Streit um Brachflächen in der Landwirtschaft: Essen oder Klimaschutz?
SPD- und Unionsgeführte Bundesländer wollen auf Naturschutzflächen Lebensmittel anbauen. Die Grünen sind dagegen.
Die Sorge um die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln ist für Bundesagrarminister Cem Özdemir eine Frage der Perspektive. „Auch ich esse gern Pommes“, sagte der Grünen-Politiker kürzlich vor Journalisten. Pommes werden jetzt aber knapp und teuer, weil Sonnenblumenöl fürs Frittieren wegen der fehlenden Lieferungen aus der Ukraine Mangelware ist. Dennoch sollte man die Kirche im Dorf lassen, meint Özdemir. Man habe hierzulande ein Preis-, aber kein Versorgungsproblem. Fürs Hamstern gebe es keinen Grund.
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„Deutschland droht keine Hungerkrise“, betont der Minister. Das ist in einigen afrikanischen Ländern anders, die auf Weizen aus der Ukraine angewiesen sind. Wegen des russischen Angriffskriegs könnte in der Ukraine die Hälfte der jährlichen Ernte ausfallen, befürchtet die ukrainische Regierung. Um den von Hunger bedrohten Ländern zu helfen, stockt Deutschland seine Mittel für das Welternährungsprogramm um 200 Millionen Euro auf, kündigte Özdemir am Freitag im Anschluss an die Agrarministerkonferenz von Bund und Ländern an.
Energie und Dünger sind teuer, Lebensmittel kosten mehr
Dennoch stellt der Krieg auch Deutschland vor Herausforderungen. Die Landwirte leiden unter steigenden Kosten für Energie, Dünger und Futtermitteln, die Verbraucher müssen deutlich mehr fürs Essen ausgeben. Die EU-Kommission will die Landwirte mit 500 Millionen Euro unterstützen, auf die deutschen Bauern entfallen 60 Millionen Euro. Özdemir will noch einmal 120 Millionen Euro aus dem deutschen Haushalt drauflegen, allerdings muss er dazu die Unterstützung im Kabinett bekommen.
Die Rückendeckung seiner Länderkollegen hätte er in dieser Frage. Auf einem anderen Feld tun sich dagegen tiefe Gräben auf. Denn sowohl die SPD- als auch die von der Union regierten Länder wollen Brachflächen in Deutschland nutzen, um dort Lebensmittel anzubauen. Die EU-Kommission hat das vor kurzem erlaubt, um so die Versorgung in Europa mit Lebensmitteln zu sichern. Auch Pestizide und Dünger sollen auf den Flächen, die eigentlich dem Klima-, Natur- und Artenschutz dienen, eingesetzt werden.
Özdemir: Krisen nicht gegen einander ausspielen
Die Grünen-Agrarminister, darunter auch Cem Özdemir, lehnen das ab. Özdemir will auf diesen sogenannten ökologischen Vorrangflächen in diesem Jahr ausnahmsweise den Anbau von Pflanzen für Futtermittel zulassen, allerdings ohne die Verwendung von Dünger oder Pestiziden. Man dürfe nicht die Krise durch den Krieg gegen die Klimakrise ausspielen, sagt er. Zudem würden all diese Flächen zusammen maximal 600.000 Tonnen Getreide bringen, angesichts der deutschen Ernte von 45 Millionen Tonnen im Jahr falle das kaum ins Gewicht. Özdemirs Parteifreund, Sachsens Agrarminister Wolfram Günther, sieht das genauso: „Wir hatten in Sachsen drei Jahre lang Dürre“, sagt er. Jede Hecke, die Schatten bringt und heiße Winde aufhält, habe geholfen.
Streit um Brachflächen spitzt sich zu
Peter Hauk, Agrarminister von Baden-Württemberg, widerspricht dem für die Unions-Länder. Der Anbau auf den Brachflächen könne zusätzlich zehn Millionen Menschen etnähren, sagt der CDU-Politiker. Auch Till Backhaus aus Mecklenburg-Vorpommern plädiert im Namen der SPD-Länder für eine Freigabe. Allein in seinem Bundesland seien 22.000 Hektar betroffen. „Wir könnten 1,2 Millionen Menschen mit Lebensmiteln versorgen“, betont der SPD-Politiker. Am Freitag wird der Bundesrat über diese Frage abstimmen. Und dann? Man werde sich das Ergebnis anschauen und „zeitnah bewerten“, so Minister Özdemir.
Wird die europäische Agrarreform wieder aufgerollt?
Streit gibt es auch in einem ähnlichen Punkt. Nach der europäischen Agrarreform müssen im nächsten Jahr vier Prozent der landwirtschaftlichen Flächen stillgelegt werden. Einige Bundesländer wollen diese Vorgabe jedoch vorübergehend ausgesetzt sehen, Özdemir findet das falsch. Dagegen hat EU-Agrarkommissar Janusz Wojciechowski Sympathien für diesen Vorschlag. Darüber werde im Laufe des Jahres zu entscheiden sein, sagte der Pole kürzlich.
Umweltschützer sehen solche Pläne mit Entsetzen. „Die Verschiebung wichtiger Gesetzesinitiativen oder der Abbau von ökologisch wirksamen Instrumenten innerhalb der Gemeinsamen Agrarpolitik verschärfen das Risiko künftiger Ernährungskrisen“, warnt ein Bündnis von Umweltschutzorganisationen aus BUND bis hin zum WWF.
Teller statt Tank und Trog?
Und: „Es kann nicht sein, dass hierzulande zwei Drittel der Rapsernte im Tank und 60 Prozent des Getreides in Futtertrögen landen und nur 20 Prozent als Lebensmittel verwendet werden“, kritisiert Martin Hofstetter, Agrarexperte von Greenpeace. „Deshalb muss die Zahl der Tiere in der Landwirtschaft deutlich sinken. Es ist jetzt Aufgabe der Bundesregierung, den Ankündigungen des Landwirtschaftsministers zum Abbau der Tierhaltung solide finanzierte Maßnahmen folgen zu lassen.“
Allerdings sinkt der Fleischkonsum bereits. So ging der Pro-Kopf-Verzehr 2021 im Vergleich zum Vorjahr um 2,1 Kilogramm auf 55 Kilo zurück, teilte das Bundesagrarministerium kürzlich mit. Das ist der niedrigste Wert seit Beginn der Berechnungen im Jahr 1989. Im Zehn-Jahres-Vergleich liegt der Rückgang sogar bei 7,8 Kilogramm pro Bundesbürger.