Wirtschaftspolitik: Europas Industriepolitik steht vor einer Kurskorrektur
Wirtschaftspolitischer Paradigmenwechsel: Deutschland und Frankreich wollen die eigene Industrie schützen und fördern. Ökonomen kritisieren Altmaiers Pläne.
Spätestens als sich Angela Merkel in die Debatte um die europäische Industriepolitik einmischte, war klar, dass Europa vor einem wirtschaftspolitischen Paradigmenwandel stehen könnte. Die traditionelle Rolle des Staates, der nur Leitplanken setze, sich sonst aber aus der Wirtschaft heraushalte, funktioniere so nicht mehr, sagte die Bundeskanzlerin in der vergangenen Woche auf einer Veranstaltung des Asien-Pazifik-Ausschusses in Berlin. „Wir kommen mit dem, was wir vor zehn, zwanzig Jahren erarbeitet haben, einfach nicht mehr hin.“
Auch Emmanuel Macron untermauerte diese Erkenntnis in seinem in 28 europäischen Zeitungen erschienenen Gastbeitrag. "Wir müssen unsere Wettbewerbspolitik reformieren, unsere Handelspolitik neu ausrichten", schreibt der französische Präsident. Er schlägt eine bevorzugte Behandlung europäischer Unternehmen vor, wie es die USA und China auch täten, und plädiert dafür, Firmen zu bestrafen, die "die unsere strategischen Interessen und unsere wesentlichen Werte untergraben".
Was über Jahrzehnte als ein Vergehen an der Marktwirtschaft angesehen worden wäre, wird auf einmal mit Hochdruck von der Bundesregierung an höchster Stelle vorangetrieben: die Beeinflussung der Wirtschaft durch die Politik.
Bundesregierung macht Brüssel Druck
Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) hatte diesen Kurs schon Anfang des Monats eingeschlagen, als er die „Nationale Industriestrategie 2030“ präsentierte. Sie sieht vor, dass sich der Staat sehr viel stärker als bisher in die Förderung einzelner Branchen und Unternehmen einmischt, um internationale Wettbewerbsfähigkeit zu gewährleisten.
Ein zentraler Punkt ist dabei die Schaffung europäischer Großkonzerne. Nur so, meint der Wirtschaftsminister, könnten in Europa Unternehmen gedeihen, die es mit der Konkurrenz aus China und den USA aufnehmen können.
Der Zusammenschluss der Zugsparten von Siemens und Alstom hätte zu einem solchen „Europäischen Champion“ geführt. Doch genau diese Fusion hatte die EU-Kommission vor wenigen Wochen aus kartellrechtlichen Gründen untersagt. Damit das nicht nochmal passiert, macht die Bundesregierung seitdem Druck.
In Reaktion auf das Veto aus Brüssel hatte Altmaier in einem Gastbeitrag im Tagesspiegel angekündigt, noch bis zur EU-Wahl im Mai einen Vorschlag zur Änderung des europäischen Wettbewerbsrechts zu erarbeiten. Ende vergangener Woche traf er sich mit EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager. Im Anschluss hieß es zwar, es gebe „reichlich Raum für einvernehmliche Lösungen“, doch eine Lockerung der Wettbewerbsregeln zugunsten von Groß-Fusionen lehne Vestager weiter ab. Nahezu zeitgleich formulierte Merkel bei einem Amtsessen mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ihre Zustimmung zu Altmaiers Plänen. Bis zum EU-Gipfel am 20. und 21. März in Brüssel wollen Deutschland und Frankreich nun einen gemeinsamen Fahrplan in der Angelegenheit erarbeiten.
Von Wirtschaftsforschern hatte Altmaier Kritik für seine Pläne kassiert. Am Dienstag kam er nun in seinem Ministerium an der Invalidenstraße mit Spitzenökonomen des Landes zusammen. „Wir können es uns nicht leisten, dass Schlüsseltechnologien ins Ausland abwandern – oder gar nicht hier entstehen", hatte Altmaier vor dem Treffen gesagt. All seine Gäste, zu denen etwa DIW-Präsident Marcel Fratzscher, Ifo-Präsident Clemens Fuest, IWH-Chef Reint Gropp und die aktuellen vier Wirtschaftsweisen gehörten, konnte er dem Vernehmen nach aber nicht überzeugen. So sagte Gropp dem Tagesspiegel nach dem Termin: „Einzelne Marktführer zu unterstützen, ist genau die falsche Strategie.“ Die öffentliche Hand könne weder richtig bewerten, welche Branche noch welche Unternehmen zukunftsträchtig seien. „Der Staat neigt dazu die Innovationen von gestern zu fördern und nicht der Zukunft“, so Gropp. Für die Digitalisierung brauche es mehr Markt, statt mehr Staat.
