es sein könnten, legen jedoch neue Daten der Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr (SÖP) nahe. Diese hat in den ersten sechs Monaten des Jahres 4133 Beschwerden von Fluggästen gezählt. Das ist zwar verglichen mit dem Vorjahreszeitraum eine Verdreifachung, gemessen am Beschwerdepotenzial aber nur ein Bruchteil.
Erfolgshonorar der Portale
Kein Wunder, dass Internetportale wie Fairplane, Flightright, EU-Claim oder Refund.me Nachholbedarf sehen. Im Interesse der Kunden, aber auch in ihrem eigenen. Denn die Portale zwacken ein Honorar zwischen 15 und 25 Prozent der Entschädigung plus Mehrwertsteuer ab, wenn sie erfolgreich für den Kunden verhandeln. Die SÖP arbeitet dagegen für die Verbraucher kostenlos.
Ohne Beistand sind die Reisenden verloren, sagt Schmid. „Ich habe noch nie erlebt, dass die Fluggesellschaften anstandslos bezahlt haben“, meint der Jurist. Fast immer würden sich die Gesellschaften auf „außergewöhnliche Umstände“ berufen, die sie von der Haftung befreien. Dazu zählen schlechtes Wetter, Vögel, die in die Maschine fliegen, geschlossene Flughäfen oder Streiks. Nicht aber technische Probleme oder Schwierigkeiten mit dem Dienstplan. „Wenn die Stewardess zu spät kommt, ist das nicht das Problem des Kunden“, meint Schmid. Die Portale überprüfen die Angaben der Fluggesellschaften. Sie nutzen dazu öffentlich zugängliche Daten zu den Wetterverhältnissen und der Situation an den Flughäfen vor Ort. Zudem legen sie auch eigene Datenbanken aus den Korrespondenzen mit den Airlines an, auf die sie bei neuen Fällen zurückgreifen.
Wann ist der Flieger gelandet?
Das hilft, denn oft wird um Details gestritten – die es aber in sich haben. Denn allein die Frage, wann ein Flugzeug gelandet ist, kann über hunderte Euro entscheiden. Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs ist nämlich der Zeitpunkt maßgeblich, an dem die Tür des Flugzeugs nach der Landung geöffnet wird. Geschieht das mit einer Verspätung von zwei Stunden und 59 Minuten, muss die Airline nicht zahlen, sind es aber drei Stunden und ein Minute, schon. Kein Wunder, dass die Airlines versuchen, zu ihren Gunsten zu rechnen. „Da wird die Frachttür geöffnet statt der Ausstiegstür“, ärgert sich Schmid. Oder es wird zwar die richtige Tür aufgemacht, aber die Passagiere müssen sitzen bleiben und dürfen das Flugzeug nicht verlassen. Vieles ist noch ungeklärt, aber eines ist sicher: Den Juristen geht die Arbeit nicht aus.
Streit in Brüssel
Der Luftfahrtbranche geht die derzeitige Haftung jedoch zu weit. Sie arbeitet schon seit Jahren daran, die Verordnung zu entschärfen, und hat die EU-Kommission auf ihrer Seite. Schon seit Jahren steht deren Vorschlag im Raum, die Kunden frühestens nach fünf Stunden Verspätung zu entschädigen. Ein erster Vorstoß war im vergangenen Jahr gescheitert, kürzlich hatte Lettland unter seiner Ratspräsidentschaft einen neuen Versuch unternommen, die Fahrgastrechte aufzuweichen – allerdings erneut ohne Erfolg. Beim BDL bedauert man das. Eine Ersatzmaschine könne man nicht innerhalb von wenigen Stunden auftreiben, sagt Sprecherin Carola Scheffler. „Wenn die Unternehmen sowieso nach drei Stunden zahlen müssen, haben sie auch keinen Anreiz, das zu tun“. Schmid ist dagegen erleichtert. „Wenn die Verschärfung gekommen wäre, hätten 70 Prozent der Passagiere keinen Anspruch mehr“ – und die Anwälte weniger zu tun.
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