Auch wenn Deutschland mit Frankreich einen starken Partner an seiner Seite hat und stets betont, das Wohl des gesamten Euro-Raums hinge an dieser neuen Wirtschaftspolitik, ist völlig offen, ob die Bundesregierung für ihre Pläne eine Mehrheit in der EU findet. „Es ist nur ein kleiner Schritt von der Industriepolitik zum Protektionismus“, zitiert das „Handelsblatt“ einen EU-Diplomaten aus Nordeuropa.
Zudem haben 17 Regierungschefs in einem von Finnland initiierten Schreiben betont, das ein ganzheitlicher Politikansatz nötig sei, der auch die Vollendung des europäischen Binnenmarktes berücksichtige. Dass wirtschaftlich schwächere EU-Länder eine Bevorteilung von Großkonzernen aus Deutschland und Frankreich widerstandslos hinnehmen, darf ebenfalls bezweifelt werden. Auch die unilaterale Rüstungsexportpolitik Berlins etwa gegenüber Saudi-Arabien gilt als Hindernis für in Europa gemeinsam entwickelte Waffen.
Wie es um die Bereitschaft zur Zusammenarbeit auch unter Nachbarstaaten bestellt ist, zeigten erst vor wenigen Tagen Frankreich und die Niederlande. Die Regierung in Den Haag hat ihren Anteil an der gemeinsamen Fluggesellschaft Air France-KLM auf 14 Prozent aufgestockt – ebenso viel hält auch Frankreich. Der französische Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire, eigentlich ein erklärter Freund transnationaler Großkonzerne, reagierte verschnupft und nannte den Schritt „unverständlich“.
Deutschland stellte sich oft gegen mehr Regulierung
Dass in Europa über stärkere staatliche Eingriffe und die Zusammenlegung von Großkonzernen diskutiert wird, ist nicht neu. Bislang haben aber am Ende immer die Befürworter einer liberalen Ordnungspolitik die Oberhand behalten, häufig angeführt von Deutschland. So äußerten italienische und französische Politiker schon 1967 im sogenannten Colonna-Memorandum die Sorge, dass nationale Unternehmen „Gefahr liefen, unter den Mindestgrenzen für Größe und Finanzkraft zu bleiben“, die es brauche, um am Weltmarkt zu bestehen.
Doch es blieb bei einer zurückhaltenden Rolle der Politik, die 1992 im Maastricht-Vertrag mit den Worten beschrieben wurde, die „notwendigen Voraussetzungen für die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie“ zu gewährleisten. Wenn in der Folge staatliche Eingriffe zu beobachten waren, erfolgte das meist in nationalem Interesse, gern auch auf Kosten von EU-Partnern. Die Hans-Böckler-Stiftung kam in einer Analyse 2015 zu dem Ergebnis, dass es auch in Deutschland zwar seit jeher einzelne politische Eingriffe gegeben habe; das Bewusstsein für eine strategische Ausrichtung der Industriepolitik habe sich aber erst nach der Finanzkrise 2008 entwickelt.
BMW und Daimler gehen Altmaiers Weg
Nun also die radikale Kurskorrektur. Doch welche Branchen könnten sich nach Altmaiers Plänen bald über staatliche Unterstützung freuen? Neben einzelnen „Champions“ wie Siemens, Thyssen-Krupp oder die Deutsche Bank – die Altmaier in seiner Nationalen Industriestrategie alle namentlich nennt – soll das Augenmerk vor allem auf Zukunftstechnologien gerichtet werden. Laut dem Konzept sind in den Bereichen Mobilität, Gesundheitswirtschaft, digitales Cloud-Learning noch alle Chancen für europäische Player offen, hier soll deshalb ein Schwerpunkt gesetzt werden.
Bei für die Wertschöpfungskette bedeutenden Elementen wie etwa der Batteriezellproduktion schwebt Altmaier „eine staatliche Förderung bis hin zur Unterstützung der Bildung von Konsortien“ vor. Und in Bereichen, in denen Europa nach Einschätzung des Wirtschaftsministers sehr weit hinterherhinkt, sei eine unmittelbare Staatsbeteiligung „erforderlich und gerechtfertigt“. Hierzu zählt er die Bildung einer Plattformökonomie, Künstliche Intelligenz und Autonomes Fahren.
In genau diesen Bereichen gab es erst in der vergangenen Woche Bewegung. Die beiden deutschen „Champions“ Daimler und BMW vereinbarten, bei den Themen Carsharing und autonomen Fahren zusammenzuarbeiten, um es mit US-Konkurrenten wie Uber, Google oder Apple aufnehmen zu können. Das ist wohl eine Kooperation ganz im Altmaierschen Sinne.